Metaleptische Lektüre: M. de Charlus liest Balzac

Stephan Leopold

Rainer Warning zum achtzigsten Geburtstag

Cette réalité selon la vie des romans de Balzac, fait qu’ils donnent pour nous une sorte de valeur littéraire à mille choses de la vie qui jusque-là nous paraissaient trop contingentes. [] Là, sous l’action apparente et extérieure du drame, circulent des mystérieuses lois de la chair et du sentiment. (Marcel Proust, Contre Sainte-Beuve)

I

Marcel Prousts Monumentalwerk A la recherche du temps perdu ist etliches: Ein Roman über die unwillkürliche Erinnerung, später ein Roman über die unfassbare Albertine und schließlich ein Roman über einen Roman, den der Erzähler noch zu schreiben, der Leser indes bereits gelesen hat. Ab der Mitte, also mit Beginn von Sodome et Gomorrhe, wird die Recherche aber vor allem zu einem Roman sozialen Wandels, des langsamen Zusammenbruchs gesellschaftlicher Stratifikationen, der Umkehrungen all dessen, was Marcel bislang von gleichsam ontologischer Gültigkeit erschienen war.1 Gegen Ende – im berühmten bal de têtes – kulminiert diese Bewegung in einer Figur radikaler Entropie: Mme Verdurin, deren Salon zu Anfang noch so unendlich weit vom Faubourg Saint-Germain entfernt gewesen war, entpuppt sich zum Erstaunen Marcels als die neue Prinzessin von Guermantes, und von Gilberte Swann, der zur Marquise de Saint-Loup aufgestiegenen Tochter eines Juden und einer Kokotte, weiß man, dass sie die neue Herzogin von Guermantes sein wird.2 Proust selbst hat für diese Bewegung einen eigenen Begriff, den der „inversion“, gewählt.3 In ästhetischer Hinsicht kündigt sich diese Inversion bereits in den Gemälden des Malers Elstir an, etwa in dem schlechterdings unvorstellbaren Port de Carquethuit (R II, 192ff.), wo sich Land und Meer in immer neuen Volten verkehren und die Ekphrasis jede Form von Mimetismus sprengt. Explizit thematisch wird die Inversion allerdings erst mit Sodome et Gomorrhe.4 Dort zunächst noch auf die männliche Homosexualität begrenzt und also von ontogenetischer Natur (R III, 18), weitet sie sich in La Prisonnière zu einer phänomenologischen Kippfigur aus, die an der Frage nach der vermeintlichen oder realen Inversion Albertines ansetzt und zugleich eine schier unendliche Semiose im Zeichen der différance in Gang setzt.5 Zu guter Letzt erfasst die Inversion alle Bereiche des symbolischen Registers – Semantik, Etymologie, ja sogar die Topographie – und deprogrammiert damit eben auch die Restbestände einer feudalen Ordnung, wie sie zu Anfang noch die euphorische Erinnerungspoetik des Romans bestimmt hat.6

Endet nun die Recherche mit dem Triumph der Mme Verdurin und Gilberte Swanns, so ist diese Schlussfügung nicht nur die konsequente Durchführung der Inversion, sondern auch insofern ein balzacianisches Ende, als es uns einigermaßen unmissverständlich an den Anfang der Comédie humaine zurückverweist. Dort heißt es im Avant-propos programmatisch: „un épicier devient certainement pair de France, et le noble descend parfois au dernier rang social“ (CH I, 4)7. Fragt man vor diesem Hintergrund nach dem adeligen Gegenstück zu Mme Verdurin und Gilberte Swann, so wird man nicht lange nachzudenken haben, denn Proust hat den gefallenen Aristokraten emblematisch in der Figur des Baron de Charlus angelegt. Charlus, der in Le Côté de Guermantes noch als Verkörperung des Standesdünkels auftritt und sich bei jeder Gelegenheit in nicht enden wollenden Herleitungen seiner merowingischen Abkunft gefällt, steht in zweierlei Hinsicht im Zeichen der Inversion. Zum einen folgt auf die Entdeckung seiner Homosexualität durch Marcel zu Beginn von Sodome et Gomorrhe auf der Handlungsebene die sukzessive Ausdehnung der Inversion auf bald alle Bereiche der Gesellschaft; zum anderen bewirkt gerade seine im Zuge dieser Ausdehnung immer ostentativer zur Schau gestellte Vorliebe für den jungen Plebejer Charlie Morel seinen Fall. Beide Bewegungen haben ihren Angelpunkt kaum zufällig in Mme Verdurin, die Charlus am Ende von La Prisonnière als Verderber der Jugend demaskiert und damit seine gesellschaftliche Ächtung und ihren endgültigen Aufstieg einleitet. Auf dem sozialen Tiefpunkt ist Charlus dann in Le Temps retrouvé angelangt. Nur wenige Seiten bevor Mme Verdurin auf dem bal de têtes als neue Prinzessin von Guermantes in Erscheinung tritt, begegnen wir ihm in einem Männerbordell wieder, wo er sich während der Bombennächte des 1. Weltkriegs von Apachen auspeitschen lässt, die ihm gar nicht vulgär und brutal genug sein können (R IV, 388ff.).8

