Zwischen patrimoine und sujet

Zu aktuellen Debatten um den Literaturunterricht in Frankreich

Hartmut Duppel

Isabelle de Peretti und Béatrice Ferrier, Hrsg., Enseigner les „classiques“ aujourd’hui: approches critiques et didactique, ThéoCrit 5 (Bruxelles: Peter Lang, 2012), 326 S.

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Die Frage danach, was im Bereich des Literarischen als ‚Klassiker‘ und als ‚klassisch‘ einzustufen ist, wird nicht nur in Bezug auf den Unterricht in regelmäßigen Abständen diskutiert. Der wohl bekannteste Impuls für die Auseinandersetzung mit den als ‚Klassikern‘ bezeichneten Werken ging von Italo Calvinos zu Beginn der 1980er Jahre erschienen Essay Perché leggere i classici1 aus. Auch danach wurde das Thema vielfach aufgegriffen: Der für Aspekte des Literaturunterrichts ausgewiesene Forscher Alain Viala fragte 1993 Qu’est-ce qu’un classique2; der Philosoph Günter Figal stellte kürzlich anlässlich einer Tagung der Graduiertenschule ‚Europäische Klassiken‘ der Universität Münster erneut die so prägnante wie diffizile Frage Warum Klassiker? (2016)3 – das Thema scheint sich je historisch immer wieder neu zu stellen. Die Debatte um das ‚Klassische‘ und die ‚Klassiker‘ einer Kulturgemeinschaft ist – insbesondere im Kontext Frankreichs – eng verbunden mit Fragen nach deren Identität, nach der Vermittlung literarischer Werte und ganz allgemein nach dem Stellenwert, der der Literatur in einer Gesellschaft zukommt. Der 2012 im Peter Lang Verlag von Isabelle de Peretti und Béatrice Ferrier herausgegebene Sammelband Enseigner les „classiques“ aujourd’hui: approches critiques et didactique lotet in literaturwissenschaftlicher Perspektive Dimensionen der ‚classicité‘ und der ‚patrimonialité‘ aus und fokussiert diese Konzepte unter dem Blickwinkel der (hochschul)didaktischen Vermittlung in Frankreich.

„Il ‚tuo‘ classico è quello che non può esserti indifferente e che ti serve per definire te stesso in rapporto e magari in contrasto con lui.“4 – diese Bestimmung von „i classici“, welche Italo Calvino in seinem Essay zu konturieren sucht, verdient in zweifacher Hinsicht Aufmerksamkeit: Zum einen wird der Klassiker hier in einen engen Zusammenhang mit der Person des Lesers und Rezipienten gestellt; zum anderen kann auch jenes Werk zum Klassiker avancieren, mit dessen Inhalten und Formen sich der Leser eben nicht identifiziert, sondern von denen er sich im Gegenteil bewusst abgrenzt. Bemerkenswert ist dieser Definitionsansatz insofern, als er die Rolle des Subjekts des Lesers hervorhebt und die Herausbildung literarischer Klassiker nicht bloß den Mechanismen und Prozessen übergeordneter Institutionen, Wertungen und Kanonisierungen überlässt. Calvino unterstreicht diese besondere, subjektive und individuelle Beziehung zwischen Klassikern und Rezipienten, wenn er festhält: „[…] [N]on si leggono i classici per dovere o per rispetto, ma solo per amore.“5 Diese „Liebe“ zum Klassiker will jedoch entwickelt werden, weshalb Calvino der Institution der Schule eine besondere Rolle beimisst: „[L]a scuola deve farti conoscere bene o male un certo numero di classici tra i quali (o in riferimento ai quali) tu potrai in seguito riconoscere i ‚tuoi‘ classici.“6

Nach wie vor nehmen diese Fragen nicht nur in (literatur- und kultur-) wissenschaftlichen Kontexten, sondern durchaus in der öffentlichen Debatte7 einen breiten Raum ein: Welche literarischen Werke erachtet eine Nation als repräsentativ und für ihr Selbstverständnis konstitutiv? Wie starr oder dynamisch sind die Vorstellungen von einem verbindlichen „Kanon“8? Welche Rolle spielen staatliche und gesellschaftliche Institutionen, insbesondere im Bereich der schulischen und universitären Bildung, bei der Herausbildung solcher Kanones? Und nicht zuletzt: Ist die Annahme eines Kanons und die Rede von ‚Klassikern‘ der Literatur im von Medien geprägten 21. Jahrhundert überhaupt noch gerechtfertigt und sinnvoll?

Der von Isabelle de Peretti und Béatrice Ferrier herausgegebene Sammelband nimmt sich einiger der genannten Fragen an und will „[…] cette épineuse question des ‚classiques‘ à l’école, dans le contexte actuel des prescriptions visant la construction d’une culture commune […]“9 vor dem Hintergrund der aktuellen französischen Bildungsdiskussion ergründen. Dabei widmen sich die Autorinnen und Autoren des ersten Teils Textes classiques et/ou œuvres patrimoniales: définitions et critères (23–61) theoretischen und terminologischen Überlegungen zu den als ‚classiques‘ und ‚patrimoniales‘ bezeichneten Werken. Daran schließen sich mit Processus de classicisation et évolution des réceptions (65–142) Ausführungen an, die dem 1993 erstmals von Alain Viala beschriebenen Prozess der „classicisation“10 auf den Grund gehen und nach Parametern fragen, die für die Herausbildung von Klassikern verantwortlich sind. Die Beiträge im dritten Teil Propositions critiques et didactiques (145–285) untersuchen direkte Auswirkungen der Klassiker-Debatte auf den schulischen und universitären Unterricht und schlagen mitunter konkrete didaktische Überlegungen zum Umgang mit Klassikern in Schule und Universität vor. Hilfreich für den Überblick ist, dass die Ergebnisse der Untersuchung am Ende des Bandes in Bilan et perspectives: Regards croisés (289–304) nochmals gebündelt werden. Zusammen mit der den Sammelband abschließenden sehr ausführlichen Bibliographie (305–18) runden sie das Projekt der Untersuchung „Enseigner les classiques aujourd’hui“ ab. Das Ergebnis ist eine Basis, die eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema fundieren kann, dies nicht nur für Wissenschaftler(innen), sondern – und vielleicht insbesondere – auch für Lehrende an Grund- und weiterführenden Schulen. Die Anführungszeichen im Titel des Bandes deuten es bereits an: Der Terminus ‚Klassiker‘ ist nur mit Vorsicht zu verwenden, erklärende Ausführungen in einer Fußnote drängen sich auf, da zu viele Bedeutungsebenen aufgerufen werden. So bestimmen die ersten beiden Aufsätze den Terminus definitorisch und grenzen ihn ab vom konkurrierenden, in der aktuellen Bildungsdebatte in Frankreich verwendeten Begriff ‚œuvre patrimoniale‘.

