Die neulateinische Dichtung in Frankreich zur Zeit der Pléiade

Gerd König

Marie-France Guipponi-Gineste, Wolfgang Kofler, Anna Novokhatko und Gilles Polizzi, Hrsg., Die neulateinische Dichtung in Frankreich zur Zeit der Pléiade = La Poésie néo-latine en France au temps de la Pléiade, NeoLatina 19 (Tübingen: Narr, 2015), 339 S.

Der vorliegende Band, Frucht des von der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg und der Université de Haute Alsace-Mulhouse organisierten 12. Freiburger Neulateinischen Symposions, bietet ein umfangreiches Panorama zur Erhellung des Stellenwerts des Neulateinischen im Frankreich des 16. Jahrhunderts. Sein Kern richtet sich auf Autoren der Pléiade: Jean Dorat (109–17), Joachim du Bellay (119–76), Jean-Antoine de Baïf (177–95) und Rémy Belleau (197–239). Ausgiebige Behandlung findet zuvor (17–108) einer ihrer wichtigsten Vorreiter, Marc-Antoine Muret, dessen Iuvenilia (1552) ein breites Gattungsspektrum abdecken. Der Band klingt mit Étienne Forcadel (241–91) und nur im weiteren Sinne mit der Pléiade in Kontakt stehenden Autoren aus (293–339).

Roswitha Simons’ Beitrag „Die Satirendichtung in den Iuvenilia von Marc-Antoine Muret“ (17–36) behandelt die zwei Verssatiren der Iuvenilia. Steht die neulateinische Verssatire zu Beginn der Reformation im Schatten des Epigramms und der menippeischen Satire, greift man ab 1550, im Kontext verstärkter staatlicher wie kirchlicher Zensur, wieder auf die zwischen Moralkritik und persönlicher Invektive changierende Gattung zurück. Die These geht davon aus, dass die heute gängige Unterscheidung zwischen aggressiver juvenalischer Satire und der gemäßigten des Horaz mit ihrer gezielt eingesetzten Komik für die Satirendichter des 16. Jahrhunderts nicht entscheidend ist. Vielmehr muss man von einer konstanten Gattungstradition „aggressiver und zugleich moralisch gerechtfertigter Verssatire“ (20) ausgehen, in der sich die Satiriker unter Rekurs auf die antiken Programmsatiren verorten.1 Anders als das Gros seiner Zeitgenossen sieht Muret nun jedoch im Verspotten des Gegners unter Namensnennung kein gattungskonstituierendes Element. Ferner wird die Redefreiheit des Satirikers weniger resolut verhandelt, die zeitgenössische christliche Kritik an der Satire wird innovativ durch Untergraben der moralischen Integrität der Kirche ausgehebelt; Muret spielt zudem auf originelle Weise mit Scaligers Stilempfinden und der Etymologie des Wortes ‚Satire‘.

Auf den skoptischen Teil der Iuvenilia konzentriert sich Ferdinand Stürmer.2 Gibt Muret in seinem Catull-Kommentar (1554) noch dem anmutigen Epigrammtyp Catulls den Vorzug, zeigt er sich in Praxi von Martials bissiger Art inspiriert: ein Drittel der Epigramme ist im zweigliedrig-pointierten Stil gehalten, hinzu kommen thematisch-atmosphärische Affinitäten und die Verwendung von Pseudonymen. Catullisch ist die Anzahl der Gedichte, ihr bedachter Sprachgebrauch und ihre blockhafte Anordnung: an epigr. 3–17 mit dem Fokus auf der Liebe zu Margarete schließen 87 mehrheitlich nicht-erotische an; zudem werden einzelne Imitationen auf Catulls c. 5 und c. 16 analysiert.