Weshalb nun aber Charlus für unsere Fragestellung von Interesse ist, liegt nicht allein daran, dass er eine gleichsam balzacianische Umschlag-Figur darstellt, sondern schuldet sich vor allem dem Umstand, dass er selbst ein enthusiastischer Leser Balzacs ist. Wir erfahren dies zunächst eher beiläufig. Marcel ist zum ersten Mal bei den Guermantes zu einer Soiree eingeladen, und als der Herzog im Laufe des Abends irgendwann einmal auf Balzac zu sprechen kommt, unterbricht ihn seine Gattin Oriane jäh, da es ihrer Meinung nach hierzu in der Familie weitaus Berufenere gebe, nämlich ihren Schwager Charlus, der, wie sie sagt, „le sait par cœur“ (R II, 781). Man überliest die Bemerkung schon deshalb leicht, weil das Gespräch augenblicklich einen anderen Verlauf nimmt und sich wie so viele der Salon-Gespräche in Le Côté de Guermantes in einer eigentümlichen Mischung aus Tagespolitik, Klatsch sowie Meinungen zu Literatur, Kunst oder Botanik verliert. Nur ist es eben so, dass sich Proust niemals in einer reinen Mimesis an aristokratischer Blasiertheit übt. Wenn Oriane etwas später etwa auf ihre Orchideen zu sprechen kommt – „il faudrait un mari pour mes fleurs. Sans cela je n’aurai pas de petits!“ (R II, 805) – so verweist dies nicht nur auf die sexuelle Vernachlässigung durch ihren notorisch untreuen Ehemann, sondern eben auch auf den Anfang von Sodome et Gomorrhe, wo die (unwahrscheinliche) Orchideenbestäubung den Ausgangspunkt für jene Episode bildet, in der Charlus erstmals von seiner ,Hummel‘ Jupien ,bestäubt‘ wird.9 Was nun den Balzac-Bezug angeht, finden wir den nächsten Hinweis auf die Lektürepräferenzen des Barons erst sehr viel später, fast am Ende von Sodome et Gomorrhe. Den Rahmen hierzu bildet eine der zahlreichen, nicht enden wollenden Fahrten im petit train zu dem von den Verdurins in der Nähe von Balbec angemieteten Schloss La Raspelière, die sich hier dadurch auszeichnet, dass Charlus in einer Ecke des Abteils Balzac liest, während die anderen Fahrgäste etwas abseits über seine Homosexualität feixen. Marcel, den erstmals Albertine zu einem Diner bei den Verdurins begleitet, spricht Charlus auf Balzac an. Der soeben noch in Les Secrets de la Princesse de Cadignan vertiefte Baron vergleicht nun alsbald, „[pour] parler des choses qui puissent intéresser cette jeune fille“ (R III, 441), die Garderobe Albertines mit derjenigen der Princesse de Cadignan. Daraufhin ist er plötzlich tief bewegt:

Il tomba dans une songerie profonde, et comme se parlant à soi-même: « Les Secrets de la princesse de Cadignan! s’écria-t-il, quel chef-d’œuvre! comme c’est profond, comme c’est douloureux, cette mauvaise réputation de Diane qui craint tant que l’homme qu’elle aime ne l’apprenne! Quelle vérité éternelle, et plus générale que cela n’en a l’air! comme cela va loin! » M. de Charlus prononça ces mots avec une tristesse qu’on sentait pourtant qu’il ne trouvait pas sans charme. [] Et maintenant que depuis un instant il confondait sa situation avec celle décrite par Balzac, il se réfugiait en quelque sorte dans la nouvelle, et à l’infortune qui le menaçait peut-être et ne laissait pas en tous cas de l’effrayer, il avait cette consolation de trouver dans sa propre anxiété ce que Swann et aussi Saint-Loup eussent appelé quelque chose de « très balzacien ». (R III, 445)

