Doppelte Verfremdung

Evelyn Dueck über Celans Dichtung und ihre Übersetzungen

Hermann H. Wetzel

Evelyn Dueck, L’Étranger intime: les traductions françaises de l’œuvre de Paul Celan (1971–2010), Communicatio 42 (Berlin: de Gruyter, 2014), 465 S.

Man nehme einen ‚schwierigen‘ Dichter in der einen Sprache (Paul Celan) und einen ebenso schwierigen in einer anderen (André du Bouchet) und lasse den zweiten den ersten übersetzen. Wird es addiert doppelt schwierig oder multipliziert ‚einfach‘? Auf jeden Fall lässt sich an einem solchen Beispiel (ergänzt durch weitere Übersetzer Celans) hervorragend studieren, was aus einem Text im Prozess der Übersetzung wird und welche implizite (und zum Teil auch explizite) Poetik hinter dem Schaffensprozess beider Autoren steht. Letztlich erhellt die Übersetzungs-Analyse auch den Originaltext derart, dass man jedem Interpreten raten möchte, sich diesen Zugang zu einem besseren Verständnis eines Gedichtes nicht entgehen zu lassen.

Mit der Lyrik und insbesondere mit ihren Übersetzungen ist es für den Leser im wahren (etymologischen) Sinn des Wortes ein ‚Elend‘. Das Elend oder besser, ohne die eindeutig negative Note des deutschen Begriffs, auf Französisch gesagt, das ‚dépaysement‘ oder, weniger schön, die ‚déterritorialisation‘ (93) beginnt nämlich schon im lyrischen Originaltext. Denn er ver-fremdet (durch allerlei künstliche Zurüstungen wie rhythmische und lautliche Parallelismen, von der Gebrauchssprache abweichende Wortwahl und Wortstellung, ungewöhnliche Bilder etc.) die Norm der (Quell-) Sprache, derer sich der Dichter bedient, und dies teilweise so gründlich, dass die entstandenen Texte seinen Sprachgenossen als „dunkel” (Celan) bis unverständlich gelten.1 Und das ‚Elend‘ steigert sich noch mit der Übersetzung in eine andere Sprache. Denn der zur Katachrese verkümmerte Begriff ‚Über-setzung‘ tut so, als seien der Ausgangspunkt und das Ziel der translatio wie bei einer Fähre eindeutig definiert. Doch ist nicht nur, wie bereits festgestellt wurde, die Quellsprache verfremdet, sondern erst recht die Zielsprache, die ja von der Ausgangssprache aus gesehen per Definition eine Fremdsprache ist.

Es ist eben eine Illusion zu glauben, jedes Wort habe nur eine oder mehrere im Lexikon fixierte Bedeutungen. (Rimbaud spricht in seinem Brief vom 15. Mai 1871 davon, dass man Mitglied der Académie Française sein müsse, d.h. „toter als ein Fossil, – um [auf die Idee zu kommen,] ein Lexikon zu verfassen, in welcher Sprache auch immer.“2) Selbst wenn die denotative Bedeutung einigermaßen zuverlässig zu bestimmen ist, so sind die Konnotationen, die historischen Bedeutungsvarianten, die lautlichen und inhaltlichen Anklänge an andere Wörter, deren Bedeutung mit aufgerufen wird, und die noch individuelleren persönlichen Assoziationen keinesfalls vollständig in einem Lexikon zu erfassen.3 Ganz gewöhnliche, scheinbar eindeutige und harmlose deutsche Begriffe wie ‚Dusche‘ oder ‚Rauch‘ haben im Kontext der Vernichtungslager unwiderruflich ihre ‚unschuldige‘ Eindeutigkeit verloren.