Mit dem bedeutenden neulateinischen Vorläufer der Sammlung beschäftigt sich Virginie Leroux3 mit dem bedeutenden neulateinischen Vorläufer der Sammlung. Sie legt dar, dass die elegische imitatio der Kussepigramme Catulls und Seconds (eleg. 8) anders als die epigrammatische (epigr. 8/10) keine sexuellen Bedürfnisse inszeniert, sondern auf die Vereinigung der Seelen der Liebenden abzielt. Trotz der im zeitgenössischen Diskurs problematisierten Grenze zwischen den Gattungen lässt sich also eine gattungsspezifische Ausarbeitung des grenzüberschreitenden Themas ‚Kussgedicht‘ ausmachen. Dem Genus entsprechend zugeschnitten wird auch Murets epigrammatische Version (epigr. 7) des als Elegie verfassten Somnium Seconds: Aus der Betonung der Unsicherheit des elegischen Ichs, ob es sich beim Erlebten um Traum oder Wirklichkeit handelt, wird Murets realitätsnahe Ausgestaltung des erotischen Traums, welcher erst am Ende epigrammatisch gebrochen wird.

Die zehn Elegien des Elegiarum ibellus betrachtet Florian Hurka.4 Zum einen stellt er durchweg den zeittypischen Motivkatalog antiker Prägung fest, der allerdings erstmals gewisse Elemente – zuvörderst das servitium amoris und die militia amoris – nur anklingen lässt. Grund hierfür könnte die im französischen Elegiendiskurs problematisierte mangelnde Trennschärfe zwischen ‚Epistel‘ und ‚Elegie‘ sein. Die Elegie wird u.a. durch Ausschluss selbsterniedrigender Themen in Form einer „negative[n] selektive[n] Rezeption“ (85) in ihrer Erhabenheit herausgestellt, über welche die Epistel nicht verfügt. Zum anderen treten poetologische Reflexion sowie die in der Antike randständige Thematik ‚Tod und Vergänglichkeit‘ in den Vordergrund, die zu Murets Zeit sprachunabhängig gattungstypisch ist, nicht zuletzt ob ihrer etymologischen Rückführung auf die Trauerklage (ἒ ἒ λέγειν) in einschlägigen Poetiken.

Laurence Bernard-Pradelle bespricht Murets Privatbriefe (1580).5 Die ein Buch umfassende editio princeps bündelt in elegant adressatenspezifisch variierendem Stil Ciceros Briefwerk (Atticus, Brutus, Familiares) wie in einem Brennspiegel. Exemplarisch zieht Verf. Parallelen zu Cicero, dessen konkrete Ausdrucksweise und bedacht eingesetzte Nachlässigkeit Muret in Frankreich heimisch gemacht hat. Auf neulateinischer Seite folgen wenig später Henri Estienne (Epistolae ciceroniano stylo scriptae, 1581) und Justus Lipsius (Epistolica institutio, 1591); Étienne Pasquier dagegen rühmt sich 1586, als erster Franzose die Gattung ‚Privatbrief‘ hervorgebracht zu haben, und übergeht die Vorleistung des im Gegensatz zu ihm auf Latein schreibenden Muret.

Christian Orth6 widmet sich demjenigen Mitglied der Pléiade, das nahezu ausnahmslos auf Latein gedichtet hat. Dorats früheste, an Henri de Mesmes gerichtete Ode zur Geburt seiner ersten Tochter verquickt antike Quellen mit persönlicher Lebenserfahrung. Der knapp gehaltene Beitrag umreißt den Forschungsstand und ergänzt auf gut drei Seiten die bereits bei P. Galland-Hallyn gegebenen literarischen Quellen um einige noch nicht entdeckte Imitationen lateinischer Verse in den ersten zwei Strophen der Geburtsschilderung.

Der erste dreier Beiträge zu Du Bellay ist der von Eckard Lefèvre.7 Den Ausgangspunkt für die Hauptbetrachtungen bilden die Kussgedichte Catulls (c. 5, c. 7), der als Neoteriker die lateinische Dichtung um ausgefeilte alexandrinische Formen und den Fokus auf die private Daseinssphäre bereichert hat. Du Bellay rekurriert in seinen zwei französischen Kussgedichten aus den Divers Jeux Rustiques (1558) auf diverse (neu)lateinische Vorläufer (speziell Martial 6,34, Jean Seconds Basia, Sannazaros Ad amicam) und hat selbst eine eigene neulateinische Protoversion (Basia Faustinae) verfasst.