In Anlehnung an den genannten Aufsatz Vialas fragt Violaine Houdart-Mérot: „Qu’est-ce qu’un classique? Qu’est-ce qu’une œuvre patrimoniale?“ (23). Anhand begriffsgeschichtlicher Betrachtungen zum Klassischen, die sie in sechs Definitionsansätzen präsentiert,11 arbeitet Houdart-Mérot dessen verschiedene Bedeutungen heraus und kommt zu dem Ergebnis:

[…] que la notion de classique n’est pas stable, qu’elle se déplace lentement de l’écrivain gréco-romain à l’écrivain de la fin du xviie siècle, pour s’étendre aux différents siècles et devenir une notion ahistorique. (29)

Der Beitrag verdeutlicht dank dem diachronen Vorgehen die Heterogenität, ja gar Widersprüchlichkeit12 nicht nur des Begriffs, sondern auch des Konzepts des Klassischen und zeichnet den Weg nach, den der Terminus genommen hat, bevor er jene (scheinbar) überzeitliche Bedeutung vom ‚Idealtypischen‘ und ‚Exemplarischen‘ erhielt, die heute das Reden vom Klassischen bestimmt und die in Überblicksartikeln zum Thema eingeht.13 Den Begriff des ‚Klassischen‘ sieht Houdart-Mérot in Konkurrenz zu Termini wie dem ‚œuvre patrimoniale‘, dem sie sich im Weiteren widmet.14 Sie zeigt anhand der Analyse des teils widersprüchlichen Gebrauchs in den französischen Lehrplänen der Gegenwart, dass man diesem Konzept heute nicht mehr gerecht werden kann, wenn man es in einem streng nationalen Kontext sieht; vielmehr gilt es, dessen internationale Dimension stark zu machen, und darunter die bedeutenden Werke der Weltliteratur zu fassen.15 Ohne sich letztlich auf einen bestimmten Begriff festzulegen, unterstreicht sie in ihren abschließenden Bemerkungen, worauf es ihr ankommt: „Quel que soit le terme retenu, la question est bien celle des œuvres qu’il importe d’introduire en priorité à l’école d’une part et à l’université d’autre part.“ (35) Damit benennt sie die Institutionen der Schule(n) und Universität(en) als jene Orte, denen (auch dem Verständnis Italo Calvinos folgend) die Aufgabe zukommt, die Lernenden mit einem Angebot literarischer Vorbilder zu konfrontieren. Abschließend werden vier Kriterien abgeleitet, die ein Werk auszeichnen, welches das „[…] label d’œuvre ‚de premier ordre‘, dont chaque élève doit ‚hériter‘“ (35) verdient. Zum einen seien das solche Werke, die am häufigsten umgeschrieben und übersetzt würden („critère ‚objectif‘“, 35), zum anderen solche, die durch ihre Vieldeutigkeit („les œuvres les plus polysémiques“, 35) eine große Interpretationsfreiheit zuließen („critère ‚subjectif‘“, 35). Sodann seien es Texte, die durch die Erneuerung der Formen auch eine Erneuerung der Sicht auf die Welt erlaubten („critère proustien“, 35). Schließlich kommt sie auf das Klassikverständnis des 17. Jahrhunderts zurück und weist solchen Werken einen besonderen Stellenwert zu, die modellhaft nachgeahmt werden („critère rhétorique“, 36).16

Auch Brigitte Louichon17 entwickelt ausgehend von den Fragen „Existe-t-il des critères de la ‚patrimonialité‘ d’une œuvre?“ und „Et s’ils existent sont-ils totalement subjectifs?“ eine Reihe von Kriterien, die einen „[…] discours sur la littérature plus objectivé […]“ (48) erlauben sollen. Als Grundvoraussetzung nimmt sie an, dass es bei einem als Klassiker18 bezeichneten Werk stets zu einer Verschränkung zweier Zeitebenen komme, denn das so beschriebene Werk sei „production passée“ und „réception présente“ (41) gleichermaßen. Sie räumt der Schule ebenfalls eine zentrale Rolle ein, denn : „[l]’école […] est une grande productrice de patrimoine puisqu’elle rend, quotidiennement, le passé présent.“ (45–6) Interessant wird die Thesenführung Louichons insbesondere dort, wo sie Mechanismen beschreibt – sie spricht von „objets discursifs secondaires“ –, die sie als „preuves“ der „patrimonialité“ (41) ausweist. Demnach handelt es sich bei einem œuvre patrimoniale um ein Werk, das ständig an verschiedene Kontexte angepasst wird (Kap. „Le texte génère des adaptions“, 41–2), das vielfach umgeschrieben wird („Le texte génère des hypertextes“, 42), über das in zahlreichen gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Zusammenhängen gesprochen wird („Le texte génère des métatextes“, 42–3) und auf das in der Literatur der Gegenwart häufig angespielt wird („Le texte génère des allusions“, 43–4). Die von Louichon avancierte These, wonach ein œuvre patrimoniale als „passé présent“ zu definieren sei, wird in den vier hier skizzierten Mechanismen in der Tat greifbar. Auf einer deskriptiven Ebene kann die Autorin so plausibel nachweisen, welche Werke zu einer als ‚Klassiker‘ zusammengefassten Gruppe an Texten zählen können.

Die Artikel der zweiten Sektion des Sammelbandes beziehen sich auf den von Alain Viala bereits 1993 geprägten Begriff der „classicisation“, die er als „[…] le résultat de processus de réception par l’institution littéraire […]“ begreift und diesen Prozess wiederum als „ […] générateurs d’effets différentiels […]“19. Als bedeutendsten effet différentiel erachtet Viala – der ganz auf der Linie Pierre Bourdieus argumentiert20 – das Konzept der „concentration institutionnelle“: „La différenciation-clef se joue entre les œuvres et les auteurs qui bénéficient de fortes concentrations institutionnelles, ceux qui en ont moins, et ceux qui n’en ont guère, ou point.“21 Institutionen einer solchen Konzentration sind nach Viala die Schule, das Verlagswesen sowie – falls es sich um Dramentexte handelt – das Theater.22