Doch nicht nur die Komponente des Zeicheninhalts ist vieldeutig schillernd und daher meist nur in beschränktem Umfang, unter Verlusten, ja manchmal mit störenden Zungenschlägen in die Zielsprache zu übertragen, sondern vor allem die in der Alltagssprache eher unbeachtete enge Koppelung von Zeicheninhalt und Zeichenkörper. Bei dieser engen Koppelung von Zeicheninhalt und Zeichenkörper, die grundsätzlich und irreparabel zu einer besonderen Schwäche von Übersetzungen führt (infolgedessen lässt Lefebvre z. B. das Wort ‚Schmerz‘ mit seinen speziellen lautlichen Qualitäten im Titel „Die Silbe Schmerz“ unübersetzt; vgl. 393), geht es jedoch nicht nur um die lautmalend sinnliche Seite. Denn die lautliche Äquivalenz bzw. Ähnlichkeit wirkt sich nach dem Jakobsonschen Äquivalenzprinzip auch auf die Semantik aus. (Dueck [397] verweist z. B. auf den Reim Glanz – Franz, der das abwesende Wort (Toten-) Tanz suggeriert.)

Werden nun, um auf unsere Ausgangsfrage zurück zu kommen, die Gedichte Celans in ihren französischen Übertragungen doppelt verfremdet (sprich völlig unverständlich) oder im Gegenteil kongenial ‚einfach‘? Die Antwort kann nur lauten: ‚Einfach‘ werden sie keinesfalls, es sei denn, sie würden mit Gewalt gegen ihre ursprüngliche Mehrdeutigkeit ‚einsinnig‘ (etwa biographisch-anekdotisch) vereinfacht. Wenn der Übersetzer dagegen (wie der von Dueck [196, Anm. 130] zitierte Philosoph Lacoue-Labarthe) der Meinung ist, Celans Lyrik sei weder übersetzbar noch kommentierbar, dann kann das Ergebnis ein durchaus völlig unverständlicher Text sein, der die Sinnsuche des Lesers ins Leere laufen lässt: „Ils se dérobent nécessairement à l’interpretation, ils l’interdisent. Ils sont écrits, à la limite, pour l’interdire.“

Literaturwissenschaftliche Theorien hinken erfahrungsgemäß und sogar notwendig den Texten innovativer Dichter um Jahre hinterher, da die neuen theoretischen Einsichten in der Regel erst anhand von Texten gewonnen werden, die den Erwartungen nicht mehr entsprechen. Die neuen Phänomene lassen sich nicht mehr mit der überkommenen wissenschaftlichen Metasprache fassen, so dass erst ein geeignetes Instrumentarium geschaffen werden muss. Insofern sind die Übersetzungen von Celans Gedichten ins Französische ein Glücksfall, da sie eine Weiterentwicklung der Übersetzungstheorie geradezu erzwingen, zumal schon die Illusion der umstandslosen Verständlichkeit deutschsprachiger Gedichte durch deutsche Muttersprachler von Celans Texten nicht unterstützt wird, und erst recht nicht von den Übersetzungen in die Zielsprache, wenn sie von einem Dichter mit eigenem dichterischen Anspruch wie du Bouchet stammen. Angesichts von zwei gleichermaßen ‚dunklen‘ Texten muss zuerst geklärt werden, was einen lyrischen Text in der Art Celans ausmacht und wie eine Übersetzung auf diese Eigenheiten reagieren kann.

Evelyn Dueck tut daher in ihrer Zürcher Dissertation sehr gut daran, der Analyse der französischen Übersetzungen Celans eine fundierte Auseinandersetzung mit der Übersetzungstheorie von Schleiermacher bis Deleuze/,Guattari vorauszuschicken (Kap. I). Als Fazit hält sie fest:

Par conséquent, l’original et la traduction, le Même et l’Autre, peuvent-être considérés […] comme faisant partie d’une même multiplicité littéraire, c’est-à-dire que l’œuvre source n’existe pas en tant que telle, mais quelle est toujours en train de se créer (ou, pour utiliser le futur antérieur : elle est ce qui aura été créé par la lecture). De même, la traduction ‘naît’ au sein du texte source comme l’une de ses possibilités et l’analyse des traductions ne compare pas la traduction à un original, mais elle la compare à un ‘original-en-mode-de traduction’ […]. (93)