In Jürgen Blänsdorfs Aufsatz8 werden die volkssprachlichen Antiquitez de Rome und Regrets den neulateinischen Elegiae (alle 1558) gegenübergestellt, in denen Du Bellay die Erlebnisse seiner Romreise literarisch umsetzt. Verf. liefert mögliche Gründe für die Abfassung der Elegiae auf Latein, obschon Du Bellay diesem in seiner Deffence knapp zehn Jahre zuvor eine Absage erteilt hatte. Inhaltlich stellen die französischen Sammlungen die einstige Größe, den selbstverschuldeten Untergang und gegenwärtigen Verfall Roms sowie den Vergänglichkeitstopos ins Zentrum,9 während in den Elegiae die Bewunderung für Rom überwiegt. Strukturell lassen sich bei den nach dem Prinzip der variatio angeordneten 32 Sonetten der Antiquitez bzw. den 191 der Regrets „nur kleinere Gruppen zusammengehöriger Sonette“ (147) ausmachen sowie bei ersteren das regelmäßig alternierende Metrum;10 dagegen präsentieren sich die Elegiae als durchkomponierte „künstlerische Einheit“ (157): von der schmerzlichen Trennung von der Heimat über die Begegnung mit dem antiken bzw. gegenwärtigen Rom hin zur Distanzierung von Rom bzw. die Rückkehr nach Frankreich.11

Bei James Hirstein12 erfolgt wie bei Blänsdorf (150–7) eine knappe Inhaltsangabe der Elegien (169–73), jedoch mit stetem Blick auf die neunte13 und letzte Elegie, in der die Figur Iolas anlässlich eines ländlichen Fests eine rituelle Reinigung durchführt (V. 1–22: narrativ-einführender Charakter, Vorbereitung der Zeremonie; V. 23–72: Gebet mit 12 Strophen mit jeweils demselben Refrainvers; V. 73–5: Lustration). Die bisherigen Themen des Zyklus werden aufgegriffen und die seit der fünften Elegie anklingende translatio imperii findet ihren „point culminant“ (173) nicht zuletzt durch das Einbinden französischer Toponyme sowie das Verlegen der Elegie von Rom nach Anjou. Letzteres stellt neben Rekursen auf Tibull (2,1) und der speziellen strophischen Ausgestaltung des Mittelteils (nach Catulls c. 64 und Vergils ecl. 8) entscheidende Abweichungen von der Vorlage des Inspirationsgebers Andrea Navagero dar.

Thomas Baiers Beitrag14 konzentriert sich auf dasjenige Pléiade-Mitglied, das erst am Lebensabend (ab 1577) infolge seines sinkenden Bekanntheitsgrads auf Latein publiziert (Carmina; Epigramme; eine gänzliche verlorene Psalmenübertragung). Baïf, im Französischen für seine lyrisch-musikalische Nachahmung bekannt, verfasst neulateinische Gedichte gänzlich anderer Machart: an die Stelle schöpferischer Kreativität tritt der Versuch, eigene französische Vorlagen durch das Lateinische zu sublimieren. Nähere Betrachtung findet die Appendix zu seinem Lehrgedicht Les Météores (1567), wo Baïf sein neulateinisches Debut gibt; eine mimetische lateinische Übersetzung eines griechischen Gedichts (Orphei seu Mercurii ter maximi prognostica à Terrae motibus) wird einer freieren französischen Nachdichtung desselben Gedichts beigegeben. Die Appendix rundet das Vergil imitierende Gedicht ab, dessen Funktion (ganz im Sinne des ‚transparenten Lehrgedichts‘ nach B. Effe) im Herausstellen der göttlichen Lenkung der Welt liegt.

