In memoriam Michel Butor (1926 – 2016)

Christof Weiand

Am Mittwoch, dem 24. August 2016, ist Michel Butor gestorben, drei Wochen vor seinem 90. Geburtstag. Am Montag, dem 29. August, fand in Lucinges, dem Ort seiner Wahlheimat, die bewegende Trauerfeier statt. Die Bedeutung des Dichters und Schriftstellers Butor ist weltweit bekannt, sein staunenswert umfangreiches Œuvre1 schon jetzt ein Klassiker nicht nur der französischen Literatur, sondern der ästhetischen Moderne. Bis zum Ende ist Butor produktiv geblieben. Dabei kam der Dichtkunst als Medium der Seinsbefragung erneut eine besondere Bedeutung zu. Als Beispiel für Michel Butors lebensklug-weise und zugleich offen für das Neue sich gebenden Dichtung soll an dieser Stelle ein Gedicht aus den Textes récents – 37 pages/Neueste Texte – 37 Seiten stehen, die 2012 erstmals erschienen sind.2

Michel Butor hat die vierzehn Gedichte der kleinen Sammlung im September 2011 anläßlich des Symposiums zu seinen Ehren an die Universität Heidelberg mitgebracht und daraus vorgetragen. Die Lesung wurde zum Ereignis. Sang da nicht Orpheus Lieder der Klage, sich mit seiner melodiösen Stimme selbst ermutigend, selbst begleitend? Wurde in der Aufgewühltheit der Bilder dieser wunderbaren Verse und ihrer fließenden Rhythmen nicht pulsierendes Leben eindrücklich erfahrbar? Und waren da nicht, zum Greifen nahe, Welten alter Mythen und neuer, Zivilisationen im Werden und Vergehen, sich drehend in letztem, im erstem Licht?

Die Gedichte wurden nach dem 30. Oktober 2010 geschrieben, dem Todestag von Marie-Jo Butor, der Ehefrau des Schriftstellers. Wieder und wieder wenden sie sich der Trauer zu, einer Trauer, die sich stockend nur aussprechen will, die nur langsam umzugehen lernt mit Verlust, Schmerz, Einsamkeit. Poesia, Memoria und Pietas schließen in diesen Versen einen anrührend melischen Bund.

Auf den bläulichgrauen Aktendeckel, der die Loseblattsammlung der Gedichte zusammenhält, hat Michel Butor geschrieben: Textes récents – 37 pages/Neueste Texte – 37 Seiten. Dann folgt der Name des Dichters. Der Vorname in der bekannten kalligraphisch fließenden Form; der Nachname in großen Druckbuchstaben mit einem im letzten Abstrich ausschwingenden finalen R – möglicherweise im Schwung der Feder ein ästhetisch dem Tode trotzendes Zeichen.

Butors Textes récents – 37 pages sind Verse des Lebens, Verse für das Leben. Lebendig sind sie, diese im ersten Manuskript siebenunddreißig Seiten, die eine Primzahl im Titel tragen. Die Welt – ob alt, ob jung – ist ein Labyrinth. Das läßt sich an allen Gedichten der kleinen Sammlung feststellen. Daraus entwickelt Michel Butor in L’attrape-rêves3 eine besonders gelungene Bildvariation von grundlegender biographischer Bedeutung, wenn er von l’esprit de l’escalier | tournant dans la cage cherchant | une issue spricht, der Gedankenverlorenheit | wie eine Treppe im Gehäuse sich windend | auf der Suche nach einem Ausgang.

Mit achtzehn Abschnitten (216 Versen) ist L’attrape-rêves das umfangreichste Gedicht dieser Sammlung. Es berichtet von einem Albtraum des Unterwegsseins, des Umherirrens, des Sichverlierens. Bilder der Transkulturalität (die befreundeten Indianer Nordamerikas und ihre Kulturen) und der Identität (der Haushalt des Dichters im französischen Lucinges), des fiebrigen Krankseins, der Suche nach der verstorbenen Gefährtin durchdringen einander und erzeugen zugleich eine surreale Traumwelt. Sie stellt dem rationalen Denken viele Fallen.

Der Sprecher des Gedichts stimmt die Totenklage eines modernen Orpheus an. Doch kein Gott scheint ihn zu hören. Er muß die Suche nach seiner Eurydike, die hier keinen Namen hat, selbst voranbringen. Es kommt zu einer Begegnung, die aber, wie es in Träumen üblich ist, unvermittelt abbricht. Ein großer Spannungsbogen baut sich auf zwischen Trauer (deuil) und Sehnsucht (nostalgie). Die großen Gefühle, auch die der Selbsttröstung, gelten dem Land, wo die Toten leben – le pays où vivent les morts.