Der gewählte Titel L’Étranger intime ist ein Glücksfund, da er im Oxymoron der Vertrautheit in der Fremdheit bzw. der Fremdheit in der Vertrautheit die ganze Komplexität sowohl des lyrischen Textes selbst als auch seiner Übersetzung aufscheinen lässt.4

Ich greife aus der Fülle der interessanten Gesichtspunkte, die die Revue der von E. Dueck resümierten Übersetzungswissenschaft eröffnet, einen Punkt heraus, der ins Zentrum der Celanschen Dichtung und seiner Übersetzungen führt: die Analogie zwischen der Metapher und der Übersetzung, zwischen Metaphorologie und Traductologie

Celan unterscheidet die Metapher als rhetorische Figur vom Bild:

Und was wären dann die Bilder?

Das einmal, das immer wieder einmal und nur jetzt und nur hier Wahrgenommene und Wahrzunehmende. Und das Gedicht wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen. (Meridian, 10.)

Angesichts der Fülle an Metaphern in seinem Werk kann sich das ad-absurdum-Führen der Metapher nur auf die traditionelle rhetorische Figur der substituierenden, einen Begriff bloß durch einen anderen, ‚poetischeren‘ ersetzende Metapher beziehen und nicht auf die „métaphore vive“5, bei der nichts vorgängig Bekanntes, bestimmbar Analoges ersetzt wird, sondern im dynamischen metaphorischen Prozess etwas Neues entsteht, das bisher noch nicht zur Sprache gebracht wurde. Diese Art der Metapher und die ihr entsprechende Metapherntheorie bietet auch einen vielversprechenden Zugang zum Verständnis dessen, was eine Übertragung (nicht umsonst die wörtliche Verdeutschung von Metapher) von einer Sprache in die andere überhaupt leisten kann (und sollte). Lebendige Metaphern funktionieren insofern ähnlich wie eine Übersetzung, als beide nicht (in dieser Bedeutung vertraute, ‚eigentliche‘; bzw. zur Quellsprache gehörige) Begriffe durch unvertraute (‚uneigentliche‘), in der Normsprache inkompatible (bzw. fremdsprachliche) lediglich ersetzen, sondern zwischen zwei ursprünglich semantisch inkompatiblen Bereichen (bzw. zwei unterschiedlichen Sprachen) interagieren, die in der mehr oder minder suggerierten (bzw. in der Übersetzung behaupteten) ‚Analogie‘ etwas Neues entstehen lässt.

La mise en parallèle de la théorie moderne de la métaphore et celle de la traduction permet, par ailleurs, de mettre en question le critère de l’équivalence pour l’analyse des traductions. Si l’écart entre la traduction et le texte source est constitutif et irréductible, la traduction ne peut être ni la substitution, ni l’effet secondaire de ce dernier, mais elle est liée au texte source par une relation dynamique d’interaction6. (54)

Aber selbst die Interaktionstheorie der Metapher ist bei ihren Verfechtern (Richards, Black, Weinrich etc.) aufgrund ihrer Terminologie (Tenor – Vehikel, Bildempfänger – Bildspender) noch von der Substitutionstheorie infiziert. Denn tatsächlich ist der Tenor/,Bildempfänger in derartiger (‚moderner‘) Metaphorik gar nicht eindeutig zu bestimmen und sprachlich zu fassen. Deswegen ist die Metapher aber noch lange nicht „absolut“. Das ‚eigentliche‘ Glied der Metapher bleibt nicht „im Verborgenen“, während das ‚uneigentliche‘ Glied „allein sprachlich in Erscheinung tritt“ (148, nach G. Neumann), vielmehr wird das ‚Eigentliche‘ auf diese Weise suggeriert, erschaffen; die Lektüre ist laut Celan „lyrische Landvermessung“, denn „Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein.“7