Emmanuel Fraisse nimmt in seinem Artikel die Institution der Universität kritisch in den Blick: Er beleuchtet die hohe Bedeutung, die den Vorbereitungslisten der concours nationaux, insbesondere der agrégation littéraire, bei der Herausbildung oder vielmehr Aufrechterhaltung eines (klassischen) Kanons zukommt: „[…] [L]a mise en place des programmes d’agrégation, et donc des listes d’auteurs et d’œuvres à étudier a joué, et continue à jouer un rôle décisif dans la définition de ce canon. Car, bien qu’ayant rarement de rapport direct avec la recherche, le rayonnement des programmes des œuvres retenues est considérable.“ (70). Seine Analyse der Vorbereitungslisten der agrégation littéraire von 1956 bis 2010 ergibt eine „[…] remarquable stabilité d’ensemble dans les choix des œuvres, et sauf pour le xxe siècle, une très grande concentration des auteurs“. So konnte er beispielsweise für das 18. Jahrhundert zeigen, dass Diderot, Rousseau, Marivaux, Voltaire und Beaumarchais gut 80 % der Autoren abdeckten, die es für die agrégation zwischen 1956 und 2010 vorzubereiten galt.23 Es sind vor allem drei Dinge, die Emmanuel Fraisse an den Programmen der agrégations littéraires kritisiert und die freilich auch nicht zu unterschätzende Auswirkungen auf den Literaturunterricht in der Sekundarstufe haben. Zum einen merkt er an, dass es nicht sinnvoll erscheint, an einer „égalité des genres et surtout des siècles“ (72) weiter festzuhalten; die Jahrhunderte und die großen Gattungen sind in den Programmen immer gleichermaßen repräsentiert. Fraisse argumentiert, diese gleichmäßige Verteilung von Jahrhunderten und Gattungen sei aus einer literaturhistorischen Perspektive unter anderem deshalb nur schwer haltbar, da es durchaus legitim sei, wenn die verschiedenen Gattungen in den Jahrhunderten jeweils unterschiedlich stark vertreten sind. Er kritisiert zum anderen den statischen und wenig dynamischen Charakter der von ihm untersuchten Programme: Neue Autoren und Gattungen werden nur sehr zögerlich in das Korpus der Vorbereitungslisten integriert. Schließlich gibt er zu bedenken – darauf wies Alain Viala bereits 1993hin24 –, dass die frankophone Literatur außerhalb Frankreichs nur sehr zögerlich berücksichtigt werde:

[…] [L]es nouveaux continents ont bien du mal à émerger: la francophonie n’existe pas et seul Senghor (de l’Académie française il est vrai) a jusqu’ici forcé les portes du programme commun des agrégations littéraires […]. La littérature française est restée la littérature des français et n’est jamais devenue la littérature en français […]. (73)

In vier weiteren Artikeln gehen die Autor/innen dem Prozess der ‚classicisation‘ im Kontext des Literaturunterrichts an weiterführenden Schulen auf den Grund. Methodisch handelt es sich dabei in allen Fällen um Lehrwerkanalysen und ausgewertete Befragungen von Lehrenden und Lernenden. Vor dem Hintergrund der Kanon-Theorie ließen sich diese Ansätze und Untersuchungen – ohne dass dies explizit problematisiert würde – unter Stichworten wie ‚Kanondynamik‘ und ‚Kanonpluralität‘ zusammenfassen.25 Gefragt wird immer wieder nach der Starrheit sowie nach Tendenzen der Öffnung von Kanones,26 anhand ausgewählter Beispiele wird der Wandel der Einschätzung bestimmter literarischer Werke vor Augen geführt. Exemplarisch sei die Studie Nathalie Denizots genannt, die auf der Basis eines umfangreichen Korpus an Schulbuchtexten und Lehrerbefragungen27 untersucht, welche Werke die Gattung der Autobiographie im Literaturunterricht der weiterführenden Schulen in Frankreich repräsentieren. Denizot kann zeigen, dass im Bereich der Autobiographie, die erst seit den 1970er Jahren in der Folge der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dieser Gattung, insbesondere durch die Arbeiten Philippe Lejeunes, Einzug in die Schulbücher erhielt, trotz einer starken „présence de classiques“ (104) durchaus immer wieder ein „élargissement du corpus“ (103) auszumachen sei.28 Insbesondere hebt sie die kanonisierende Wirkung des Arbeitens mit „morceaux choisis“ (109) hervor. Da die Autobiographien aufgrund ihres Umfangs selten als Ganzschriften zu lesen sind, kommt diesen Auszügen eine zentrale Rolle bei der Herausbildung eines Schulkanons zu. Zu beobachten ist – und erst dies garantiert die ‚classicisation‘ in Vialas Verwendung –, dass von einem Werk immer wieder dieselben Auszüge in den Schulbüchern zitiert werden und dass die Autobiographien gewissermaßen ausschließlich über diese Auszüge rezipiert und dadurch in den Rang von Klassikern erhoben werden.

Im Abschnitt „Propositions critiques et didactiques“ werden die Betrachtungen zum Klassischen und zum Klassiker schließlich praxisorientiert: Wie ist mit den als ‚classiques‘ oder ‚œuvres patrimoniales‘ bezeichneten Werken konkret in Lehr-Lern-Situationen umzugehen? Im Fokus stehen dabei das pädagogische Handeln im Primär- und Sekundarstufenunterricht sowie die Möglichkeiten des Umgangs mit Klassikern in der Lehrerausbildung. Alle in diesem Sammelband präsentierten und diskutierten didaktischen Entwürfe werden von der Frage geleitet, welches Potential die Lektüre der als ‚Klassiker‘ definierten Werke für die Schüler/innen von heute birgt. Als die große Herausforderung wird dabei die Aufgabe benannt, die didaktischen Voraussetzungen auszuloten, derer es bedarf, um bei den Schüler/innen des beginnenden 21. Jahrhunderts eine sinnergreifende Lektüre der Klassiker anzubahnen. Grob sind die versammelten elf Beiträge zwei Ansätzen zuzuordnen: Transformation der Textgrundlage des ‚Klassikers‘ einerseits und didaktische Überlegungen zum Umgang mit den Originaltexten andererseits.