Der Passus ist in mehrerlei Hinsicht bemerkenswert, handelt doch Balzacs Novelle von (später) Liebe und dem Verbergen eines in sexueller Hinsicht alles andere als normkonformen Vorlebens. Diane de Cadignan hat es in knapp zwanzig Jahren auf ein „album“ (CH IV, 952) voller Portraits ehemaliger Geliebter gebracht und fürchtet nun, da sie den tugendhaften Schriftsteller Daniel d’Arthez für sich gewinnen will, nichts mehr, als dass diese Geliebten D’Arthez ihr – sexuelles – Geheimnis enthüllen könnten. Dass sich Charlus mit der Prinzessin identifiziert, muss angesichts der Situation, in der er sich befindet, nicht weiter wunder nehmen, denn auch er will nicht, dass sein sexuelles Vorleben ruchbar und seinem jungen Protegé Morel zur Kenntnis gebracht wird. Diese Furcht ist in Hinblick auf Morel allerdings unbegründet, da dieser, wie man wenig später erfährt, seinerseits mit Männern schläft. Gerade darum ist aber Charlus’ identifikatorische Lektüre so interessant, bewirkt sie es doch, dass Balzacs Novelle, die man im Sinne der geglückten Verbürgerlichung einer in die Jahre gekommenen Mme de Merteuil lesen könnte, einen gleichsam doppelt homoerotischen Unterton bekommt. Hieraus erklärt sich auch der Bezug zu Albertine. Denn wenn die Novelle zu den Dingen gehört, „qui puissent intéresser cette jeune fille“, so vor allem wohl darum, weil sich Albertine in einer sehr ähnlichen Lage befindet wie Diane de Cadignan: Sie verfügt über kein Vermögen, will Marcel für sich gewinnen und ist – sofern wir geneigt sind, einer Reihe von Enthüllungen aus Albertine disparue Glauben zu schenken – vor allem lesbisch. Indem Charlus Balzac auf sich überträgt und zugleich Albertine mit der Prinzessin in Beziehung setzt, liest er letztere nun als eine Art Caché, unter dem sich gleich die beiden Varianten sexueller Inversion verbergen, und so erweist sich Diane de Cadignan letztlich als Stellvertreterfigur für Sodome et Gomorrhe, für den Titel also, den Proust seinem Roman gegeben hat.

Inwiefern eine solche Lektüre à rebours berechtigt erscheint, lässt sich ansatzweise erkennen, sobald man sich die ehemaligen Geliebten der Prinzessin näher ansieht. In Dianes Album befinden sich nämlich unter anderen die Porträts von Eugène de Rastignac und Lucien de Rubempré (CH IV, 952), also von zwei männlichen Figuren, die mit Vautrin und damit eben auch mit Homosexualität assoziiert sind. Besonders Lucien de Rubempré, der Selbstmord begeht, als seine Beziehung zu Vautrin bekannt zu werden droht, schlägt die Brücke zu Mme de Cadignan, ist er doch das Beispiel für eine gescheiterte Verbergung devianter Sexualität. Aber auch zu Rastignac gäbe es einiges zu sagen. Zumindest ist Charlus dieser Meinung. Auf die Frage Marcels, welche Romane Balzacs er bevorzuge, kommt er sogleich auf das große Diptychon der Comédie humaine zu sprechen:

Comment! vous ne connaissez pas Les Illusions perdues? C’est si beau, le moment où Carlos Herrera demande le nom du château devant lequel passe sa calèche: c’est Rastignac, la demeure du jeune homme qu’il a aimé autrefois. Et l’abbé alors de tomber dans une rêverie que Swann appelait, ce qui était bien spirituel, La Tristesse d’Olympio de la pédérastie. Et la mort de Lucien! je ne me rappelle plus quel homme de goût avait eu cette réponse, à qui lui demandait quel événement l’avait le plus affligé dans sa vie: “ La mort de Lucien de Rubempré dans Splendeurs et misères ”. (R III, 437)

