Texts and the City

Post/Koloniale Städte als Kreuzungs- und Knotenpunkte von Literaturen, Kulturen und Medien

Beatrice Schuchardt

Hans-Jürgen Lüsebrink und Sylvère Mbondobari, Hrsg., Villes coloniales, métropoles postcoloniales: représentations littéraires, images médiatiques et regards croisés (Tübingen: Narr, 2015).

Der auf einer Sektion des VII. Romanistentages in Duisburg/Essen (2010) basierende Sammelband stellt die Frage nach der Les- und Sichtbarkeit der Stadt im Spannungsfeld von kolonialer und postkolonialer Stadtimagination. Damit einher geht die Frage nach der Rückwirkung der kulturellen und medialen Darstellungsformen auf die durch die BeiträgerInnen untersuchten literarischen, filmischen und musealen Repräsentationen des Urbanen. Dem Band ist daran gelegen, koloniale und postkoloniale Diskursivierungen der Stadt auf der Basis der ihr zugrundeliegenden Dynamiken als ein im Wandel begriffenes Verhältnis zu lesen; ein Verhältnis, das ebenso Raum für Begegnungen und Interaktionen bietet, wie es Konflikte und Konfrontationen birgt.

Die Dynamik des städtischen Raums wird – wie die Herausgeber mit Alexis Nouss anmerken – wesentlich durch widerstreitende Kräfte geprägt, die entweder bündelnd („co-“) oder trennend („dis-“) wirken, die aber auch die Überschreitung kultureller, sozialer und/oder räumlicher Grenzen initiieren können („trans-“). Zutage treten diese Kräfte etwa im Verhältnis von Zentrum und Peripherie, von Kosmopolitismus und Lokalität, von Urbanem und Ruralem sowie anhand der im Stadtraum sichtbar werdenden sozialen Stratifizierungen und, nicht zuletzt, im Prozess der Aneignung und Wiederaneignung von Praktiken, Räumen und Diskursen. Gerade diese Perspektive des Bandes auf die ebenso dynamischen wie spannungsreichen Kräfteverhältnisse im städtischen Raum erweist sich als besonders gewinnbringend, greifen doch viele der Beiträge genau diese Thematik auf.

Der urbane Raum im historischen und kulturellen Kontext des Kolonialismus und sein postkolonialer Widerpart, der in Relation zum kolonialen Denken – wie Hélène Destrempes in ihrem Artikel treffend bemerkt – weniger als ein „Danach“, als ein „Über-Hinaus“ zu begreifen ist (255), erscheint in Lüsebrinks und Mbondobaris Band zudem als privilegierter Ort der Mestizierung und der Synkretismen. Als ein solcher bringt er seinerseits neue Ausdrucksformen hervor. Postkoloniale Imaginationen des Urbanen artikulieren sich, ebenso wie ihre durch Migrationen und Transkulturation geprägten Bewohner, entsprechend in einem Zwischenraum der Kulturen, Sprachen und Medien.

Die siebzehn Beiträge des Bandes sind in drei Sektionen gegliedert: Teil I „Représentations littéraires et images médiatiques coloniales“ widmet sich literarischen, filmischen und musealen Repräsentationen kolonialer Stadtentwürfe und ihren postkolonialen Überschreitungen (23–123). Teil II „Villes et cultures postcoloniales“ nimmt postkoloniale Städte als Orte neuer sozialer und kultureller Lebensformen in den Blick (125–247), während Teil III mit der Überschrift „Regards croisés“ (247–78) ein Motiv benennt, das auch die ersten beiden Abschnitte prägt. Kennzeichnendes Merkmal dieses Teils ist jedoch, wie das Vorwort verrät, nicht allein die Kreuzung kolonialer und postkolonialer Perspektivierungen der Stadt, sondern eine Verschränkung von ‚retrospektiven‘ und ‚prospektiven‘ Blicken auf die Stadt (19).1

Eine solche Verschränkung leisten etwa die Beiträge Frank Jablonkas und Marie-Clémence Adoms zum Zouglou als neuer musikalischer und sprachlicher Ausdrucksform der Elfenbeinküste. Jablonkas äußerst differenzierte, im Zwischenraum von Kulturwissenschaft und Linguistik angesiedelte Analyse (207–26), begreift das Zouglou als eine subversive Strategie des Singing Back. Über die Verbindung der ‚Hyper-Medialisierung‘ des Zouglou durch eine global agierende Musikindustrie einerseits mit dem konkreten lokalen und soziokulturellen Kontext der Elfenbeinküste andererseits (217), entsteht eine glokale Ausdrucksform, die ebenso kulturbewahrend wie erneuernd wirkt (221).