Nehmen wir ein von Dueck (147) aufgenommenes Beispiel Weinrichs: Das berühmte Oxymoron „schwarze Milch“ aus der „Todesfuge“ ist eine besonders in die Augen springende semantische Inkompatibilität, bei welcher der Platz des erwarteten, üblichen Begriffs (‚weiß‘) nicht durch ein ‚ähnliches‘ Farbadjektiv oder -substantiv (etwa ‚Silber‘ oder ‚Elfenbein‘) eingenommen wird, sondern durch ein besonders ‚unähnliches‘, nämlich durch sein Gegenteil (‚schwarz‘). Durch die offensichtliche Verletzung der Norm (bei der das tertium comparationis einer Metapher durch Ähnlichkeit definiert ist, hier jedoch durch Unähnlichkeit) betont Celan die Anomalie und zwingt den Leser zur Reflexion über ihre Bedeutung. Die Farbangabe ‚schwarz‘ wird erst in Verbindung mit „Milch der Frühe“, „trinken“ und dem gesamten Gedicht verständlich, da sie den Kontext der frühkindlichen, Leben spendenden Nahrung aufruft und in unüberbrückbaren Kontrast setzt zur Farbe des Todes. Die Metapher ist so kühn, nicht weil ihr Vehikel (ihr Bildspender) semantisch „einen kleinen Schritt“ vom ‚eigentlich‘ erwarteten Begriff entfernt liegt, wie Weinrich behauptet8, sondern weil der gewählte Begriff so fern wie möglich von ihm ist. Beide Begriffe gehören zwar zum Wortfeld ‚Farbe‘, aber hier als pars pro toto in erster Linie zum Wortfeld Leben – Tod.

Die Analogie zwischen Metapher und Übersetzung besteht nun darin, dass der Begriff der Zielsprache denjenigen der Quellsprache nicht einfach ersetzt, sondern dass aus der Differenz der beiden (daher auch die Notwendigkeit einer zweisprachigen Ausgabe) ein metaphorischer Prozess in Gang gesetzt wird, bei dem der Leser die Bedeutung erst annäherungsweise ermitteln muss; – ein Prozess, der grundsätzlich unabschließbar ist und unterschiedliche, wenn auch keine beliebigen Übersetzungen rechtfertigt.

La métaphore, chez Celan, a un ‘trait phénoménal’ [s. o. das „Wahrgenommene und Wahrzunehmende“]. Le poète semble suggérer que le caractère phénoménal des mots du poème (leur quête de phénoménalité) est la meilleure réponse à la question de savoir s’il existe un ‘lieu propre’ du poème. […] L’essentiel est dans la recherche d’un au-delà par le poème et non pas dans le comblement de cette quête (surtout pas par une critique externe [etwa eine biographistische] au poème). […] il insiste sur la séparation définitive des langues. Comme pour la métaphore, aucune passerelle ne mène d’une langue à l’autre, le lecteur doit prendre le risque de sauter : « du mußt dich zum Sprung entschließen ». (149)

Eine ähnliche Rolle wie die Metapher spielt laut Dueck (Kap. 1.2) das Zitat. Ein besonders eindrückliches Beispiel für die Art, wie Celan das Zitat zu einer Art metaphorischem Prozess nutzt, indem er nicht nur die Seite des Zeicheninhalts, sondern auch die des Zeichenkörpers durcharbeitet, um so neuen Sinn zu generieren, bietet das Gedicht „huhediblu“ aus der „Niemandsrose“ (108–12). Bei diesem Zitat interagieren nicht lediglich zwei ursprünglich semantisch inkompatible Begriffe (von denen der eine oft gar nicht ‚auf den Begriff gebracht‘ ist noch gebracht werden kann) und ihre Bedeutungsbereiche miteinander, sondern zwei unvereinbare Vorstellungen von Dichtung, diejenige Verlaines und diejenige Celans. Für Verlaine steht als pars pro toto ein schon vom jungen Celan übersetzter Vers aus dem „Sagesse“-Gedicht „L’espoir luit comme un brin de paille dans l’étable“ („Ah, quand refleuriront les roses de septembre!“ in der schon bezeichnend veränderten Übersetzung Celans: „Wann blühen wieder die Septemberrosen?“), aus dessen semantischem und lautlichem Material Celan nicht nur eine ganze Strophe, sondern das ganze Gedicht entwickelt.9

Wann,
wann blühen, wann,
wann blühen die, hühendiblü,
huhediblu, ja sie, die September-
rosen?