Caroline Primot und Gian Paolo Renello15 beschäftigen sich mit Gedichten lateinisch-französischer Sprachmischung. Primot untersucht Belleaus Dictamen metrificum de bello huguenotico et reistrorum piglamine ad sodales (1573): Es lassen sich gattungstypische Verbindungslinien zu Folengo (Baldus, ab 1517) ziehen (s. Annexe, 206–15), den Belleau reaktualisiert und in seinen Tableaus zum Religionskrieg zur polemischen Anklage der Protestanten heranzieht. Seinerzeit von A. Eckhardt erkannte Verbindungslinien zur Meygra Entrepriza (1536) des Franzosen Arena werden relativiert, da man in Folengo das Vorbild Arenas wie Belleaus sehen muss. Belleaus meist oberflächliche Verschmelzung beider Sprachen (z.B. ungelenke Neologismen durch einfache Suffigierung) sollen den Zustand des national und religiös gespaltenen Frankreich nachzeichnen; weitere Deutungen des Textes werden anskizziert, z.B. als Spiel Belleaus mit misslungenen Versuchen der Sprachbereicherung vonseiten seiner Zeitgenossen. Renello vergleicht die Arbeitsweisen Folengos und Arenas: Dem auf einer Reihe von italienischen Vorläufern und Einflussquellen basierenden Folengo, der in stetem Überarbeitungsprozess die 25 Bücher seines Baldus in vier Ausgaben herausgibt, steht das Vorgehen Arenas („quasi dilettantesco“, 224) gegenüber. Die Untersuchung der Metrik und Prosodie unterstreicht diese Diskrepanz: Die in elegischen Distichen verfasste Entrepriza mit ihrer eher monotonen Prosodie wird anhand eingehender Beispiele (stets Synizese bei deinde, keine Endsilbenkürzung bei contra, weniger freie Prosodie bei Wörtern griechischen Ursprungs) den dynamisch-abwechslungsreichen Hexametern des Baldus entgegengestellt, dem Folengo in der zweiten Ausgabe (1521) gar ein metrisch-prosodisches Regelwerk beigegeben hat.

Gilles Polizzi16 betrachtet den ca. 1560 verfassten, aber erst postum veröffentlichten Prometheus, dessen erster Teil sich auszugsweise (samt französischer Übersetzung Gérard Freyburgers) im Anhang (256–73) findet. Unter Verwendung desselben Personals wie in seinen Necyomantia von 1544/49 (Hephestion, Gott der kreativen Köpfe; Callidème, Dichter mit Ähnlichkeiten zu Forcadel) setzt sich Forcadel mit dem imitatio-Vorgehen auseinander und zeichnet den durch Plagiatsfälle enttäuschten Callidème. Verf. liest den Prometheus als Polemik gegen Du Bellay, da dieser Forcadels Dichtung wohl als Sprungbrett für sich selbst genutzt hat: Das zweite Sonett seines Songe ist (wie ein Gedicht Forcadels) eine Imitation der Canzone Standomi un giorno solo a la fenestra Petrarcas, die Antiquitez kennzeichnet (wie die Necyomantia) eine spezielle Kopplung von Architekturbeschreibung und Totenerweckung in Anlehnung an die Hypnerotomachia Poliphili Francesco Colonnas.

Tobias Leuker17 greift diejenigen Gedichte der umfangreichen Epigrammata (1554) heraus, die den Dichter als „Schöpfer ebenso schöner wie trügerischer Geschichten“ (277) thematisieren. Eine bewusste metapoetische Aussage hierzu findet sich in Epigramm Nr. 447; Nr. 134 und 173 rühmt Homers einzigartige Dichtkunst in der Ilias, die sich an der Stilisierung und Abkehr von historischen Fakten erkennen lässt; Nr. 24 dagegen wirft Vergil ahistorische Rufschädigung der karthagischen Königin vor. Möglicher Grund für die antirömische Positionierung (vgl. auch Nr. 4, 39, 206, 270 gegen Aeneas und Romulus) ist neben dem negativen Papstbild die Absicht, durch die eigene Polemik von der zunehmenden Kritik am trojanischen Abstammungsmythos der Franzosen abzulenken, der in Nr. 151 (Transformatio Astyanactis […] in lilium) ausgestaltet wird. Das sich an den Heliaden-Mythos anschließende Epigramm Nr. 470 zeugt exemplarisch vom Spannungsfeld zwischen bewundernder Antikenimitation und Distanzierung von überzogener mythischer Fiktion.