Interessant ist, dass Adoms äußerst gewinnbringende Studie zum Zouglou (227–46) mit dem Song „Premier gaou“ (1999) der Gruppe Magic System den gleichen Text in den Blick nimmt wie Jablonka und dabei teils zu ähnlichen, teils aber auch zu anderen Schlüssen gelangt. Dies ist insbesondere auf ihre von Jablonka abweichende Transkription des Primärtextextes zurückzuführen. Auf die Varianz der möglichen Transkriptionen des Liedtextes, wie sie beispielsweise im Netz kursieren, hatte Jablonka in seiner Analyse bereits hingewiesen. Dass diese Varianz nun auch in den beiden Beiträgen hervortritt, zeigt den hohen Grad der Kodierung des Zouglou als einem in der urbanen Jugendkultur wurzelnden, in steigendem Maße aber auch einem aufstrebenden bürgerlichen Publikum als identifikatorisches Element dienendem Kulturprodukt. Adoms Artikel skizziert in erhellender Weise die Ursprünge des Zouglou sowie seine Bezüge zur Jugendsprache des Nouchi. Die Verfasserin identifiziert das Zouglou als eine dynamische, zwischen verschiedenen Stadt- und Lokalkulturen migrierende Ausdrucksform, die ebenso Medium der Artikulation einer sich allmählich zum Mainstream wandelnden, ehemaligen Subkultur des Urbanen ist, wie es eine Überlebensstrategie in Zeiten der ökonomischen und sozialen Krisen repräsentiert (240). Dieses Moment der Krise tritt bei Adom prononcierter hervor als bei Jablonka.

Perspektivierungen des Krisenhaften erweisen sich vor allem für die im Band untersuchten postkolonialen Stadt-Imaginationen als prägend, die teils albtraumhaft und dystopisch anmuten, teils aber auch utopistische Entwürfe wagen. Postkoloniale Dystopien des Urbanen nehmen etwa die Beiträge Albert Guaffos und Dominique Ranaisvoisons in den Blick. Guaffos Untersuchung der literarischen Vertextung der tanzanianischen Metropole Tanga und ihrer Nord-Süd-Achse zeigt (77–88), dass Krisen in postkolonialen Stadtentwürfen nicht zwangsläufig auch paralysierend wirken, sondern dass sie vielmehr übergängliche Räume einer in Veränderung begriffenen Lebenswelt darstellen, die insbesondere im Vergleich zum durch Tradition und Nostalgie geprägten Raum des Ruralen bedrohlich erscheinen. Innovativ ist Guaffos Übertragung von Arjun Appadurais Konzept des ethnoscape auf Eza Botos literarische Skizze der Stadt Tanga. Dieser Transfer ermöglicht es Guaffo, den urbanen Raum ebenso als anthropologische Konstante wie als Ort des Wandels zu fassen.

Dominique Ranaisvoisons Analyse kolonialer und postkolonialer Romane über die madagassische Hauptstadt Antanarivo (137–48) untersucht aus der Perspektive der Geokritik nach Bertrand Westphal, inwiefern urbane Architekturen literarische Stadtentwürfe von der Kolonialzeit bis heute in unterschiedlicher Weise prägen. Dreh- und Angelpunkt der Textanalysen ist der Rova (142–4), ehemaliger Palast des madagassischen Herrschergeschlechts und Metonymie der lokalen Kultur. Ranaisvoison veranschaulicht nicht nur die narratologischen Differenzen zwischen kolonialen Reiseberichten und zeitgenössischen madagassischen Erzählungen, sondern auch, in welchem Maße sich unterschiedliche Identitätskonstruktionen in die literarischen Stadtentwürfe einschreiben: Während koloniale Texte über die Beschreibung der lokalen Architektur die kulturelle Differenz Madagaskars herauszuarbeiten und somit wiederum die Stabilität der eigenen Identität zu zementieren suchen (145), offenbaren madagassische Perspektivierungen des Stadtbildes mit ihrem Fokus auf dem Dysfunktionalen und Hässlichen den Selbstzweifel. Auf der Basis von Westphals Konzept der ‚archipelischen Welt‘ erweist sich Antanarivo als Reuse und somit als Falle, aus der es kein Entrinnen gibt (146). Damit weicht Westphal wesentlich von Glissants Verständnis des Archipels als Figur einer offenen Welt ab. Der Vergleich kolonialer und postkolonialer Entwürfe Antanarivos zeigt schließlich, inwiefern sich Selbstbilder in verschiedene literarische Felder jenseits eines ästhetischen Kanons in ganz unterschiedlicher Weise einschreiben (147).