Dueck arbeitet im Hauptteil ihrer Arbeit sehr sorgfältig und im Detail die Geschichte der Übersetzungen ins Französische und jeweils die implizite (und teilweise auch explizite) Poetik heraus, die hinter den Übersetzungen der verschiedenen Autoren steht. Ihre Analyse der konkreten Übersetzungen wird von folgenden methodischen Voraussetzungen geleitet:

…] la traduction poétique n’est pas considérée comme une interprétation (herméneutique) du texte source. Elle peut plutôt être définie […] comme une lecture poétique en correspondance et en interaction créative avec l’œuvre source. Par conséquent, l’analyse n’étudie pas si le traducteur ‘a bien compris’ le texte source, mais elle cherche à mettre en relief de quelle manière la correspondance ‘texte source – texte cible’ est mise en œuvre par la traduction. […] Elle n’établit donc des liens de causalité ni entre la personne historique de l’auteur et son œuvre, ni entre la personne historique du traducteur et la traduction. Cette étude ne prétend identifier ni le ‘vrai sens’ des poèmes celaniens, ni la valeur définitive d’une traduction. Elle suppose, au contraire, que chaque texte échappe à la volonté de son auteur, de son traducteur et de son critique, ou, en tout cas, qu’il les dépasse largement. (158–9)

Celan lehnt selbst einen äußerlichen Bezug auf die Biographie ab, „Tout cela [Leben etc.] se trouve dans les poèmes […] et ce qui ne s’y trouve pas n’est pas essentiel“ (163, Anm. 3), was jedoch nicht heißt, dass seine Gedichte nicht „wirklichkeitswund“ wären. Zu welchen Schwierigkeiten das führt, mag die Diskussion über die Kritik Meschonnics an der Übersetzung des ersten Worts im Gedicht „Engführung“ von Jean Daive zeigen (154ff.):

verbracht ins
Gelände
Mit der untrüglichen Spur Dé-
porté dans
l’étendue
à la trace sans faille

Meschonnic tadelt Daive („défiguration-censure“) wegen der Übersetzung von „Verbracht“ mit „Dé- | porté“, die angeblich das Wesentliche verfehle, nämlich den direkten Hinweis auf die Shoah zu vermeiden und dennoch einen Bezug zum historischen Kontext aufrecht zu erhalten. Dueck weist mit Recht darauf hin, dass Daive im Gegenteil durch die ungewöhnliche Teilung und rhythmische Trennung des Wortes auf zwei Zeilen dieses Ziel erreiche, die Etymologie des Wortes parallel zur deutschen betone und dadurch zur Bedeutungserweiterung beitrage.

Das Grundproblem allerdings bleibt, dass man ein Wort nicht ohne eine genaue Kenntnis des Bedeutungsspektrums zur Zeit der Abfassung des Gedichtes übersetzen kann. Celan hat das Wort ‚deportiert‘ nicht vermieden, um den Bezug zum historischen Phänomen und gleichzeitig zur Biographie zu verunklaren, sondern um die Bedeutung zu intensivieren und zu erweitern, da in ‚verbracht‘ nicht nur die denotative Bedeutung von ‚deportiert‘ aufgehoben ist, sondern im Sinne von ‚jmd. hinwegschaffen‘ (‚in eine Strafanstalt, ein Irrenhaus verbringen‘) das bürokratisch Menschenverachtende mitschwingt, das den Menschen in die Nähe einer Sache rückt, und die damit verbundene, ideologisch begründete Fremdwörtervermeidung im Dritten Reich. (Was daran „euphemistisch“ sein soll, wie B.Wiedemann in ihrem Kommentar meint, ist nicht einsichtig.) Außerdem hat das Wort verbracht noch lautliche Vorteile: Die Vorsilbe ‚ver-‘ (wie in vernichten, verreißen, verprügeln etc.) ist zerstörerischer als das eher räumliche ‚de-‘, von den harten Konsonantenfügungen des gewählten Partizips /rbr/ und /cht/ einmal ganz abgesehen. Nicht zu vergessen ist die paronomastische Nähe von verbracht zu Verbrechen und zu [es ist] vollbracht aus dem Kontext der Passion Christi.