Marie-Manuelle Da Silva und Sylviane Ahr präsentieren Möglichkeiten der Veränderung von Originaltexten, um diese den Lernern von heute näherzubringen. Marie-Manuella Da Silva untersucht die didaktische Vermittlung eines Klassikers – Flauberts Madame Bovary – ausgehend von Adaptionen und Überarbeitungen des Originaltextes. In ihrem Ansatz widmet sie sich Formen der „réécriture“ (185) und der „transécriture“ (185), wobei unter ersterem literarische Umschreibungen des Originaltextes, beispielsweise in der Form anderer Romane, verstanden werden und im Falle der transécriture der Fokus auf einen transmedialen Ansatz gelegt wird, bei dem in erster Linie „[…] la migration d’un medium, en l’occurence le livre, vers un autre medium“ (185), also die mediale Verarbeitung der textuellen Vorlage zum Beispiel in Filmen und Kurzfilmen, anvisiert wird. Da Silva geht es in ihrem Beitrag weniger um den konkreten didaktischen Einsatz der von ihr vorgestellten Bovary-Adaptionen als vielmehr darum, im Anschluss an die Präsentation ihres Korpus offene Fragen an die Forschung zu formulieren – dies jedoch weniger im Bereich der didaktischen Anwendung, worin sie den Nutzen ihres Ansatzes für den Schulunterricht verdeutlichen hätte können, als vielmehr unter dem Aspekt der Transmedialität.

Sylviane Ahr lotet Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Comics im Literaturunterricht aus, die thematisch auf der Textgrundlage von Klassikern basieren. Ausgehend von der bereits im Titel formulierten Frage Les classiques en bandes dessinées: sacrilège ou tremplin? entwirft sie ein breites Panorama des in Frankreich ausgeprägten Marktes an Editionen, die sich auf Klassikeradaptionen im Comic-Bereich spezialisieren, und kommt zu dem überzeugenden Ergebnis, dass eine einfache und allgemeingültige Antwort auf diese Frage nicht zu geben sei, denn „[…] la surenchère toute récente d’adaptions de classiques en bandes dessinées invite à considérer cette nouvelle manne éditoriale avec vigilance.“ (208) Aus didaktischer Sicht biete sich die Arbeit mit solchen Comic-Adaptionen zum einen deshalb an, da sie „la littérature patrimoniale“ den „pratiques culturelles adolescentes“ (208) anzunäheren vermögen; zum anderen erlaube dieser Rückgriff auf Comics auch „[…] de travailler le principe d’intertextualité qui caractérise la création littéraire […]“ (208). Die Autorin macht jedoch auch darauf aufmerksam, dass ein didaktischer Nutzen aus der Verwendung dieser Klassiker-Adaptionen in Comic-Form nur dann zu ziehen sei, wenn sich die Lehrenden der spezifischen Beziehung zwischen (klassischem) Ausgangswerk und Comic-Version bewusst seien und über das nötige analytische Rüstzeug – auch auf dem Gebiet der Comic-Analyse – verfügten.

Didaktische Ideen zum Einsatz von Originaltexten im Unterricht stehen in den weiteren Beiträgen im Mittelpunkt, die hier nicht einzeln besprochen werden können. Unter anderem geht es um Möglichkeiten, auch anspruchsvolle literarische Texte bereits in der Grundschule einzusetzen,29 um Ansätze, Schülerinnen und Schüler an das „dénouement théâtrale“ heranzuführen,30 und um die didaktische Bedeutung des „carnet de lecture“,31 das in Deutschland unter dem Begriff des „Lesetagebuchs“ mittlerweile fester Bestandteil des Literaturunterrichts verschiedener Klassenstufen ist.32 Dass auch das Unterrichten von Literaturgeschichte an weiterführenden Schulen seine Berechtigung hat, zeigt Laetitia Perret-Truchot, die insbesondere auf die Bedeutung dieses literaturhistorischen Wissens als „cadre interprétatif“ (150) bei der Lektüre der als Klassiker definierten Werke abhebt.33

Die Ergebnisse des Bandes werden in zwei abschließenden Beiträgen zusammengefasst. Jean-Louis Dufays bietet aus der Perspektive des Literaturdidaktikers eine Synthese der im Sammelband aufgeworfenen Fragen und verhandelten Ansätze. Die Gliederung seiner Ausführungen in die beiden großen Abschnitte „Questions pour la recherche“ (297–300) und „Questions pour la formation et l’enseignement“ (300–3) verdeutlicht nochmals das zentrale Anliegen des Bandes, Fragen nach didaktischen Herangehensweisen an die Klassiker-Vermittlung stets in enger Verzahnung mit literaturwissenschaftlichen Betrachtungen zu erörtern.

Jacques Crinon wirft schließlich einen resümierenden Blick auf den Sammelband nicht aus der Sicht des Literaturdidaktikers, sondern aus jener des Erziehungswissenschaftlers. Seine Ausführungen vervollständigen den reichhaltigen Band insofern, als er drei Aspekte benennt, die seiner Meinung nach im Rahmen der Tagung und des Sammelbandes nicht (ausreichend) beleuchtet wurden: Zum einen vermisst er eingehende Analysen offizieller und ministerieller Vorgaben in Bezug auf die Klassikerdebatte, insbesondere die Fragen, die mit dem „socle commun“ (294) und der „formulation des programmes actuels en terme de compétences“ (294) in Verbindung stehen. Zum anderen hätte er sich eine ausführlichere Berücksichtigung der Rolle der Lehrerausbildung gewünscht, denn – so formuliert er implizit ein Desiderat für die zukünftige Forschung – „[o]n a peu de descriptions et d’enquêtes sur les pratiques réelles de formation d’enseignants.“ (294) Drittens regt er an, die Lerner mehr in den Fokus der Untersuchungen zu rücken und genau herauszuarbeiten, woran die Lektüre der als Klassiker bezeichnenden Werke bei den Schülern scheitert.

Der Sammelband führt eindrücklich vor Augen, dass die Frage nach dem ‚Klassischen‘ und den ‚Klassikern‘ auch 35 Jahre nach der von Italo Calvino in seinem Essay Perché leggere i classici aufgeworfenen Klassiker-Debatte aktuell bleibt. Der Band der Herausgeberinnen de Peretti und Ferrier bietet sowohl feine terminologische Differenzierungen bei der theoretischen Absteckung dessen, was als ‚Klassiker‘ aufgefasst wird, beleuchtet die mit der Frage nach dem Klassischen verbundenen didaktischen Diskurse in einer diachronen Perspektive und gibt konkrete Handlungsanweisungen für Lehrende an Schulen und Universitäten für den Umgang mit ‚Klassikern‘. Dass er darüber hinaus zu weiteren Reflexionen über das Thema – auch in einer vergleichenden Perspektive zwischen Deutschland und Frankreich – einlädt, soll abschließend anhand von drei Bemerkungen angedeutet werden.