Den durch Guaffo und Ranaisvoison untersuchten Dystopien stellt Hélène Destrempes Beitrag (253–66) die utopistischen Stadtskizzen akadischer Autorinnen wie Germaine Comeau entgegen. In ihren Narrativen haben die von 1755–1758 durch die englische Kolonialpolitik vorgenommenen Vertreibungen der frankophonen Bevölkerung aus ihren Siedlungen niemals stattgefunden. Die imaginäre Stadt Laville, die zugleich auch Comeaus Roman betitelt, erscheint entsprechend als kosmopolitischer Schmelztiegel, der die koloniale Vergangenheit und das mit ihr verbundene Trauma nicht kennt (264). Der enge lokale Raum der Provinz Nova-Scotia wird aufgebrochen und öffnet sich auf die Utopie einer harmonischen Urbanität des Verschiedenen hin (266), ein Topos, der auch Comeaus Roman Loin de France (263–4) kennzeichnet. Ebenfalls über die in der Kolonialgeschichte Französisch-Kanadas wurzelnde Grenzziehung zwischen einer anglophonen Mehrheit und einer frankophonen Minderheit hinaus gehen die Romane France Daigles. In ihren Fiktionalisierungen der Städte Dieppe und Moncton wird das Regionale in seinen Facetten – der französischen Varietät des chiac, der städtischen Topographie mit ihren Ortsnamen und der lokalen Ökopolitik – aufgewertet, wie die Bildungs- und Gedächtnis-Reise der Protagonisten des Romans Pas Pire entlang des Flusses Petitcodiac veranschaulicht (258–9).

Dass nicht nur in postkolonialen Stadtentwürfen, sondern auch in den exotistischen und onirischen Konstruktionen kolonialer Städte Momente der Verunsicherung angesichts einer Differenz hervortreten, die in der Teleologie des kolonialen Diskurses mit seiner im Dienste der mission civilisatrice stehenden Fortschrittseuphorie nicht ohne weiteres aufgeht, zeigt die sehr gute Analyse Xavier Garniers über koloniale Imaginationen der marokkanischen Königsstadt Fez (23–36). So erscheint Fez in den durch den Kolonialdiskurs geprägten Darstellungen französischer Reisender entweder als sich dem Besucher verschließende Festung, als Oase und locus amoenus oder als opulenter Organismus. Diese mäandernde, labyrinthische Struktur insbesondere der Medina von Fez wird dann in den kolonialen Narrationen über den Aufstand der autochthonen Bevölkerung von 1912 in einen primitivistischen Diskurs eingebettet, in Zuge dessen sich Fez vom begehrenswerten Objekt zur abgründigen Falle wandelt.

Garniers Analyse der kolonialen Konstruktion eines pulsierenden und zuweilen verlockenden Stadt-Körpers mit seinen unterirdischen Wasseradern wird durch Annick Gendres Beitrag über postkoloniale Konstruktionen der Städte Port-au-Prince und Saint-Denis bei Jean Lods und Émile Ollivier idealtypisch ergänzt (37–55). Die Verfasserin zeigt, inwiefern etwa die haitianische Stadt Port-au-Prince bei Ollivier als zugleich abjekter und begehrenswerter Körper erscheint. Der Stadt-Text offenbart sich bei Olivier zugleich als ein Sehnsuchts-Text (45), der im Aufeinanderprall von glorreichem Kolonialdiskurs und einer postkolonialen Ästhetik des Widerstands erotisch aufgeladen wird (43) und damit zugleich infam erscheint (45). Demgegenüber vermag die Verfasserin in Lods Entwurf der auf der Insel La Réunion gelegenen Stadt Saint-Denis einen labyrinthischen Raum der Heimsuchung auszumachen, der sich in der Analyse wiederum als Form des Protestes und Möglichkeit offenbart, den lebensfeindlichen und somit unbewohnbaren urbanen Raum bewohnbar zu machen (49). Auf konzeptueller Ebene offenbart der theoretische Horizont dieses Beitrags Anklänge an Achille Mbembes Essay On the Postcolony und Andreas Mahlers Chiasmus von „Text-Stadt“ und „Stadt-Text“. Diese Referenzen finden im Beitrag selbst keine Erwähnung. Die von Gendre konstatierte Opazität der Primärtexte wirkt sich stellenweise und insbesondere im Fazit auf den sprachlichen Duktus der Analyse aus.

Der im Vorwort des Bandes angekündigten Dynamik der Relation in Form eines Spannungsverhältnisses von Stadtzentrum und Peripherie bzw. von urbaner und ruraler Kultur widmen sich neben Guaffo auch Charles Bonn, Sylvère Mbondobari und Hans-Jürgen Lüsebrink. Aber auch die Studien von Viviane Azarian und Manfred Loimeier nehmen sich des spannungsreichen Verhältnisses von Zentrum und Peripherie an, wenn sie sich den Perspektiven afrikanischer Schriftsteller auf europäische Metropolen widmen.