Nachstehend drucken wir mit der freundlichen Genehmigung des Universitätsverlags Winter in Heidelberg dieses Gedicht sowie einige Anmerkungen zum Text ab.

l’attrape-rêvestraumfallen
pour Tony Souliéfür Tony Soulié

1

Je rêve que je suis indienIch träume, dass ich Indianer bin,
le vent souffle sur la mesader Wind streicht über die Mesa
avec ses tourbillons de neigemit seinen Wirbeln aus Schnee,
qui s’agglutinent aux yuccasdie sich an den Yuccas festsaugen.
  
Je rêve que je rêve indienIch träume, dass ich auf indianisch träume,
je suis malade j’ai la fièvreich bin krank, ich habe Fieber,
englouti dans mes couverturesbin fest in meine Decken gehüllt,
on prépare ma guérisonman kümmert sich um meine Genesung.
  
Élaborant une peintureZu diesem Zweck wird ein Bild angelegt
de sable pour y enfermeraus Sand, um darin die bösen
les mauvais esprits obsédantsPlagegeister einzufangen,
que nous appelons des microbesdie wir Keime nennen.

2

Les katchinas entrent en danseDie Katsinam beginnen zu tanzen,
mais c’est chez les gens d’à-côtéaber das ist jetzt bei den Leuten von nebenan,
je vais de tribu en tribuich gehe von einem Stamm zum andern,
sans pouvoir retrouver la mienneohne meinen eigenen finden zu können.
  
Je ne suis pas dans un hoganIch bin nicht in einem Hogan
ni un tipi mais dans un gîtenoch in einem Tipi, sondern in einer Unterkunft
style gringo avec chauffageganz im Gringo-Stil: mit Heizung
et même l’électricitéund sogar elektrischem Strom.
  
En même temps je suis iciGleichzeitig bin ich hier
dans mon village de Lucingesin meinem Dorf, Lucinges,
où tout se recouvre de blancwo alles sich weiß zudeckt;
je me remue parmi des drapsich wälze mich zwischen den Laken.

3

Déjà mon rêve se défaitSchon löst mein Traum sich auf,
j’essaie d’en saisir des lambeauxich versuche, ein paar Fetzen festzuhalten,
mais c’est emporté par le ventaber weg sind sie im
de l’agitation matinaleAuffrischen des Morgenwinds.
  
Pourtant quelqu’un m’avait donnéUnd doch hatte mir jemand
un important renseignementeinen wichtigen Hinweis gegeben,
la solution que je cherchaisdie Lösung, die ich suchte
pour un problème intolérablefür ein drängendes Problem.
  
J’avais entrevu la lumièreIch hatte flüchtig Licht gesehen,
mon ange ou démon déguisémeinen Engel oder Dämon, verkleidet,
avait découvert la formule quihatte die Formel ausfindig gemacht,
maintenant s’est échappéedie sich wieder verflüchtigt hat.

4

J’aurais eu besoin de filetsIch hätte Netze gebraucht,
pour capturer tous ces oiseauxum alle diese Vögel einzufangen,
les enfermer dans ma volièrein meine Text-Voliere sie zu sperren,
de textes pour les étudierum sie genau in Augenschein zu nehmen,
  
M’introduire dans leur langagemich einzuschleusen in ihre Sprachen
non pas de mots mais cris et plumesnicht aus Wörtern, sondern aus Schreien und
leur vol comme en l’antiquitéin ihren Flug – ganz wie im Altertum – [Federn
clef pour notre divinationSchlüssel für unsere Zukunftsdeutung.
  
Il ne reste qu’un souvenirEs bleibt nur die Erinnerung
de merveilles mêlées d’angoissean Wunderbares, das ich, vermischt mit tiefer
qu’il me faudrait reconstituerwieder zusammenfügen müßte Angst,
dans l’obscurité de la veillein der Nachtwachen Dämmerlicht.

5

Villes déserts en mouvementsStädte, Wüsten in Bewegung,
les horizons qui se retournentdie Horizonte kehren sich um,
pour nous révéler leur enversihre Rückseite uns zu offenbaren
dans un torrent de frustrationsim Sturzbach aus Vergeblichkeiten.
  
Malentendus gaffes raturesFalschverstehen, Verlegensein, Versagen,
les énervements les échecsAufregungen und Verlorenhaben,
j’étais pourtant presque arrivédabei war ich schon fast am Ziel,
mais le portillon s’est fermédoch das Gittertürchen fiel zu.
  