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Beim Gang durch die Beiträge fällt auf, dass erstens das Sprechen über Klassiker in der französischen Bildungsdebatte weniger von der sogenannten Kompetenzorientierung bestimmt zu sein scheint, als dies in Deutschland der Fall ist. Zwar wird von offizieller Seite auch in Frankreich die Kompetenzausrichtung forciert, lediglich wenige Beiträge beziehen sich in ihren Ausführungen und didaktischen Entwürfen jedoch darauf. Mit einem Gesetz aus dem Jahr 2005 definiert die französische Regierung den sogenannten „socle commun de connaissances et de compétences“, der – so ist auf der offiziellen Homepage der Éducation Nationale zu lesen – bestimmt wird als „l’ensemble des connaissances, compétences, valeurs et attitudes nécessaires pour réussir sa scolarité, sa vie d’individu et de futur citoyen.“34 Von den sieben festgelegten Kompetenzbereichen interessiert hier insbesondere die „culture humaniste“, über die einleitend festgehalten wird, dass sie zur „[…] formation du jugement, du goût et de la sensibilité […]“ beiträgt und erlaubt, Kenntnisse „en littérature et en arts (les grandes œuvres)“ zu erwerben.35 Mit dem Verweis auf „les grandes œuvres“ wird der Bogen zur Klassikerdebatte geschlagen. Die Beiträge des Sammelbandes haben hinreichend ergründet, was unter der mit „les grandes œuvres“ umschriebenen Textgruppe zu verstehen ist, haben die Terminologie und auch das Konzept problematisiert, haben gezeigt, wie flexibel diese Kategorie gefasst werden kann und welche didaktischen Möglichkeiten sich im Umgang mit ‚Klassikern‘ ergeben. Unbeantwortet blieb aber weitgehend die Frage danach, welche konkreten methodischen Kompetenzen Lernende im Umgang mit (‚klassischer‘) Literatur entwickeln müssen.

Untersucht man zweitens den Band im Hinblick auf das Stichwort ‚Kanondynamik‘, so ergibt sich ein zweigeteiltes Bild: Während die Beiträge im zweiten Teil unter der Rubrik Processus de classicisation et évolution des réceptions die Konzeption eines zu starren Kanons anmahnen, daher nach Möglichkeiten der Kanonerweiterung fragen und unter anderem den Einsatz von Kinder- und Jugendliteratur als ‚neue‘ Klassiker im Schulunterricht andenken, fallen die didaktischen Ausführungen im dritten Teil eher ‚traditionell‘ aus. Zwar werden durch den Einsatz von Comics und verschiedenen Formen der réécriture und transécriture neue didaktische Wege im Umgang mit Klassikern aufgezeigt – diese Adaptionen sind inhaltlich und gedanklich jedoch auf die bekannten und anerkannten Klassiker rückbezogen, sie erscheinen gewissermaßen in neuem Gewand. Auch ein Blick auf die Textgrundlagen der übrigen vorgeschlagenen Unterrichtsideen – Racines Phèdre, Flauberts Madame Bovary oder Rimbauds Dormeur du val – spricht eher für eine statisch ausgeprägte Kanonkonzeption. Eng damit in Verbindung steht außerdem, dass die als Klassiker besprochenen Werke auch im Jahr 2012 vornehmlich Repräsentanten einer französischen, hier bewusst verkürzt als „hexagonal“ begriffenen, und weniger einer frankophonen Literatur sind. Die Beiträge bleiben damit in auffälliger Weise hinter der von Emmanuel Fraisse geforderten Öffnung des Kanons auch für französische Texte außerhalb Frankreichs zurück.

Gerade im Bereich der terminologischen Absteckung der als „Klassiker“ konzipierten Werke leisten die Beiträger des Sammelbandes beachtliche Arbeit. Angesichts der Bandbreite der einführend entwickelten Termini fällt dann auf, worauf auch der Bildungswissenschaftler Jacques Crinon in seinen abschließenden Bemerkungen zum Band hinweist, dass in den Aufsätzen überwiegend vom Begriff des ‚œuvre patrimoniale‘ und weniger vom ‚œuvre classique‘ die Rede ist.36 Crinon macht für die Bevorzugung des patrimoine-Konzepts unter anderem den „caractère trop définitif“ oder die „pluralité de sens“ (290) des Klassiker-Begriffs verantwortlich. Mit seinem Hinweis auf die „connotations identitaires“ (290) der patrimonialité gibt er jedoch einen entscheidenden Hinweis auf eine in der Klassiker-Debatte bevorzugte Verwendung des ‚œuvre patrimoniale‘: Die Tagung, deren Beiträge in dem hier besprochenen Band versammelt sind, fand 2009 statt, der Band selbst erschien dann 2012. Damit fällt dessen Entstehung in einen Zeitraum, in dem die Suche nach einer identité nationale nicht nur das politische, sondern auch das intellektuelle Klima Frankreichs bestimmte. Im verstärkten Rückgriff auf ‚œuvre patrimoniale‘ im Kontext der literarischen Bildung äußert sich die Vorstellung, dass die Basis einer gemeinsamen Identität (auch) über einen gemeinsamen literarischen Kanon herzustellen sei.

Dass durch die Verwendung des Begriffs ‚œuvre patrimoniale‘ anstelle von ‚œuvre classique‘ die Frage der Absteckung des Konzepts des ‚Klassischen‘ und des ‚Klassikers‘ von einem Terminus auf den nächsten verschoben wird, liegt auf der Hand – darauf wird auch im Sammelband indirekt hingewiesen.37 Dass das patrimonialité-Konzept im Bereich der Literaturvermittlung darüber hinaus Fragen aufwirft, ist nicht zu übersehen: Zu fragen wäre zunächst, welche ‚Identität‘ im Frankreich des 21. Jahrhundert durch welche literarischen Werke zu festigen ist. In diesem Zusammenhang müsste auch problematisiert werden, was unter ‚patrimoine‘ konkret verstanden wird. Marie-José Fourtanier leitet ihren Beitrag zur literaturdidaktischen Vermittlung von Racines Phèdre mit einigen etymologischen Betrachtungen zum ‚patrimoine‘ ein und weist darauf hin, dass dieser Terminus keineswegs „neutre“ sei:

[…] [L]e terme même de patrimoine n’est pas neutre: le patrimoine, étymologiquement, c’est ce qui vient du Père, ce terme désigne dans le lexique juridique un bien d’héritage qui descend, suivant les lois, des pères à leurs enfants ; par conséquent, considérer des œuvres, parce qu’elles sont patrimoniales, comme modalité de la construction de soi revient à penser qu’on se construit dans une réflexion sur ses origines. Or, au moins depuis Lévi-Strauss, l’anthropologie montre que l’on se construit dans son rapport à l’autre et dans des rapports de frontière. (221–2)