Während europäische Zentren wie London und Paris Manfred Loimeier zufolge in der afrikanischen Literatur anfänglich noch als Räume begriffen werden, in denen sozialer Aufstieg möglich ist, etwa in Camara Layes L’Enfant Noir (1953) oder Aka Lobés Kocoumbo, l’Étudiant Noir (1960), überwiegt in der zweiten Jahrhunderthälfte und darüber hinaus der desillusionierte Blick (247–52). Demgegenüber werden afrikanische Metropolen aufgewertet, die nun europäische Hauptstädte in ihrer Eigenschaft als Chancen- und Zukunftsräume ablösen (247). Dies zeigt sich, wie Loimeier anhand eines breiten Textkorpus veranschaulicht, etwa im Werk von SchriftstellerInnen wie Fatou Diome, Abdourahman A. Waberi, Wilfried N’Sondé, Alain Mabanckou oder Calixthe Beyala. Romane, die nicht mehr über Paris erzählen, sondern die vielmehr Narrative der Ernüchterung entrollen, deren lebensfeindliche Kulisse Paris ist, illustrieren die ‚Desakralisierung‘ (249) des Mythos. Erweist sich das Writing Back insbesondere in den anglophonen Literaturen des afrikanischen Kontinents als prägende Strategie, so überwiegt in den franko- und germanophonen Produktionen afrikanischer Schriftsteller eher der Topos der „Dezentralisierung des Blicks“ (251).

Viviane Azarian arbeitet in ihrer Analyse frankophoner Romane wie u.a. Camara Layes L’enfant noir, Bernard Dadiés Climbié, Birago Diops La plume raboutée oder Ferdinand Oyonos Une vie de boy anschaulich heraus (185–94), inwiefern afrikanische Literarisierungen westlicher Metropolen die dichotomischen Strukturen kolonialer Diskurse aufnehmen, um sie sodann mit einer ‚Dynamik der Formen‘ zu kombinieren. Daraus entstehen Stadtentwürfe, die nicht statische Beschreibung, sondern dynamische Narrative einer Deplatzierung sind (186). In dieser ihrer Funktion leisten sie eine Umkehr des Blicks ebenso wie eine Umkehr der Klischees (189). Azarian konturiert, inwiefern europäische Metropolen wie Paris im Kontext postkolonialer Migrationsbewegungen zu Chronotopoi werden, in die sich Dichotomien aber nicht nur einschreiben, sondern in denen sie sich auch kreuzen und verschränken (193). Dabei vermag es die individuelle Perspektive der Protagonisten, das koloniale Geschichtsdispositiv ebenso in Frage zu stellen wie die räumlichen Segregationsmechanismen postkolonialer Metropolen. Wie Ranaisvoison macht auch Azarian Westphals Geokritik für ihre Analyse fruchtbar: Mit Hilfe der Übertragung der Konzepte von endogener, exogener und allogener Raumwahrnehmung auf ihren Textkorpus gelingt es ihr, das Phänomen des ‚Sich-Fremd-Fühlens‘ in der Heimat auf eine Dynamik der Blicke zurückzuführen (192).

Einen erhellenden Überblick über das sich verschiebende Verhältnis von Stadt und Land bzw. von Stadtzentrum (cité) und Altstadt (médina) in der algerischen Literatur seit den 1950er Jahren bietet der Beitrag von Charles Bonn (149–62). Er zeigt, dass algerische Texte der 1950er Jahre im Gegensatz etwa zu den Literaturen Marokkos und Tunesiens auf ein seitens der antikolonialistischen französischen Linken bestehendes Bedürfnis antworten, das ländliche Algerien im Gegensatz zur westlichen Industriekultur zu schildern, wie dies etwa bei Mouloud Feraoun und Mouloud Mammeri der Fall ist. Bonn argumentiert überdies, dass eine dichotomische Perspektivierung des Städtischen als politischem und des Ländlichen als apolitischem Raum für die algerische Literatur spätestens seit Kateb Yacines Roman Nejdma nicht mehr haltbar ist, denn hier kehren sich die herkömmlichen Zuschreibungen um: Während die beiden in der Stadt beheimateten Figuren von der politischen Realität wie ‚abgeschnitten‘ sind, zeichnen sich die dörflichen Protagonisten durch politisches Engagement und Pragmatismus aus. Doch auch bei Feraoun und Mammeri ist der dörfliche Raum kein Idyll, sondern in Auflösung begriffen und bereits von der Moderne affiziert (161). Demgegenüber richten nachfolgende Generationen algerischer Schriftsteller ihren Blick auf die Stadt. So zeigen etwa die Romane Mohammeds Dibs, dass im Zuge einer fortschreitenden Moderne nicht mehr ‚nur‘ das Ländliche auf dem Spiel steht, sondern der Raum an sich, der nicht mehr Identitäts-, sondern mehrfach kodierter Alteritätsort ist. Als mögliche Gründe für die räumliche und thematische Verschiebung vom Ländlichen hin zum Städtischen führt Bonn zum einen die Urbanität des Romans an, ein Genre, das in der arabo-berberischen Kultur keinerlei Tradition hat und sich bereits in der Entscheidung der Autoren für das Französische durch den kulturellen Bruch auszeichnet (156–7). Als weitere mögliche Gründe vermutet Bonn aber auch die Verortung der Schriftsteller in der Stadt sowie eine ‚postkoloniale‘ Tendenz zur Verstädterung (161).