Auch dieser Passus ist anspielungsreich. Wenn der als spanischer Abbé verkleidete Vautrin hier als „Olympio de la pédérastie“ ausgewiesen wird, dann führt dieses Swann zugeschriebene Bonmot zum einen zu Manets seinerzeit skandalösem Gemälde einer Kurtisane zurück, zum anderen rückt es aber auch die Beziehung zu Rastignac in einen Bereich ein, der in Le Père Goriot, wo von dieser Beziehung die Rede ist, so nicht explizit zur Sprache kommt: Päderastie. Der Aspekt der Kurtisane schlägt zugleich den Bogen zu den hier apokopierten Splendeurs et misères des courtisanes, was insofern bedeutsam ist, als dieser Roman noch vor den Schilderungen des Zusammenlebens von Lucien und Vautrin ganz zu Anfang ein kurzes Zusammentreffen von Rastignac mit Vautrin enthält, das seinerseits im Zeichen von Wissen und Verschweigen steht:

– C’est bien lui qui s’est encore échappé… dit Rastignac à part.
– Tais-toi ou je t’égorge, répondit le masque en prenant une autre voix. Je suis content de toi, tu as tenu ta parole, aussi as-tu plus d’un bras à ton service. Sois désormais muet comme la tombe; et avant de te taire, réponds à ma demande.
– Eh bien, cette fille est si attrayante qu’elle aurait engourdi l’Empereur Napoléon, et qu’elle engourdirait quelqu’un de plus difficile à séduire: Toi! répondit Rastignac en s’éloignant. (CH VI, 445)

Auf der Handlungsebene von Splendeurs et misères bezieht sich das von Vautrin eingeforderte Schweigen Rastignacs auf Esther, die Geliebte Luciens, die aufgrund ihres Vorlebens als Kurtisane Luciens Aufstiegswunsch und damit auch Vautrins Selbstermächtigung gefährlich werden kann. Der Hinweis Rastignacs, dass Esther selbst Vautrin verführen, mithin eigentlich Unmögliches bewirken könne, zielt allerdings auf ein Wissen um Homosexualität, das bereits hier mit dem Kurtisanenmotiv verbunden ist. Es ist nämlich dem Aufstiegswunsch Luciens zweifellos ebenso abträglich, mit einem Homosexuellen zu verkehren wie mit einer Kurtisane. Das Schweigegebot ist damit auch doppelt motiviert bzw. doppelt beredt, denn so kommt unter dem Caché weiblicher Prostitution wiederum männliche Homosexualität zur Sprache.

In unserer Proust-Stelle verhält es sich nicht unähnlich, da ja dort einerseits das Substantiv courtisanes elliptisch bleibt, andererseits aber Vautrin selbst mit dem Kurtisanenmotiv affiziert wird. Darüber hinaus bleibt aber durch das „je ne me rappelle plus“ auch der Name eines Gewährsmannes ausgespart, dessen Auffassung bezüglich Luciens Tod sich Charlus offenbar anschließt. Dass es sich bei diesem – vermeintlichen – Vergessen, wohl eher um ein wiederum beredtes Schweigen handeln dürfte, ergibt sich, wenn man in der Pléiade-Ausgabe die diesbezügliche Anmerkung nachschlägt, ist doch niemand anderes gemeint als Oscar Wilde, der die von Charlus zitierte Sentenz erstmalig in dem Essay The Decay of Lying (1889) geäußert hat (R IV, 1588–9). Davon einmal abgesehen, dass Wilde selbst aufgrund seiner ruchbar gewordenen Homosexualität späterhin soziale Ächtung erfahren hat und folglich die Sentenz einen in biographischer Hinsicht nachgerade proleptischen Charakter erhält, steht er als Gewährsmann von Charlus auch für eine Form des kryptographischen Lesens, die nur denjenigen zugänglich ist, die es vermögen, den Text Balzacs im Sinne einer esoterischen Semiose zu verstehen.