Marie-José Fourtanier bezieht sich auf Claude Lévi-Strauss und problematisiert die Verwendung des Begriffs der patrimonialité insofern, als dadurch die identitäre Konstruktion des Einzelnen in erster Linie in der Auseinandersetzung mit der Generation der (geistigen) ‚Väter‘ gesehen und das Moment des ‚Anderen‘, der Alterität, ausgeklammert wird. Außerdem verweist sie in der Folge darauf, dass ein Werk dadurch, dass es als „patrimoine“ klassifiziert wird, in einen Rang erhoben wird, der den persönlichen Zugang der Rezipienten erschwert:

Il me semble qu’en qualifiant une œuvre de patrimoniale, on la configure comme un document qui témoigne d’une histoire, d’un état de langue, document vénéré sans doute, mais à coup sûr ‚muséifié‘, en évitant encore une fois le rapport du sujet à la littérature. Privilégier dans les œuvres cette dimension commémorative les rend de facto illisibles […]. Illisibles, mais aussi inutiles car donner à des œuvres ou à des textes un statut fondateur en occulte de possibles actualisations, puisque parler d’œuvres patrimoniales revient à en imposer des préfigurations. (222)

Die Argumentation Fourtaniers – die im Übrigen nicht alleine auf den patrimonialité-Gedanken, sondern ebenfalls auf das classique-Konzept anzuwenden wäre – problematisiert in erster Linie, dass durch die Klassifikation eines Werkes als „patrimoniale“ dasselbe als enthoben und dem einzelnen Leser nicht mehr zugänglich deklariert wird. Für Fourtanier spielt die Rolle des Subjekts der Leserin und des Lesers bei Fragen der literarischen Vermittlung eine zentrale Rolle, insbesondere die Beziehung zwischen den Rezipienten und den Werken; eine zu große Distanz zwischen Werk und Leser durch die Zuschreibung des Labels ‚patrimoine‘ sei daher zu vermeiden.

Damit bemüht Marie-José Fourtanier ein Argument, das bereits Italo Calvino 1981 ins Feld führte und das auch in aktuelleren Auseinandersetzungen zu Fragen der Literaturvermittlung lebhaft diskutiert wird. 2007 rief Tzvetan Todorov in seinem bei Flammarion erschienen Essay La littérature en péril38 den Notstand der Literatur aus. Die Ursachen dieser Krise der Literatur, die sich seinen Ausführungen zufolge beispielsweise im mangelnden Interesse der lycéens an der filière littéraire niederschlägt, sieht er in den Schulen und in der Ausbildung der zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer. Seine Kritik zielt insbesondere darauf, dass den zukünftigen Lehrern an den Universitäten und in der Folge dann den Schülern an den collèges und lycées die Literatur als ein enthobener, gewissermaßen sakralisierter Gegenstand präsentiert wird, der in keiner Beziehung zum Rezipienten zu stehen scheint:

[…] [O]n représente désormais l’œuvre littéraire comme un objet langagier clos, autosuffisant, absolu. En 2006, à l’université française ces généralisations abusives sont toujours présentées comme des postulats sacrés. Sans surprise, les élèves du lycée apprennent le dogme selon lequel la littérature est sans rapport avec le reste du monde et étudient les seules relations des éléments de l’œuvre entre eux. Ce qui, à n’en pas douter, contribue au désintéressement croissant que les élèves manifestent à l’égard de la filière littéraire.39

Todorovs Abrechnung mit den Vermittlungsinstanzen der Literatur kommt leitmotivisch immer wieder darauf zurück, dass es im Literaturunterricht nicht darum gehen solle: „[…] illustrer les concepts que vient d’introduire tel ou tel linguiste, tel ou tel théoricien de la littérature, et donc de nous présenter les textes comme une mise en œuvre de la langue et du discours […]“40. Vielmehr sollte die Literatur vom „[…] corset étouffant dans lequel on l’enferme, fait de jeux formels […]“41 befreit werden, dies durch eine Vermittlung, die den Leser zu einer „connaissance de l’humain“42 führt. Denn auf die von ihm selbst gestellte programmatische Frage „Que peut la littérature“43 findet Todorov die einfache Antwort: „La littérature peut beaucoup.“44 Ziel der Literaturvermittlung soll nicht sein, die Lerner in die Lage zu versetzten, Analysemethoden zu reproduzieren; das angestrebte Ziel – so Todorov in einem stark pathosgeladenen Duktus – ist vielmehr, den Leser in den Zustand eines „connaisseur de l’être humain“ zu versetzten:

L’objet de la littérature étant la condition humaine même, celui qui la lit et la comprend deviendra, non un spécialiste en analyse littéraire, mais un connaisseur de l’être humain. Quelle meilleure introduction à la compréhension des conduites et des passions humaines qu’une immersion dans l’œuvre des grands écrivains […] ? Et, du coup : quelle meilleure préparation à toutes les professions fondées sur les rapports humains ? Si l’on entend ainsi la littérature et si l’on oriente ainsi son enseignement, quelle aide plus précieuse pourrait trouver le futur étudiant en droit ou en sciences politiques, le futur travailleur social ou intervenant en psychothérapie, l’historien ou le sociologue.45

Tzetan Tododrov misst der Literatur und deren Vermittlung eine sehr hohe gesellschaftliche Relevanz zu. Ob der von ihm eher düster gezeichnete Alltag des gegenwärtigen Literaturunterrichts tatsächlich der Realität entspricht, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. Die sehr tiefgreifende und vielseitige Diskussion des Klassiker-Themas im hier besprochenen Sammelband Enseigner les „classiques“ aujourd’hui gibt jedoch Anlass zum Optimismus: Nicht nur zeigen die Beiträge, dass die historisch immer wiederkehrende Frage nach den ‚Klassikern‘ einer Kulturgemeinschaft auch in der aktuellen literaturdidaktischen Forschung Frankreichs eine zentrale Rolle spielt und dass der Literaturunterricht dort durchaus ernst genommen wird. Auch manifestiert sich in zahlreichen Beiträgen ein Problembewusstsein für die schwierig zu klärenden theoretischen Fragen, wie ein ‚klassisches‘ Werk zu definieren ist, welche gesellschaftliche Bedeutung den Bildungsinstitutionen dabei zukommt und wie das Verhältnis zwischen rezipierendem Subjekt und literarischem Werk sinnvoller Weise zu bestimmen ist. Dass die Klassiker-Diskussion in Frankreich darüber hinaus stets mit Fragen nach der Etablierung einer nationalen Identität eng verbunden ist, führt die Lektüre der Beiträge ebenfalls vor Augen. Nicht zuletzt bietet der Band zahlreiche praktische Anregungen für den modernen Literaturunterricht, so dass zu hoffen bleibt, dass die littérature keineswegs – mit Todorov – „en péril“ ist, sondern dass die Lernenden vielmehr Calvinos „amore“ zu den Klassikern entwickeln.