Toujours l’esprit de l’escalierWieder und wieder Gedankenverlorenheit
tournant dans la cage cherchantwie eine Treppe im Gehäuse sich windend
une issue car on me poursuitauf der Suche nach einem Ausgang, der nicht
autre que trappes sur le videFalltür ist, denn man stellt mir nach.

6

Voici colisées pyramidesHier sind die Kolosseen, Pyramiden,
colonnades porches balconsKolonnaden, Vorhallen, Balkone,
vaisseaux devenant gratte-cielsSchiffe, die wolkenkratzerartig sich auswölben,
immeubles partant en fuséesganze Wohnparks im Raketenstart,
  
Qui rencontrent à la vitessedie in Lichtgeschwindigkeit
de la lumière et au-delàund sogar schneller noch den Höllen
les enfers de toutes culturesaller Zivilisationen begegnen
rivalisant dans leurs supplicesund sich im Quälen überbieten,
  
Car dans leur imaginationdenn in der Fantasie waren
les gens de tous siècles et lieuxdie Leute aller Zeiten und Orte
ont été beaucoup plus fécondsstets dann ideenreicher, wenn
pour le malheur que pour l’édenes ums Unglück ging und nicht um Eden.

7

Jardins et villes de délicesGärten und Städte der Lust,
une forêt d’architecturesein ganzer Architekturenpark,
se développant en douceurbedächtig wachsend,
autour de ma fuite éperdueeinkesselnd meine aussichtslose Flucht.
  
Et toi où as-tu disparuUnd du, wohin bist du entschwunden,
je te cherche depuis des nuitsseit Nächten suche ich dich schon
dans les bistrots et les recoinsin den Bistros und in den schummrigen Ecken
des salles d’attente des garesder Bahnhofswartesäle.
  
Pourquoi ne m’as-tu pas laisséWarum hast du mir keinen Hinweis
quelque signe de ton passageauf deine Weiterreise hinterlassen,
un appel sur le téléphoneeinen Anruf auf das Handy,
portable que tu m’as donnédas du mir geschenkt.

8

Une sonnerie se déchaîneWildes Klingeln setzt sich in Gang,
mais l’appareil vient de tomberaber der Apparat ist in ein Kellerloch
dans un soupirail d’où s’exhalentgefallen, aus dem die Pestilenz
des odeurs de soufre et de poixvon Schwefel und von Pech aufsteigt.
  
Mais n’est-ce pas là ton soulierAber ist da nicht dein feiner Schuh,
ton écharpe je m’y accrochedein Seidenschal, ich halte ihn fest,
elle s’allonge en s’enroulanter dehnt sich, wickelt sich
autour de pylônes et troncsum Leitungsmasten und Baumstämme.
  
Un ravin entre deux terrassesEin Abhang zwischen zwei Erdwällen:
il me faut prendre assez d’élanich muß jetzt nur genug Anlauf nehmen,
pour passer de l’autre côtéum auf die andere Seite zu gelangen,
sans que le tissu se déchireohne daß der Stoff zerreißt.

9

Je t’aperçois tellement loinIch entdecke dich so weit weg,
c’est comme si tu m’avais vumir ist, als hättest du mich gesehen,
m’encourageant à te poursuivremir Mut gemacht, dir nachzufolgen,
jusqu’à ce que j’arrive enfinbis es mir endlich gelänge,
  
À te reprendre entre mes brasin meine Arme wieder dich zu schließen,
juste avant la chute finalerechtzeitig vor dem letzten der
des ailes voilà j’ai des ailesFlügelschläge; sieh nur, ich habe Flügel,
j’attendais depuis si longtempsich wartete so lange schon darauf,
  
Puisque j’ai le nom d’un archangedenn ich trage den Namen eines Erzengels,
il me faut être messagermir ist aufgetragen, Bote zu sein von
de nouvelles un peu moins dureseiner Kunde, um ein Gran weniger bitter
dans les remous des apparencesim Hin und Her des Scheins.

10

J’avais déchiffré l’inscriptionIch hatte die Inschrift schon entziffert,
il ne me manquait que trois lettresmir fehlten nur drei Lettern,
j’avais trouvé le dictionnaireich hatte das Wörterbuch
de la langue des réprouvésder Sprache der Verdammten gefunden,
  
Mais comme je le feuilletaisdoch als ich darin blätterte,
les pages s’en sont calcinéessind zu Asche die Seiten zerfallen,
ce sont mes doigts qui les brûlaientmeine Finger hatten sie in Brand gesetzt,
je me suis retrouvé en flammesich selber brannte lichterloh,
  
Seul au milieu de la toundraallein inmitten der Tundra
parmi l’ivoire des mammouths quizwischen den Elfenbeinstangen alter Mammuts,
reprennent leur consistancedie ihre Gestalt unter
sous les franges de leurs toisonsder zottigen Mähne wieder annehmen.