Hans-Jürgen Lüsebrinks Analyse (194–206) widmet sich dem ehemaligen Fischerdorf Dakar und seinem Wandel zur Hauptstadt des Senegal und Metropole des frankophonen Westafrikas. Ist Dakar im kolonialen Imaginären Frankreichs noch Dreh- und Angelpunkt der diskursiven Konstruktion einer ‚Plus Grande France‘ (195) und Sinnbild des Exotischen, so werden diese kolonialen Konstruktionen seit den 1950er und -60er Jahren durch afrikanische Schriftsteller und Filmemacher herausgefordert. Lüsebrink veranschaulicht anhand von Abdoulaye Sadjis Roman Maïmouna die Darstellung der Stadt als Ort des Materialismus, der Desillusionierung und des Verlustes von Werten und Traditionen, die nur noch auf dem Lande Bestand haben (199–201). Hier zeigen sich Analogien zu Loimeiers Beobachtungen. Mit dem in seiner Einheit von Ort, Zeit und Handlung an die aristotelische Dramentheorie angelehnten und zugleich romanesk anmutenden Film Borom Sarret von Ousmane Sembène (202–4) identifiziert Lüsebrink ein Narrativ, das – ebenso wie Sadjis Roman – einen Gegendiskurs zum Kolonialen bildet. Sembènes Film entwirft in seiner Konturierung der sozioökonomischen, räumlichen und kulturellen Stratifizierungen Dakars im Spannungsfeld von Zentrum und Peripherie ein ‚radikal neues‘ Bild der Stadt (204). Beide Werke setzen dem Kolonialdiskurs als einem utopistischen, teleologisch auf die Zukunft gerichteten Narrativ eine in der Gegenwart verortete Ästhetik des Realismus entgegen, deren Raumdarstellungen durch die kulturellen Felder afrikanischer und westlicher Erzähltechniken gleichermaßen geprägt sind. Dadurch entstehen Lüsebrink zufolge neue Wahrnehmungsfelder (204–5).

Der Relationierung von Stadt und Land, Zentrum und Peripherie verschreibt sich auch Sylvère Mbondobaris Studie über die Darstellung der afrikanischen Städte Cotonou, Conakry und St. Louis in der von Nocky Djedanoum herausgegebenen Anthologie Amours de villes, villes africaines (2001). Ähnlich wie Loimeier, Bonn und Lüsebrink konstatiert auch Mbondobari einen Wandel in den literarischen Stadtdarstellungen im Übergang von der ersten und zweiten zur dritten und vierten Generation afrikanischer Schriftsteller. Wird die Stadt bei ersteren in Opposition zum idyllischen Land und Ort des Werteverlustes, der Gewalt und der Entfremdung des ‚schwarzen Mannes‘ (166) gesehen, so wird der urbane Raum ab den 1980er Jahren und mit der dritten Autorengeneration zunehmend als vom Dorfleben unabhängiger Kosmos wahrgenommen. Ab der Jahrtausendwende und mit der Migrantenliteratur der vierten Generation erscheint die Stadt dann zunehmend als Text (166): Die Autoren werden zu ‚Architekten‘ des ‚Stadttextes‘. Mahlers spezifische Konzeptionierung des Terminus spielt auch hier keine Rolle, was – wie auch im Falle von Gendres Beitrag – wohl in erster Linie dem Umstand geschuldet ist, dass Theoreme aus anderen Sprachräumen in Frankreich kaum oder nur partiell zur Kenntnis genommen werden. Mbondobari arbeitet heraus, inwiefern insbesondere die Stadtentwürfe der rezenten afrikanischen Literatur durch die Verschränkung von Gegenwart und Vergangenheit, Geschichte und Gedächtnis, Realem und Wunderbarem gekennzeichnet sind (180). Konzeptuell greift Mbondobari dabei unter anderem auf Noras Konzept des Gedächtnisortes zurück (171). Die Stadt, hält Mbondobari abschließend fest, erweist sich in den Texten Florent Couao-Zottis, Tierno Monénembos und Boris Boubacar Diops als ein Raum, in dem die koloniale Vergangenheit in der Gegenwart neu interpretiert, ja sozusagen ‚konjugiert‘ wird, ohne dass die Texte aber in die Klage über die ‚Misere postkolonialer afrikanischer Metropolen‘ einstimmen (181).