Das konkrete Beispiel zeigt allerdings auch, dass eine Übersetzung in den meisten Fällen nicht um eine Vereindeutigung (wenn auch hier gemildert durch die Worttrennung in zwei Zeilen) herumkommt und damit wesentliche Nuancen des Originaltextes verfehlen muss.

Im Zentrums der Untersuchung (Kap. III; 161–432) stehen die ‚poetischen‘ Übersetzungen du Bouchets, die ohne jeglichen Kommentar auskommen und das Wesentliche der Celanschen wie der eigenen Dichtung in der „étrangeté innée de la langue maternelle“ (186) sehen, die einen bestimmten Kontext bevorzugende ‚lecture juive‘ (Broda, Meschonnic, Jackson) und die ‚philologischen‘ Übersetzungen Lefebvres. Hierbei kommt Dueck angesichts der analysierten Übersetzungen (zumindest implizit) nicht umhin, auch die ihrer Meinung nach den Celan-Gedichten und auch den Übersetzungen eher äußerlichen Gesichtspunkte mit einzubeziehen, die sie in ihre methodischen Grundsätzen (o.) eigentlich ausgeschlossen hatte.

Du Bouchet sieht in Celan einen Geistesverwandten, dessen Meridian-Rede er zu einer Art poetologischem Manifest der Dichter um die Zeitschrift L’Èphémère erwählt. Die Sammlung Strette (1971) (gemeinsam von du Bouchet, Jean-Pierre Burgart, Jean Daive, John E. Jackson übersetzt) stellt Celan nicht als einen ausländischen Autor vor, „mais comme un poète contemporain de langue allemande de première importance pour la poésie française“ (227–9). Die freundschaftliche Zusammenarbeit und die Übereinstimmung in grundsätzlichen Fragen der Poesie führt dazu, dass Celan nur sehr vorsichtig, wenn überhaupt korrigierend eingreift. Dueck (231) formuliert das euphemistisch: „[…] Celan accorde la priorité au caractère poétique [!] de la traduction prévalant même sur les capacités linguistiques de son traducteur.“ Dennoch lässt sich im Werk der beiden Dichter eine unterschiedliche Akzentsetzung beobachten:

En généralisant outre mesure, on peut dire que la poésie de Du Bouchet se focalise sur les cassures, cherche à montrer des ‘trous’, des ‘brisures’ de la langue, tandis que la poésie de Celan conçoit les différentes significations et formes morphologiques et syntagmatiques comme des couches qui se superposent, se pénètrent, se voisinent, c’est-à-dire qu’elle semble mettre l’accent sur les liens (même utopiques et éphémères). (238)

Während Du Bouchet und seine Mitübersetzer in Strette auf jegliche zusätzliche Information über den Dichter Celan verzichten (keine Biographie, keine Einleitung, keine Anmerkungen etc.), um so die Einzigartigkeit des Gedichts und die Ablehnung jeglicher biographischer oder genetischer Interpretation zu unterstreichen (174), steht Jean-Pierre Lefebvre am anderen Ende des Übersetzungsspektrums. Er liefert dem Leser in und um seine kommentierten Übersetzungen einen ausführlichen Peritext („tous les liens entre la poésie et le ‚monde extérieur‘“) wie auch die notwendigen Intertexte, die es ihm erlauben, den ganzen Reichtum der Originale und ihrer „poésie de recherche“ auszuloten (221). Diese philologische Detailversessenheit nennt Dueck „demokratisch“, da sie dem Leser alle notwendigen lexikalischen, historischen und biographischen Fakten an die Hand gibt, die es ihm erlauben, einen Zugang zu den Gedichten zu finden, wenn sie auch letztlich den Eindruck gewinn, dass angesichts des Umfangs der zusätzlichen Informationen das Wie und das Warum ihrer textuellen Verarbeitung etwas zu kurz kommt (208).

