Berlusconis Mediokratie und italienische Fernsehgeschichte

Kathrin Ackermann

Vittorio Prada, Videocrazia e teatralizzazione della politica nell’era berlusconiana, Sanssouci: Forschungen zur Romanistik 5 (Berlin: Frank & Timme, 2014), 374 S.

Prada hat sich in seiner Dissertation vorgenommen, die Ursachen und Hintergründe von Berlusconis Erfolg bei den Wählern zu untersuchen. Seine These ist, dass der „Cavaliere“ die historische Chance, die sich mit der Öffnung des italienischen Fernsehmarktes für kommerzielle Sender eröffnete, ergriff, um durch die systematische Senkung des Niveaus der Fernsehunterhaltung, die politische Indoktrination durch Nachrichtensendungen und die Durchsetzung einer betont einfach und ungezwungen wirkenden Sprache genau jene narkotisierten Zuschauer hervorzubringen, die ihm zum Amt des Ministerpräsidenten verhalfen. Dazu arbeitet Prada über 60 Jahre Fernsehgeschichte auf, die er entlang der von Umberto Eco bereits 1983 konstatierten Zäsur zwischen der moralisch-pädagogischen paleotelevisione und der oberflächlichen, auf reine Unterhaltung abzielenden neotelevisione präsentiert.

Das erste Kapitel wirft einen Blick auf den Fernsehkonsum der Italiener und setzt ihn in Relation zu der im europäischen Vergleich geringen Anzahl von Zeitungslesern und Internetnutzern. Es folgt eine Übersicht über die dokumentarischen und unterhaltenden Formate des italienischen Staatsfernsehens der 1950er und 60er Jahre. Die sich ändernden wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen des kommerziellen Fernsehens werden im dritten Kapitel nachgezeichnet, ebenso wie die neuen Formate, die ab den 1970er Jahren mehr und mehr die Programme bestimmten. Unterhaltungsshows, Quizsendungen, Talkshows und nicht zuletzt Wahlspots (die von der staatlichen RAI nicht gesendet werden durften) trugen dazu bei, dass den Zuschauern neue Verhaltensmodelle und Wertvorstellungen vermittelt wurden, die sie zu den idealen Adressaten jener politischen Botschaften machten, die Berlusconi zu seinen Wahlerfolgen führen sollten. Die durch die Gründung von Auditel bewirkte Orientierung an den Einschaltquoten erzeugte auch bei der RAI den Druck, sich der von Berlusconis Sendern erfolgreich praktizierten Uniformierung der TV-Unterhaltung und der politischen Information zu beugen.

Das umfangreiche vierte Kapitel widmet sich der Person Silvio Berlusconis, angefangen mit dem Aufbau seines Firmenimperiums, das ihm die Bühne für seine mediale Inszenierung bot, bis hin zu seinem nicht minder spektakulär inszenierten Rücktritt im Jahr 2011. Prada erläutert die Strategien von Berlusconis Wahlkampagnen, die dieser zum größten Teil über das Fernsehen, aber auch andere Medien wie Zeitschriften oder seine millionenfach kostenlos verteilte Biographie und nicht zuletzt auch in seiner Rolle als Präsident des Fußballclubs AC Milan führte. Einen zentralen Bestandteil des Kapitels bildet eine Analyse der als „Discesa in campo“ in die Mediengeschichte eingegangene Fernsehansprache, mit der Berlusconi seine Kandidatur für die Parlamentswahlen von 1994 ankündigte. Im fünften und letzten Kapitel beschäftigt sich Prada mit dem Wandel der politischen Sprache vom politichese zum gentese, bevor er zu einer Diatribe gegen die für das Land fatalen Auswirkungen der Ära Berlusconi ansetzt, die durch systematische Verdummung der Bevölkerung zum wirtschaftlichen und kulturellen Niedergang Italiens geführt hat.