Auch Emmanuelle Radar gründet ihre Studie über die Ruinen von Angkor Wat und deren Wandlung vom national-kolonialen hin zum interkulturell-postkolonialen lieu de mémoire auf Pierre Noras Konzept des Gedächtnisortes (57–75). Radar erweitert Noras Typologie allerdings um Bill Schwartz’ Unterscheidung von prämodernen, modernen und postmodernen Gedächtnisorten. In ihrem überaus gewinnbringenden Artikel zeigt Radar, inwiefern die Tempelanlage von Angkor ein zunächst vergessener, also ein ‚wahrer‘ Gedächtnisort im Sinne Noras war (65), bevor er von französischen Archäologen restauriert und in den 1920er und -30er Jahren als Vorzeigeobjekt der mission civilisatrice diente. Davon zeugen die teils von einer kolonialen Rhetorik geprägten, sich in Bezug auf die koloniale Inszenierung der Ruinen als Spektakel teils aber auch kritisch äußernden Reiseberichte der Epoche (65). Die dort geschilderten Tempelanlagen repräsentieren insofern einen ‚modernen‘ Gedächtnisort im Sinne Schwartz’, als dass das Verhältnis von präkolonialer Vergangenheit und kolonialem Aneignungsprozess stellenweise hinterfragt wird, so etwa im Bericht des Journalisten Louis Rouboud (1931). In Jean-Marie Gustave Le Clézios Reiseroman Livre des fuites (1969) offenbart sich Angkor nicht mehr als nationaler, sondern als interkultureller Gedächtnisort, der sich einer Arretierung durch den kolonialen Diskurs genau in dem Moment verweigert, in dem sich die Ruinen als ‚französische Erfindung‘ erweisen (67). Diese Perspektive wird in einer der drei alternativen Versionen von Francis Ford Coppolas Apocalypse Now (1979a/b; 2001) radikalisiert, wenn die Tempelanlagen dort im Bombardement der amerikanischen Luftwaffe in Flammen aufgehen (69–70). Die Möglichkeit der Darstellung eines gänzlich neuen Typus des Gedächtnisortes regt Radar in ihrer Lektüre von Wong Kar-weis Film In the Mood for Love (2000) an. In der dortigen Darstellung der Ruinen koexistieren Vergangenheit und Gegenwart, was sie am ehesten dem prämodernen Gedächtnisort annähert (72).

Wenn sich Radars Artikel den kolonialen Inszenierungen eines touristischen Ortes und seinen künstlerischen Umdeutungen in der jüngeren Vergangenheit widmet, so nimmt sich Sylvie Mutets Beitrag mit den Kolonialausstellungen von London (1851), Berlin (1896) und Paris (1907) dem Moment der musealen Inszenierung an. Dieser sehr gute und äußerst lesenswerte Beitrag nimmt sich nicht nur den mannigfaltigen Arten der Zurschaustellung, Exotisierung und Stereotypisierung autochthoner Kulturen und ihrer Bewohner durch die Kolonialausstellungen an. Mutet widmet sich in ihrer aufmerksamen Lektüre darüber hinaus Texten über die Ausstellungen, die Besuchern wie dem Literaten Théophile Gautier mit ihrem „effet cage“ (101) ebenso faszinierend wie abschreckend erscheinen (94–6). Auch die Geschichte der Ausstellungsorte selbst wird von der Verfasserin beleuchtet, und zwar vor, während und nach ihrer Nutzung als Expositionsflächen. Neben der Tendenz einer wachsenden ‚Entmenschlichung‘ (109) in der Inszenierung der autochthonen Bewohner der Kolonien konstatiert Mutet die Darstellungstechnik der Colony in a Box, die dem Besucher die ‚Essenz‘ (101) einer exotisierten Welt im Kleinen vorgaukelt. In den europäischen Metropolen vermeintlich authentisch nachgebaute ägyptische Stadtviertel und togoische Dörfer führen zum Effekt einer mise en abyme der ‚Stadt in der Stadt‘. Mit ihrer Frage nach dem Nachhall der untersuchten Ausstellungen in der Gegenwart geht Mutets Beitrag zudem dem Phänomen der ‚Ausstellungen über die Ausstellungen‘ nach, deren weitere Beforschung sie als wünschenswert formuliert (109).