George H. Tucker beleuchtet in seinem Beitrag18 drei Spielarten des „(re)writing of ‚exile‘“ (293) mit motivischer Ähnlichkeit insbesondere zu Du Bellays Regrets. Die ciceronianischen Dialoge Medices Legatus de exsilio (1522) Alcionios, die Du Bellay in Rom selbst gelesen hat, spielen in der Bibliothek der 1494–1512 exilierten Giovanni, Giulio und Leonardo de’ Medici; zum Selbsttrost werden die positiven Seiten des Exils herausgestellt. V.a. aber inszeniert Alcionio sich und sein Œuvre selbst im Bemühen um seine Rehabilitierung in den humanistischen Kreisen Italiens, nachdem Juan Ginés de Sepúlveda seine Aristoteles-Übersetzungen von 1521 anlässlich seiner eigenen Aristoteles-Übersetzung harsch kritisiert hatte. Der Satiriker Landi veröffentlicht gut ein Jahrzehnt vor Du Bellay den Cicero relegatus & Cicero revocatus (1543) bzw. seine volkssprachlichen Paradossi/Confutatione [...] de’ paradossi (1543/44), hinter deren Juxtaposition von „opposing views of exile“ (295) man am ehesten Landis neutral-distanzierende Sicht und die von ihm intendierte Auflösung der Dichotomie von ‚Exil‘ vs. ‚Heimat‘ bzw. ‚Freiheit‘ erblicken kann. Pires wiederum spiegelt in sein spätes elegisches Gedicht de exsilio suo (ca. 1595) seine eigenen Wurzeln (die Minderheit der jüdischen Sepharden bzw. der zwangskonvertierten portugiesischen Marranos) sowie seine eigene Flucht vor der Inquisition ein.

Isabelle Fabre19 würdigt die 20 in Paris veröffentlichten und Marguerite (der Schwester Henris II.) gewidmeten Gedichte Flaminios. Die Schwerpunktsetzung auf privater Frömmigkeit, ohne konfessionell Position zu beziehen, findet in Frankreich Anklang, wovon die von der Dominikanerin Anne de Marquets (1568) angefertigte Übersetzung zeugt. Die Struktur der Sammlung ist der mittelalterlichen Hymnendichtung nachempfunden: den Rahmen bilden Gedichte, die am ehesten mit gemeinschaftlichen Gotteslob in Verbindung zu bringen sind: Gedichte 1–3 sind Adaptationen der strikt strukturierten Stundengebete, Gedicht 20 (Rector beate coelitum) bündelt die vorhergehenden Kollektengebete wie das abschließende bei der heiligen Messe; Gedicht 11 (Hymnus20 in Christum) trennt als Scharniergedicht zwei Diptychen, die motivisch, thematisch und sprachlich stark aufeinander Bezug nehmen und so die Tradition der durch den heiligen Ambrosius eingeführten Antiphonen literarisch abbilden. Insgesamt ist der Gegensatz zwischen der moralischen Schwäche des Menschen und der Güte Gottes bestimmend. Eine Schlüsselrolle nehmen Gedicht 6 (mit der Ausgestaltung der Abhängigkeit von und der Liebe zu Gott im Blumenmotiv) sowie Gedicht 14 (mit der Passion Christi) ein.

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Abschließend bleibt die unterschiedliche Qualität der redaktionellen Überarbeitung der einzelnen Beiträge zu bemerken; im vierten Aufsatz häufen sich grammatikalisch-orthographische Flüchtigkeitsfehler („Atraea“ [84] statt ‚Astraea‘; „das oft als kummervoll erlebtes Liebensleben“ [85], „an Horaz’ Eröffnungsgedichts“ [87]), im ersten Beitrag werden lateinische Verse in den Fußnoten unsorgfältig zitiert („insinuamt“ [24] statt insinuat; „ssese“ [24] statt sese; „digons“ [25] statt dignos).21 Inhaltlich hätte die Bündelung gewisser thematischer Informationen den Band noch abgerundet, vgl. z.B. die jeweils nur leicht variierende Beschreibung der Iuvenilia samt ihren Textausgaben (17–8, 38, 79), oder unnötige Selbstverständlichkeiten (etwa dass Du Bellay „[z]u den führenden Dichtern der Pléiade gehört“, 120). Etwas irritierend – aber bei einem Sammelband nur schwer zu vermeiden – ist der Umstand, dass in zwei aufeinanderfolgenden Beiträgen, dieselben Verse zitiert, übersetzt und mal als Geringschätzung der französischen Dichtung, mal als dessen Gegenteil interpretiert werden (vgl. 119, 140), ohne dass die Beiträge in irgendeiner Form aufeinander Bezug nehmen.