  1. Der am 28.6.1981 erstmals in L’Espresso erschienene Essay wurde 1991 zusammen mit anderen Abhandlungen Italo Calvinos in dem gleichnamigen Sammelband Perché leggere i classici in der Reihe I libri di Italo Calvino bei Arnoldo Mondadori Editore (Milano) veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung von Barbara Kleiner und Susanne Schoop erschien 2003 im Carl Hanser Verlag unter dem Titel Warum Klassiker lesen?.

  2. Vgl. Alain Viala, „Qu’est-ce qu’un classique“, Littératures Classiques 19 (1993): 11–31.

  3. Vgl. Günter Figal, „Warum Klassiker?“, in Klassik als Norm – Norm als Klassik: kultureller Wandel als Suche nach funktionaler Vollendung, hrsg. von Tobias Leuker und Christian Pietsch, Orbis antiquus 48 (Münster: Aschendorff, 2016), 293–304.

  4. Italo Calvino, Perché leggere i classici (Milano: Arnoldo Mondadori Editore, 1991), 16.

  5. Calvino, Perché leggere i classici, 15.

  6. Calvino, Perché leggere i classici, 15.

  7. Man denke an die Polemik, die der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy 2006 auslöste, als er sich öffentlich darüber amüsierte, dass französische Verwaltungsbeamte in ihrem concours zur Princesse de Clèves befragt würden. Als Reaktion auf diese Äußerung versammelte sich das aufgebrachte Volk in den Straßen und rezitierte kollektiv vor symbolischen Orten wie dem Panthéon in Paris den Roman. Vgl. Clarisse Fabre, „Et Nicolas Sarkozy fit la fortune du roman de Mme de La Fayette“, Le Monde, 29. März 2011, 22.

  8. Zum neusten Stand der Forschung im Bereich der Kanontheorie vgl. Gabriele Rippl, Simone Winko (Hrsg.), Handbuch Kanon und Wertung. Theorien, Instanzen, Geschichte (Stuttgart, Weimar: J.B. Metzler, 2013). Aktuelle Tendenzen der Kanonforschung werden aufgezeigt bei Lothar Ehrlich, Judith Schildt, Benjamin Specht (Hrsg.), Die Bildung des Kanons. Textuelle Faktoren – Kulturelle Funktionen – Ethische Praxis. (Köln, Weimar, Wien: Böhlau Verlag, 2007).

  9. Isabelle de Peretti und Béatrice Ferrier, „Introduction“, 11. Der Sammelband geht auf die Tagung Manières de critiquer, manières d’enseigner la littérature: quelles conceptions, quelles places et quelles approches des classiques dans la construction d’une culture commune zurück, die vom 25.–26. November 2009 an der Université d’Artois (Arras) stattfand.

  10. Vgl. Viala, „Qu’est-ce qu’un classique“, 25–7.

  11. Die methodische Nähe zu Calvino, der das Klassische in vierzehn Definitionssätzen absteckt, ist unübersehbar.

  12. Vgl. hierzu: „Le classique oscille en tout cas entre des extrêmes: sens historique/universel; laudatif/dépréciatif; génie français/génie universel; écrivain mort/jeune classique.“ Violaine Houdart-Mérot, „Qu’est-ce qu’un classique? Qu’est-ce qu’une œuvre patrimoniale?“, 29.

  13. Vgl. Theodor Verweyens Eintrag „Klassisch“ im Metzler Lexikon Literatur, insbesondere die Bedeutungen (3) „Idealtypisch, exemplarisch, genuin“, (4) „Kanonisch, überzeitlich gültig“ und (5) „Erstrangig, mustergültig, normsetzend“. Vgl. Theodor Verweyen, „Klassisch“, in Metzler Lexikon Literatur, hrsg. von Dieter Burdorf, Christoph Fasbender und Burkhard Moennighoff (Stuttgart und Weimar: J.B. Metzler, 2007), 386, l. Spalte.

  14. Zusätzlich zu „œuvres classiques“ und „œuvres patrimoniales“ nennt sie „œuvres fondatrices“, „œuvres canoniques“ und „œuvre significatives“ und legt jeweils kurz die Begriffsgeschichte dieser Termini dar. Vgl. Houdart-Mérot, „Qu’est-ce qu’un classique?“, 23–36, hier 34–5.

  15. Sie zieht das Fazit: „Sa connotation patriotique [= de l’œuvre patrimoniale; HD], voire nationaliste a été […] habilement neutralisé ou réduite, à partir du moment où sont associés (dans les discours scolaires) les trois adjectifs: national, européen et mondial, pour contrecarrer l’identification implicite du patrimoine littéraire au seul patrimoine national.“ Houdart-Mérot, „Qu’est-ce qu’un classique?“, 35.

  16. Mit diesem Schlussgedanken lässt Houdart-Mérot den Rezipienten etwas im Dunklen, denn worin genau ist diese Vorbildfunktion zu sehen und wodurch lässt sich dieser angesprochene Modellcharakter eines Werkes operationalisieren?

  17. Brigitte Louichon, „Définir la littérature patrimoniale“, 37–50.

  18. Im Gegensatz zu Violaine Houdart-Mérot verwendet Brigitte Louichon die Termini ‚œuvres classiques‘ und ‚oeuvres patrimoniales‘ weitegehend synonym.

  19. Viala, „Qu’est-ce qu’un classique“, 24.

  20. Ohne explizit auf die Arbeiten Bourdieus zu verweisen, greift Viala insbesondere gegen Ende seines Aufsatzes – im Abschnitt „Tradition et identification“ – auf die Terminologie Bourdieus zurück, wenn er von der „formation des habitus“ („Qu’est-ce qu’un classique“, 27–30) sowie vom „champ littéraire“ („Qu’est-ce qu’un classique“, 31) spricht.