Romanen und Novellen algerischer AutorInnen widmen sich Ricarda Bienbeck und Sonia Zlitni-Fitouri in ihren jeweiligen Untersuchungen. Beide arbeiten die palimpsestische Überlagerung vergangener und gegenwärtiger Stadtbilder heraus. Gründet sich Zlitni-Fitouris Analyse von Salim Bachis Entwurf der imaginären Stadt Cyrtha im Roman Le chien d’Ulysse auf die Konzepte von Intertextualität und Suche, so setzt Ricarda Bienbecks Studie zur Wahrnehmung Algiers im Werk Maïssa Beys die Konzepte von Autotextualität und Begegnung zueinander in Beziehung.

Zlitni-Fitouri zeigt (113–23), inwiefern das imaginäre Cyrtha – das die Städte Constantine, Oran aus Albert Camus’ La Peste, Dublin aus James Joyces Ulysses, Ithaca aus Homers Odyssee und die griechische Insel Kythira in sich vereint (118–9) – zum Theater der kulturellen Vermischung (‚brassage‘, 114) und Motor der Erzählung wird (121). In intertextuellen Spielen, autoreferenziellen Passagen und Dopplungen (113) überlagern sich die vielen genannten realen und imaginären Orte in einer synästhetischen Stadtwahrnehmung, in der sich lyrische Passagen immer wieder durch das Medium Bild punktiert sehen (119). Daraus entsteht eine urbane Poetik, die eine Stadt in ihren Metamorphosen – vom Ort der Gewalt und der Heimsuchung hin zum Raum und Objekt der Sinnsuche – skizziert. Der Protagonist des Romans Hocine fungiert hierbei als moderner Odysseus, der im Gegensatz zu Homers Held jedoch nicht triumphieren, sondern der allgegenwärtigen politischen Gewalt zum Opfer fallen wird (121).

Bienbeck (125–47) hingegen vermag in den Texten Maïssa Beys und insbesondere in der Novelle Sur une virgule (1998) die Versöhnung zweier Perspektiven auf die postkoloniale Stadt Algier zwischen melting pot und Ort der Segregation auszumachen (125). Auf der Basis von Michel de Certeaus Perspektivierung der Fabel als einen espace médiateur sowie mit Hilfe von Jean-François Lyotards Begriff der ‚kleinen Erzählungen‘ und Hayden Whites These der Annäherung von écriture und Historiographie, erkennt Bienbeck in der in Beys Texten zentralen Gattung des Tagebuchs einen Zwischenraum (135): Dort wird die Begegnung der französischen und arabischen Kultur über zeitliche Grenzen hinweg möglich, dort offenbart der Stadtraum aber auch seine palimpsestische Struktur (128). Diese entsteht durch die stetige Aneignung und Wiederaneignung der Stadtviertel Algiers durch verschiedene kulturelle und politische Gruppen. Letztlich gelingt es Bienbeck, die drei von ihr analysierten Texte Sur une virgule, Bleu Blanc Vert (2006) und Pierre sang papier ou cendre (2008) mit Hilfe des Begriffes der Autotextualität als ‚verschränkte Erzählungen‘ zu identifizieren, in denen die Bezogenheit verschiedener Werke eines Autors aufeinander anhand wiederkehrender Erzähltechniken zutage tritt (134).

Einer innovativen Relektüre des Romans La Peste (1947) von Albert Camus widmet sich schließlich Ieme van der Poel im letzten Beitrag des Bandes (267–78). Anhand einer Rehistorisierung und politischen Rekontextualisierung des Romans sowie durch den Verweis auf seine nicht zufällige Verortung in der algerischen Stadt Oran, in der sich die koloniale Segregation der Kulturen als besonders rigide erwies, erörtert Poel die bisher von der Sekundärliteratur vernachlässigte Frage, warum die arabische und jüdische Bevölkerung Orans in La Peste so gut wie keine Rolle spielt (268). Der Vergleich verschiedener Entwürfe des Romans sowie angesichts Camus’ Engagement als kritischem Intellektuellen, als der er der rigiden Kolonialpolitik seiner Zeit mehr als skeptisch gegenüberstand, veranlassen van der Poel zu der Vermutung, dass Camus seinen Text unter dem wachsenden Druck einer rasch an Anhängern gewinnenden rechtskonservativen Politik überarbeitet hat, um dessen Erscheinen zu ermöglichen. Im Zuge dieser Überarbeitung wurde die arabisch-jüdische Kultur aus der Darstellung der Stadt getilgt, um dem Roman eine universellere Gültigkeit zu geben.