Trotz so mancher Detailkritik bezüglich der compositio überzeugen die einzelnen Artikel durch ihre schlaglichtartige und konzise Behandlung unterschiedlichster Themenkomplexe, wodurch das Interesse für die Fülle an neulateinischen Kompositionen in dieser Epoche geweckt wird.


  1. Wenn Verf. schreibt „Diese Kategorisierung ist jedoch nur bedingt aussagekräftig und teils eher irreführend, da sie von einer modernen Sicht auf die römischen Satiriker ausgeht“ (20) wirkt es, als wolle man sich pauschal von „der modernen Forschung“ (20) distanzieren, ohne dass letztere klar gefasst wird. Es wird nicht erwähnt, dass sich die Unterscheidung der Satiriker nach Aggressionsgrad bzw. psychologischem Differenzkriterium bereits im 16. Jahrhundert (etwa bei Badius Ascensius oder Scaliger) finden lässt. Hier hätte man sich ein etwas nuancierteres Bild gewünscht: Denn betrachtet man die genannte Kategorisierung in ihrer Genese, hat auch sie ihre Berechtigung: Die ‚Verssatire‘ ist in Anbetracht fehlender griechischer Gattungstheorie und problematischer Gattungsdefinition nur unter ihrer historischen Dynamik voll erfassbar und jeder lateinische Satiriker orientiert sich einerseits an den Vorgaben der Vorgänger, passt sie andererseits immer an seine Lebensumstände, seine eigenen Interessen, sein Weltbild sowie an das objektive Sozialverhalten bzw. das subjektive Lebensgefühl der Zeit an. Der resultierende Fokus auf die Varianz der Gattung und die Absicht, die ‚Satire‘ in ihrer konkreten Ausformung vom Zeitgeist und vom individuellen Ausdruckswillen des Schöpfers abhängig zu sehen, basiert ja bei seriöser Betrachtung gerade auf der Hintergrundfolie der historischen Konstanz der Gattung.

  2. Ferdinand Stürmer, „Mel und Fel: Catullisches und Martialisches in Murets Epigrammen“, 37–61.

  3. Virginie Leroux, „Le Baiser et le Songe: enjeux intertextuels et génériques de l’imitation de Jean Second dans les Juvenilia de Marc-Antoine Muret“, 63–77.

  4. Florian Hurka, „Selektive Rezeption: Marc-Antoine Muret, die römische Liebeselegie und der französische Elegiendiskurs im 16. Jahrhundert“, 79–91.

  5. Laurence Bernard-Pradelle, „Le latin de correspondance de Marc Antoine Muret: ‚simpliciter et dilucide scribere‘“, 93–108.

  6. Christian Orth, „Die Geburtsbeschreibung in Jean Dorats ‚Ode‘ 1“, 109–17.

  7. Eckard Lefèvre „Von Catull zu Du Bellay: einige Gedanken zur neulateinischen Mittlerrolle zwischen antiker und neuzeitlicher Dichtung“, 119–36).

  8. Jürgen Blänsdorf, „Die poetischen Differenzen in Joachim Du Bellays lateinischer und französischer Rom-Dichtung“, 137–58.

  9. Nicht zitierte (nach 2000 erschienene) Forschungsbeiträge sprechen gar von der Intention, die Wiedergeburt des als tot bezeugten antiken Rom zu negieren, vgl. Barbara Vinken, Du Bellay und Petrarca: das Rom der Renaissance (Tübingen: Niemeyer, 2001) und Martin Disselkamp, „Rekonstruktion, Magnifizenz, Dekadenz in den ‚Antiquitez de Rome‘ von Joachim Du Bellay“, in ‚Nichts ist, Rom, dir gleich‘: Topographien und Gegenbilder aus dem mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, hrsg. von Martin Disselkamp (Ruhpolding und Mainz: Rutzen, 2013), 99–130; in klarer Absetzung zur These eines bewundernden Wiederbelebens z.B. bei Roland Mortier, „Les ‚Antiquitez de Rome‘ de Joachim du Bellay ou la ruine-mémorial“, in La Poétique des ruines en France, hrsg. von Roland Mortier (Genf: Droz, 1974), 60–8.