11

Traces de pas dans le brouillardFußspuren im Nebel,
ça y est j’ai retrouvé le filgeschafft, ich habe ihn wieder, den Faden
et je ne le lâcherai plusund gebe ihn nicht mehr aus der Hand
jusqu’au réveil de mon réveilbis zum Erwachen meines Erwachens.
  
Le lièvre le cerf et le loupDer Hase, der Hirsch, und der Wolf
me prêtent gestes et pelagesborgen mir Gangarten und Fell, und
chênes bouleaux et cerisiersEichen, Birken und Kirsch
leurs feuillages et leurs écorcesihr Blattwerk und ihre Rinde.
  
Je commence à participerIch fange an, mich an den Unterredungen
aux dialogues entre les règnesder Zeitalter zu beteiligen;
maintenant c’est toi qui me cherchesund nun bist du es, die mich sucht,
ils vont te frayer le cheminsie werden dir den Weg schon bahnen.

12

De continents en continentsVon Kontinent zu Kontinent,
bientôt de planète à planètebald von Planet zu Planet
abordant à d’autres systèmesund weiter zu noch anderen Systemen,
aux détours des années-lumièreauf Umwegen, Lichtjahre entfernt,
  
La fièvre commence à baisserfängt das Fieber zu sinken an,
dans quel rêve me retrouvai-jein welchem Traum befand ich mich,
c’est comme s’ils faisaient la courseja, mir ist, als jagten sie einander
dans l’amphithéâtre du litim Amphitheaterrund des Betts,
  
Rivières s’unissant en fleuvesdie Bäche, die mit Flüssen sich vereinen,
avec niagaras de vapeursmit Niagara-Wasserdampf
touristes en hélicoptèresund Helikopter-Touristen,
s’embrassant parmi les embrunsdie sich küssen in der Gischt.

13

Je rêve d’un indien qui rêveIch träume von einem Indianer, der träumt,
qu’il est un français comme moidass er Franzose ist wie ich,
empêtré dans tous les problèmesverstrickt in reichlich Streitereien
de l’administration localemit der Ortsverwaltung.
  
Que de déceptions et d’émoisNichts als Enttäuschung, nichts als Zorn,
les chemins s’embrouillent soudainplötzlich verwirren die Wege sich
dans le goudron de la chausséeim Teer des Fahrdamms,
où se perdent toutes les pisteswo alle Pisten sich verlieren.
  
Comment s’orienter autrementWie sich orientieren, wenn nicht
qu’avec le plan le nom des ruesmit Karte und mit Straßennamen,
le GPS pour les voituresin Fahrzeugen mit GPS,
les yeux rivés sur les écransden Blick aufs Display fest fixiert.

14

Relents de cuisine et d’orduresÜbler Geruch aus Küche und Abfall,
je flaire comme un chien battuich schnuppere wie ein geprügelter Hund,
voici le parfum d’une roseund hier der Duft einer Rose,
qui surgit parmi les déchetsdie zwischen Unrat erblüht.
  
C’est l’indice qui me manquaitDies ist das Zeichen, das mir gefehlt,
je suis sûr maintenant du filich bin jetzt sicher, dass dieser Faden
qui me conduit à mon trésormich führen wird zu meinem Schatz
dans la débâcle des monnaiesim Wirrwarr kleinster Münzen.
  
Dormir avec toi retrouverBei dir schlafen, beim kleinsten
au moindre sursaut ton épauleZucken nach deiner Schulter fassen,
entendre ta respirationdeine Atmung gehen hören,
mesure du temps qui me resteZeitmaß, das mir bleibt.

15

Hélas le deuil est le plus fortO, wie wird mir, die Trauer ringt mich nieder,
tu ne sortiras pas du rêveaus diesem Traum führt dich kein Weg,
le filet ne restitueradas Netz gibt deine Tilgung
que ton extinction dans les cendreserst mit der Asche frei.
  
Reste encore un peu près de moiBleibe noch ein wenig mit mir,
console-moi de ton absencetröste mich deiner Abwesenheit wegen,
toutes les saisons de ta viealle Jahreszeiten deines Lebens
teindront la roue de mes annéeswerden dem Rad meiner Jahre Farbe geben.
  