Die Dissertation ist nicht nur aufschlussreich für die Geschichte der französischen Lyrik der Nachkriegszeit, sondern sie bietet auf dem ‚Umweg‘ (der letztlich gar kein Umweg ist) über die französischen Lektüren und Übersetzungen einen privilegierten Zugang zu Celans Werk sowie zur Dichtungs- und Übersetzungstheorie allgemein.10


  1. Dueck (93) zitiert Deleuze „Ce que fait la littérature dans la langue apparaît mieux : comme dit Proust, elle y trace précisément une sorte de langue étrangère, qui n’est pas une autre langue, ni un patois retrouvé, mais un devenir-autre de la langue, une minorisation de cette langue majeure, un délire qui l’emporte, une ligne de sorcière qui s’échappe au système dominant.“ Gilles Deleuze, Critique et clinique (Paris: Minuit, 1993), 15. Aus der Eigenheit, dass der ‚Tenor‘ der Celan’schen – wie der meisten zeitgenössischen Metaphern/,Bilder – meist nicht sprachlich ausformuliert ist, sondern aus dem Vehikel erschlossen werden muss, folgt die vielbesprochene Dunkelheit der Poesie, vgl. dazu Paul Celan, Der Meridian, Endfassung – Entwürfe – Materialien, Werke, Tübinger Ausgabe, hrsg. von Bernhard Böschenstein und Heino Schmull (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999), § 27, 7, 30–1, 140.

  2. „Il faut être académicien, – plus mort qu’un fossile, – pour parfaire un dictionnaire, de quelque langue que ce soit.“ Arthur Rimbaud, lettre du 15 mai 1871 à Paul Demeny, Œuvres complètes, éd. par André Guyaux, Bibliothèque de la Pléiade 68 (Paris: Gallimard, 2009), 346.

  3. Dabei bleibt noch außer Acht, dass Celan in mehreren Sprachen zuhause war und selbst in seinen Gedichten einzelne Wörter, Syntagmen, ganze Zitate und komplexe Denkfiguren aus mehreren Sprachen, neben dem Französischen etwa aus dem Hebräischen und Russischen auftauchen oder auch nur anklingen.

  4. Ähnliches versucht auch der Titel Gegenübersetzungen von Ute Harbusch (Göttingen: Wallstein 2005), der sich auf Celans Übertragungen französischer Symbolisten bezieht.

  5. Paul Ricœur, La métaphore vive (Paris: Seuil, 1975).

  6. Dueck verweist in diesem Zusammenhang zwar auf I. A. Richards (The Philosophy of Rhetoric, 1936), doch wäre auch die Vertiefung dieses Gesichtspunkts in P. Ricœurs Werk über die Metapher (La métaphore vive, 1975) erhellend gewesen.

  7. Zitiert von Beda Allemann in seinem Nachwort zu P. Celan, Ausgewählte Gedichte (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1970), 153.

  8. Harald Weinrich, „Semantik der kühnen Metapher“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963): 325–44: „Sie trägt uns nicht in einen ganz anderen Bereich, sondern nur einen kleinen Schritt zu einer anderen Farbe.“ (335)

  9. Vgl. Hermann H. Wetzel, „Verlaine et les poètes de langue allemande“, in Paul Verlaine, hrsg. von Pierre Brunel und André Guyaux, Coll. de la Sorbonne [1996] (Paris: Presses de l’Université Paris-Sorbonne, 2004), 131–49, hier 139–49.

  10. Ihrem Gegenstand Lyrik entsprechend, bei dem es auf jedes noch so kleine Detail ankommt, ist die Arbeit sehr sorgfältig redigiert. Die berühmten Ausnahmen, die die Regel bestätigen, stellt die uneinheitliche Schreibweise des Namens du Bouchet und „un désiderata“ (48) statt ‚desideratum‘ dar.





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