Trotz vieler aufschlussreicher Informationen kann man sich bei der Lektüre nicht des Eindrucks erwehren, dass man all das irgendwo schon gelesen hat. Prada hat die relevanten Monographien zu Berlusconi und der italienischen Medienlandschaft der letzten Jahrzehnte gründlich recherchiert und zitiert ausführlich, was Journalisten, Kommunikations- und Medienwissenschaftler, Soziologen, Politologen, Schriftsteller und Regisseure dazu zu sagen haben, aber in einer eher additiven Weise, die eine wissenschaftliche Methodik vermissen lässt. Seine Ausführungen zur Geschichte des italienischen Fernsehens fassen zusammen, was jedem, der italienische Politik und Medien der letzten Jahrzehnte verfolgt hat, vertraut sein dürfte: Dass das Fernsehen in Italien für die Mehrzahl der Bevölkerung die alleinige Informationsquelle ist, dass das Land bezüglich der Pressefreiheit einen der hintersten Ränge innerhalb der westlichen Demokratien belegt, dass die Anzahl der Zeitungsleser und Internetnutzer geringer ist als in anderen europäischen Ländern. Ebenso dass die italienischen TV-Unterhaltungssendungen ein desolates Niveau aufweisen, dass sie ein einseitiges, sexualisiertes Bild der Frau vermitteln und zu einer Vulgarisierung der Sprache, des Geschmacks und der Verhaltensweisen geführt haben. Die Quasi-Monopolstellung der von Berlusconi kontrollierten Nachrichtensendungen, die Verlagerung der politischen Bühne von den öffentlichen Plätzen in die Fernsehstudios, die Personalisierung und Spektakularisierung der Politik – all dies ist Kennern des Lands hinlänglich bekannt. Keine einzige der abgebildeten Tabellen oder Statistiken basiert auf eigenen Umfragen, eingehendere Untersuchungen beziehen sie zumeist auf bekannte und schon mehrfach analysierte Texte wie z. B. Berlusconis „Discesa in campo“, die bereits mehrfach analysiert wurden; es werden keine wirklich neuen, bislang unbekannten oder noch nicht ausgewerteten Dokumente zutage gefördert. Gleichzeitig findet man immer wieder essentialistische Zuschreibungen wie zum Beispiel die Behauptung, dass das Medium Fernsehen vor allem über das Bild wirke oder dass der Zuschauer passiv der manipulativen Wirkungen des Fernsehens ausgesetzt sei – Positionen, die man von bekannten Medienkritikern aus den 1980er und 1990er Jahren wie z. B. Neil Postman kennt –, wohingegen den Internetnutzern einseitig ein intelligenter, selbstbestimmter Umgang mit den im Netz gefundenen Informationen zugestanden wird. Neuere Sichtweisen auf das Fernsehen, wie sie von den Cultural Studies vertreten werden, finden hingegen keinen Eingang; auch die Rolle des Bildungssystems wird nicht thematisiert.

Für alle jedoch, die das italienische Fernsehen der letzten Jahrzehnte nicht verfolgen konnten oder wollten, bietet die Studie alle wichtigen Informationen über die aufsehenerregendsten Fälle, die in das kollektive Fernsehgedächtnis der Italiener eingegangen sind. Neben einem vierseitigen Resümee auf Italienisch enthält das Buch auch eine über 30 Seiten umfassende Zusammenfassung auf Deutsch. Der Leser muss sich allerdings darauf einstellen, dass das 2014 erschienene Buch bezüglich der verwendeten Literatur auf dem Stand von 2011 ist (von den 168 selbständigen Publikationen, die in der Bibliographie zitiert werden, stammen lediglich 3 aus der Zeit nach 2010).

Bei allen Vorbehalten bietet Pradas Studie einen gut geschriebenen und dokumentierten Einblick in die italienische Videokratie und kann den Lesern plausibel vermitteln, wie es dazu kommen konnte, dass Silvio Berlusconi fast zwei Jahrzehnte lang eine so große Faszination auf seine Wähler ausüben konnte.





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