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Abschließend bleibt festzuhalten, dass der Sammelband Villes coloniales / Métropoles postcoloniales zum einen gewisse Konstanten, zum anderen aber auch Herausforderungen vor Augen führt, mit denen sich kultur- und literaturwissenschaftliche Analysen konfrontiert sehen, die im weiteren Feld der Postcolonial Studies angesiedelt sind. Eine Herausforderung stellt die in den vergangenen Jahren bereits viel und intensiv diskutierte Unschärfe des Begriffs ‚postkolonial‘ dar. Auch in den Beiträgen des Bandes wird dieses Adjektiv ganz unterschiedlich verwendet, wenn es ebenso zur Bezeichnung historischer Momente ‚nach‘ dem kolonialen Zeitalter herangezogen wird, wie es zur Skizzierung eines ‚mestizierten‘ Verständnisses von Kultur oder zur Benennung einer kolonialen literarischen Diskursen diametral entgegenstehenden Ästhetik dient. In der Einleitung des Bandes wird diese heterogene Verwendungsweise nicht weiter problematisiert.

Darüber hinaus fällt auf, dass in den einzelnen Beiträgen des Bandes gewisse Topoi immer wieder auftreten. Diese erweisen sich als wiederkehrende Konstanten des Themenkomplexes des (Post-) Kolonialen, die nicht nur die vorliegende, sondern andere Studien zum genannten Themenbereich durchziehen (vgl. u.a. die Dissertationen von Stemmler, 2004; Schuchardt, 2006; Richter, 2007). Zu diesen Topoi zählen zum einen die zurückgeworfenen, sich kreuzenden oder sich überlagernden Blicke und Diskurse. Bereits in der Einleitung des Bandes werden diese mit den Techniken des Writing bzw. Filming Back als strukturbildende Elemente angekündigt (15; 18), für den dritten Abschnitt des Bandes sind die sich ‚kreuzenden Blicke‘ titelgebend (6). Entsprechend häufig finden sich die Themen der sich überlagernden, zurückgeworfenen und umgekehrten Blicke und Diskurse in den verschiedenen Beiträgen wieder (Ranaisvoison, 137–9; Jablonka, 215; Azarian, 189; Loimeier 251–2).

Auch andere Denkfiguren wie das Palimpsest (Gendre, 40–2; Zlitni-Fitouri, 115; Bienbeck, 128), die Deplatzierung (Gendre, 53; Azarian, 186 u. 191), das Labyrinth (Garnier, 27–9; Gendre, 43–5; Zlitni-Fitouri 114) und das Konzept der Heimsuchung (Gendre, 48; Zlitni-Fitouri 122) werden wiederholt aufgegriffen, wobei diese Konzepte nicht zwangsläufig auf bestimmte Theoretiker wie Bhabha (für die Deplatzierung), Mbembe (für die Heimsuchung) oder Khatibi (für das Labyrinth) zurückgeführt werden. Dabei ist die Rekurrenz der genannten Denkfiguren zweifellos darin begründet, dass sie in den untersuchten Gegenständen selbst strukturgebend sind. Dies ist insofern erwähnenswert, als dass somit ersichtlich wird, in welchem Maße die genannten Topoi die Strukturen kolonialer und postkolonialer Texte, aber eben auch den Wissenschaftsdiskurs über diese Texte prägen, und zwar über kulturelle, mediale und disziplinäre Grenzen hinweg.

Kaum eine Rolle spielt hingen das vor allem im anglophonen sowie im deutschsprachigen Raum in den Cultural und Postcolonial Studies noch um die Jahrtausendwende ebenso populäre wie umstrittene Konzept der Hybridität nach Bhabha, das nicht erst mit Kien Ngi Has kritischer Perspektivierung des „Hypes um Hybridität“ (2010) im Abwind begriffen ist. Im frankophonen Bereich konnte sich Bhabhas Konzept aufgrund von attraktiveren, aus dem eigenen Sprach- und Kulturraum stammenden Theorieangeboten, wie beispielsweise Derridas Konzept der différance, die Foucault’sche Diskursanalyse, Glissants Begriffe des Archipelischen und der Relation oder dem Konzept der métissage kaum durchsetzen. Dies veranschaulicht auch der vorliegende Band. Explizit auf Bhabha bezieht sich allein Jablonka, der auf die Figuren des In-Between und des Third Space zurückgreift (207–9). Zwar tauchen das Hybride, das Dritte und das Zwischenräumliche in einzelnen Analysen punktuell auf; sie werden aber entweder auf die Primärexte selbst (Mbondobari, 180) oder auf Theoretiker aus dem frankophonen Raum zurückgeführt, z.B. auf de Certeau (Bienbeck, 131–3).


  1. In einfachen Anführungszeichen gesetzte Passagen markieren die von mir ins Deutsche übersetzten Elemente aus dem französischen Originaltext.





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