  21. Viala, „Qu’est-ce qu’un classique“, 25.

  22. Vgl. Viala, „Qu’est-ce qu’un classique“, 24.

  23. Vgl. Emmanuel Fraisse, „L’Université face à la notion de ‚classiques‘ littéraires“, 72. Ein ähnlich stabiles Bild ergibt sich für das 16. Jahrhundert, wo zwei Drittel der vorgeschriebenen Werke durch Ronsard, Rabelais, Montaigne, d’Aubigné und Marguerite de Navarre abgedeckt werden. Die genaue Verteilung der Autoren in den programmes des agrégations littéraires zwischen 1956 und 2011 bzw. 2012 listet Emmanuel Fraisse im Anhang seines Artikels auf (76–80). Die große Bedeutung der Prüfung der agrégation auf die Herausbildung und Aufrechterhaltung eines schulischen Literatur-Kanons wird auch an anderer Stelle des Bandes betont. Mathilde Labbé, die in ihrem Aufsatz der Rolle Baudelaires als Repräsentant der Literatur des 19. Jahrhunderts auf den Grund geht, hält fest: „[L’]agrégation modifie le canon en formant le goût des enseignants, en donnant de la publicité à l’œuvre et en incitant les éditeurs à favoriser les publications à ce sujet.“ (131).

  24. Vgl. Vialas Feststellung: „[…] [L]e corpus des classiques vraiment lus en France est, tous les relevés le montrent, très ‚hexagonal‘.“ Viala, „Qu’est-ce qu’un classique“, 29.

  25. Vgl. zu beiden Konzepten Leonhard Herrmann, „Kanondynamik“, in Handbuch Kanon und Wertung: Theorien, Instanzen, Geschichte, hrsg. von Gabriele Rippl u. Simone Winko (Stuttgart und Weimar: Metzler), 103–10.

  26. Insbesondere der Aufsatz von Raimond führt vor Augen, dass die Grenzen des schulischen Literaturkanons auch in Frankreich nicht mehr zu starr gedacht werden können. Die Autorin untersucht, inwiefern die „littérature pour la jeunesse“ im Collège in den Rang von „Klassikern“ erhoben wird. Vgl. Anne-Claire Raimond, „La ‚classicisation‘ de la littérature pour la jeunesse au collège en question“, 113–27.

  27. Unter anderem analysiert sie nahezu alle Textsammlungen, die zwischen 2001 und 2006 für die classe de première in Frankreich erschienen. Ergänzt wird diese Untersuchung durch eine bei Lehrkräften 2006 durchgeführte Umfrage, in der diese zum Beispiel Angaben zu den von ihnen in den Klassen gelesenen Texten und Aufgabenstellungen in Bezug auf die Autobiographie zu machen hatten. Vgl. Nathalie Denizot, „Quels classiques scolaires pour l’autobiographie? Recatégorisation, classicisation et sélection de ‚morceaux choisis‘“, 102.

  28. Zu den „œuvres canoniques et incontestées“ nach Denizot (104) zählen in den Schulbüchern insbesondere Rousseaus Confessions, die Essais von Montaigne, Chateaubriands Mémoires d’outre-tombe sowie – für das 20. Jahrhundert – Nathalie Sarrautes Enfance. Die „nouveaux classiques de l’autobiographie“ (108) entstammen ausnahmslos dem 20. Jahrhundert, wobei in den untersuchten Lehrwerken insbesondere Sartres Les mots und Georges Perecs W ou le souvenir d’enfance die Liste der am häufigsten zitierten autobiographischen Texte anführen.

  29. Françoise Demougin schlägt eine Lektüre von Rimbauds „Dormeur du val“ vor: „Lire un texte patrimonial à l’école primaire: de lectures en lecteurs. L’exemple du ‚Dormeur du val‘ en CM2 (Réseau Ambition Réussite)“, 231–45. Was diesen Beitrag von den anderen des Bandes abhebt, sind die konkreten Unterrichtsvorschläge der Autorin. Außerdem veranschaulicht sie die Ergebnisse ihres Unterrichtsentwurfs durch die Dokumentation einer Schülerarbeit im Anhang zu ihrem Aufsatz.

  30. Catherine Ailloud-Nicolas, „Didactique du dénouement théâtral“, 157–70.

  31. Patrick Joole, „Le carnet de lecture, un outil d’enseignement et de formation“, 259–73.

  32. Aus der Fülle an germanistischer Forschungsliteratur zum „Lesetagebuch“ als Form der Leseförderung sei hier exemplarisch verwiesen auf Ingrid Hintz, Das Lesetagebuch – intensiv lesen, produktiv schreiben, frei arbeiten: Bestandsaufnahme und Neubestimmung einer Methode zur Auseinandersetzung mit Büchern im Deutschunterricht (Baltmannsweiler: Schneider, 42011 [2002]). Anregungen für die Praxis finden sich bei Klaus Gattermeier und Ulrike Siebauer, „Lesetagebuch“, in din a4: Deutschunterricht im Praxisformat, hrsg. von Klaus Gattermeier und Ulrike Siebauer (Regensburg: edition vulpes, 52014 [2007]), 138.

  33. In Anlehnung an Gustave Lanson differenziert Laetitia Perret-Truchot, „Pour une didactique de l’histoire de la littérature“, 154, zwischen der „histoire de la littérature“, die eine „[…] histoire des grands auteurs, structurée par genres et siècles, étudiée dans les classes […]“ ist, und der dem universitären Bereich zugeordneten „histoire littéraire“ (145), die sich vor allem den „contextes de réception, de production, de circulation des œuvres“ (145) widmet, und die weniger die „grands“ als vielmehr die „anonymes [auteurs]“ (145) in den Fokus ihrer Untersuchungen rückt.

  34. Ministère de l’Éducation nationale, de l’Enseignement supérieur et de la Recherche, „Le socle commun de connaissances et de compétences“, http://www.education.gouv.fr/cid2770/le-socle-commun-de-connaissances-et-de-competences.html, Zugr. am 18.6.2016.

  35. Vgl. Ministère de l’Éducation nationale, „Le socle commun de connaissances et de compétences“.

  36. Vgl. Jacques Crinon, „Les textes du patrimoine, les didacticiens, les enseignants, les élèves“, 290: „Le terme de classique, présent dans le titre du colloque, n’a pourtant pas été le plus présent chez les contributeurs. […] À ‚classique‘, les participants ont […] préféré ‚patrimoine‘.“

  37. Vgl. Crinon, „Les textes du patrimoine, les didacticiens, les enseignants, les élèves“, 290.

  38. Tzvetan Todorov, La littérature en péril, Café Voltaire (Paris: Flammarion, 2007).

  39. Todorov, La littérature en péril, 31.

  40. Todorov, La littérature en péril, 85.

  41. Todorov, La littérature en péril, 85.

  42. Todorov, La littérature en péril, 85.

  43. „Que peut la littérature?“ lautet ein Kapitel, vgl. Todorov, La littérature en péril, 69–78.

  44. Todorov, La littérature en péril, 72.

  45. Todorov, La littérature en péril, 88–9.





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