  10. Da nur eine einzige Seite einer Monographie als Beleg angeführt wird, sei hier ferner noch verwiesen auf: Marie-Madeleine Fontaine, „Le système des ‚Antiquitez‘ de du Bellay: l’alternance entre décasyllabes et alexandrins dans un recueil de sonnets“, in Le sonnet à la Renaissance, hrsg. von Yvonne Bellenger (Paris: Aux amateurs de livres, 1986), 67–81; Philippe de Lajarte, „Formes et significations dans les Antiquitez de Rome de Du Bellay“, in Mélanges sur la littérature de la Renaissance à la mémoire de V.-L. Saulnier, hrsg. von Pierre-Georges Castex (Genf: Droz, 1984), 727–34; Ingrid G. Daemmrich, „The Function of the Ruins Motif in Du Bellay’s ‚Les Antiquitez de Rome‘“, Neophilologus 59 (1975): 14–21. Vinken (Du Bellay, 122–3) stellt außerdem fest, dass Sonette gewisser Themenblöcke eindeutig aufeinander zukomponiert sind, so der Zyklus der Sonette, die Lucans Bellum civile aufgreifen.

  11. Eine auf eben dieser Dreiteilung beruhende, zumindest ansatzweise Geschlossenheit des Zyklus der Regrets ist jedoch nicht zu leugnen, vgl. die von Verf. zitierte Monographie von K. Ley in ihrer Dreiteilung des Kapitels ‚Les Regrets‘ (212–308). Ausgeklammert wird ferner der Songe (als Zusatz zu den Antiquitez) der in Anbetracht seiner Kürze (15 Sonette) auch hinsichtlich der compositio ausgefeilter ist, da die v.a. von Petrarca entlehnten Bilder in ihrer Reihenfolge bei Bellay nicht einfach austauschbar sind.

  12. James Hirstein, „Joachim Du Bellay et la ‚divine campagne‘: le rôle du ‚Votum rusticum‘ à la fin du livre des ‚Elegiae‘ dans les ‚Poemata‘“, 159–76.

  13. Die Einführung (10, 14) spricht fälschlicherweise von einer zehnten Elegie.

  14. Thomas Baier, „Jean-Antoine de Baïf als Übersetzer und neulateinischer Dichter“, 177–96.

  15. Caroline Primot, „Déplacements et enjeux de l’écriture macaronique chez Rémi Belleau“, 197–215; Gian Paolo Renello, „Fra prossimità e distanza: il latino maccheronico di Antoine Arène e Teofilo Folengo“, 217–39.

  16. Gilles Polizzi, „Forcadel, Du Bellay et ‚l’imitatio‘: les enjeux du ‚Prometheus‘“, 241–73.

  17. Tobias Leuker, „Der Dichter als Täuscher – Zu einigen Epigrammen Étienne Forcadels“, 275–92.

  18. George H. Tucker, „Joachim Du Bellay’s Precursors and Contemporaries in Italy: Pietro Alcionio, Ortensio Landi and Diogo Pires“, 293–317.

  19. Isabelle Fabre, „L’élégance de l’hymne: une lecture médiévale des ‚Carmina de rebus divinis‘ de Marcantonio Flaminio (1550)“, 319–39.

  20. Im Text (322) fälschlicherweise „Hymnum“.

  21. Insgesamt zeugen die Fußnoten von der fehlenden letzten lima („hymemée“ [175], „Arisoste“ [187], „succcès“ 319) u.ö.); ebenso die Bibliographien (nur vereinzelt Setzung von Asterisken zur Abhebung von Primärtexten/ Kommentaren) und die Art des Zitierens („vv. 552–553“ [283] vs. „41f.“ [155] vs. „v. 6–7“ [330]).





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