Silencieuse inévitableIns Schweigen Abgeschiedene:
chaque objet que mes yeux rencontrentgar jedes Ding, auf das mein Auge fällt,
ouvre un épisode oubliéeröffnet eine vergessene Geschichte,
qui tourne en boucle en mon regretdie sich im Kreise meiner Trauer dreht.

16

En rassemblant tous ces débrisBeim Sammeln dieser Überreste
la nasse des peuples anciensläßt mich die Reuse der alten Völker
permet d’ajuster lentementdie Organe für mein Weiterleben
les organes de ma survieallmählich neu anlegen.
  
Encore te voir et t’entendreWieder dich sehen und dich hören,
suivre tes conseils obéirden Ratschlag dein verfolgen und deinem
à tes subtiles suggestionsfeinen Erspüren ganz vertrauen
dans mes hésitations voracesim Heißhunger meines Zögerlichseins.
  
Tant d’autres fantômes défilentSo viele bleiche Schatten ziehen vorüber,
dans les corridors du sommeilin den Wandelgängen des Schlafs
montant descendant sans répitgeht pausenlos es rauf und runter
les ascenseurs de la mémoiremit Fahrstühlen der Erinnerung.

17

Que ce soit une goutte d’eauOb es ein Tropfen Wasser ist,
pluie du printemps neige d’automnedes Frühlings Regen oder des Herbstes Schnee,
fondant à l’incertain redouxder, wer weiß wann, bei erster Milde schmilzt,
ou une larme d’émotionob Träne der Rührung,
  
Moi qui suis si sec et si raideich, der ich so spröde bin und steif,
cherchant à maintenir le masqueder sich an seine Maske halten muß,
sans lequel je m’effondrerais madenn ohne sie müßt ich zusammenbrechen,
soif a le plus grand besoinmein Durst hat größtes Verlangen,
  
D’en déguster toutes saveursdavon die ganze Würze auszukosten,
toute la rosée de vigueurdie ganze Stärkung jenes Rosentaus,
pour m’aider à tenir deboutum mir zu helfen, durchzuhalten
dans le quotidien dévastéim heimgesuchten Tageseinerlei.

18

Reprenant peu à peu confianceGanz langsam fasse ich Vertrauen
dans une réanimationin ein Wiedererstehen
des rêves dont je n’ai que bribesder Träume, die nur als Stückwerk
de l’autre côté du réveilder anderen Seite des Erwachens mir geblieben.
  
Toutes mes erreurs mes ratagesAll mein Irren, mein Danebengreifen
amassé au fond de ma cavesind aufgehäuft in meinem Keller
fermentent en moût décisifund vergären zu jenem Most, dazu bestimmt,
dévastateur ou salvateurzugrunde zu richten oder zu retten alles.
  
Pris au piège de prosodieIm Vorwärtsklingen meiner Worte eingefangen,
les ombres et reflets fleurissenterblühen Schatten und blitzendes Licht
alimentant ma nostalgieund nähren meine Sehnsucht
du pays où vivent les mortsnach dem Land, wo die Toten leben.

Anmerkungen zu L’attrape-rêves/Traumfallen

mesa – Tisch (span.); hier: Hochebene im Navajo-Gebiet, Arizona (USA).

katchinas – Katsina, Katsinam (Pl.); kleine Puppen, auch für Kinder geeignet, die bei den Pueblo-Indianern Nordamerikas (Hopi, Zuni) die Geister der Natur und der Ahnen symbolisieren. Als Vermittler zwischen den Göttern und den Menschen spielen sie auch in der indianischen Medizin eine wichtige Rolle.

hogan – Wohnhaus der Navajo aus Holz und Lehm gebaut.

tipi – ein indianisches Zelt.

nom d’un archange – gemeint ist der Name Michel/Michael, hebräischen Ursprungs, mit der Bedeutung ‚Wer ist wie Gott?‘. Zu den Erzengeln zählen des weiteren Gabriel, Raphael und Uriel.

prosodie – „Lehre von der Tonhöhe, der Dauer der Silben“ (W. Th. Elwert, Französische Metrik). Gemeint ist der Klangwert der Verse, ihre Teilhabe an der Musik.


  1. Œuvres complètes de Michel Butor, sous la direction de Mireille Calle-Gruber, 12 tomes (Paris: Éditions de la Différence, 2006–10).

  2. Michel Butor, Textes récents – 37 pages/Neueste Texte – 37 Seiten, aus dem Französischen übersetzt, kommentiert und eingerichtet von Christof Weiand (Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2012).

  3. Butor, Textes récents, 64–83.





Copyright (c) 2017 Christof Weiand

Creative-Commons-Lizenz
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.