Eine solche Form der Lektüre hat erstmals Michael Lucey in der wohl eindrucksvollsten Balzac-Monographie der letzten Jahre unternommen, und – etwa in seiner Deutung von Le Cousin Pons und La Cousine Bette – zu zeigen vermocht, inwiefern Balzac dort anhand von devianten Familien- und Paarbeziehungen gerade solche Formen des Sozialen erprobt, die von den jeweiligen politischen Verfassungen nicht abgedeckt sind.10 In einem etwa zeitgleich entstandenen Aufsatz zu Proust verfolgt er die Wilde-Sentenz über Prousts Contre Sainte-Beuve, wo sie erstmals diskutiert wird, bis zu unserem Passus. Dabei vertritt er die These, dass dieses Bezugsgefüge im Sinne einer Poetik queeren Schreibens zu lesen wäre und die Recherche selbst, dadurch, dass sie ihren Erzähler/Protagonisten einerseits von der Homosexualität absetzt, ihn andererseits jedoch in die schier unabschließbare Albertine-Hermeneutik verstrickt, dessen mediale Ermöglichungsform ist. Darüber hinaus – und das scheint mir das eigentliche Faszinosum an Luceys Lektüre zu sein – zeigt er an unserem ersten Proust-Zitat ein metaleptisches Verfahren auf, bei dem Charlus gleichsam zur Figur Balzacs wird: „il confondait sa situation avec celle décrite par Balzac, il se réfugiait en quelque sorte dans la nouvelle“ (R III, 445).11 Diesem Gedanken will ich in der Folge noch ein wenig weiter nachgehen, als dies Lucey getan hat, denn ich würde meinen, dass zwischen Balzac und Proust eine ebenfalls metaleptische Beziehung besteht, bei der das eine Werk – die Comédie humaine und hier insbesondere der Cycle Vautrin – in das andere – die Recherche – eindringt und umgekehrt letzteres wiederum ersteres erhellt.

II

Le Père Goriot ist ein Roman über Geld, sozialen Wandel und nicht zuletzt über eine Form von Homosexualität, die mit einem Begehren der vom politischen Prozess ausgeschlossenen Klasse – dem hier mit den Verbrechern assoziierten Proletariat – kurzgeschlossen wird.12 Dass Charlus, der im petit train neben dem Diptychon weitere einschlägige Texte wie Sarrasine und La Fille aux yeux d’or freimütig erwähnt (R III, 439), Le Père Goriot nicht unter seine Lieblingsromane aufnimmt, mag nun insofern verwundern, als dort in der ersten Gartenszene Vautrin Rastignac unmissverständlich seine Liebe erklärt und Rastignac in der zweiten Gartenszene auch auf den ihm angetragenen Pakt eingeht.13 Man könnte Charlus’ Desinteresse für Le Père Goriot nun daraus erklären, dass dieser Roman ja davon handelt, dass Vautrin bei seinem Vorhaben, Rastignac zu seinem Eleven und Geliebten zu machen, letzten Endes scheitert; doch wer die erste Gartenszene etwas genauer liest, den beschleichen doch Zweifel daran, ob Vautrins Versuch so gänzlich fehlgeschlagen ist. Es ist nämlich so, dass Vautrin, nachdem er sich Rastignac gegenüber zu erkennen gegeben hat, diesen sogleich mit der Beschaffenheit seines Körpers vertraut macht:

Tenez! dit cet homme extraordinaire en défaisant son gilet et montrant sa poitrine velue comme le dos d’un ours, mais garnie d’une crin fauve qui causait une sorte de dégoût mêlé d’effroi, ce blanc-bec m’a roussi le poil, ajouta-t-il en mettant le doigt de Rastignac sur un trou qu’il avait au sein. (CH III, 136)

Thematisch ist hier eine Schusswunde, die Vautrin in jungen Jahren bei einem Duell davongetragen hat, doch schon die „sorte de dégoût mêlé d’effroi“, die bei Rastignac der Blick auf die „poitrine velue“ Vautrins auslöst, spricht eine andere Sprache. Auf der Textoberfläche wird diese andere Sprache gleichermaßen befördert wie geleugnet, wenn Vautrin schließlich Rastignacs Finger in den dort befindlichen „trou“ einführt. Geleugnet wird sie aufgrund des religiösen Intertexts, wonach der Heilige Thomas, um den Glauben an die Wiederauferstehung Christi zu erlangen, seinen Finger in dessen Brustwunde legt (Joh. 20, 19–29). Verbuchstäblicht heißt dies, dass Rastignac an die Unverwundbarkeit und Allmacht Vautrins glauben soll. Davon einmal abgesehen, dass die Thomas-Episode bereits Malern wie Caravaggio dazu gereicht hat, die Wundenprobe recht kreatürlich darzustellen, wird das geleugnete homosexuelle Moment hier dadurch befördert, dass Rastignac seinen Finger in einen besonders behaarten „trou“ steckt, der bei ihm Ekel und Furcht erweckt. Hinzu kommt, dass Vautrin wenig später zum Abschied zu Rastignac sagen wird: „Vous savez mon secret“ und Rastignac darauf auf zweideutige Weise mit „Un jeune homme qui vous refuse saura bien l’oublier“ (CH III, 146) antwortet. Vordergründig gemeint ist Vautrins Angebot, den Bruder von Mlle Taillefer aus dem Weg zu schaffen, damit Rastignac die auf diese Weise erbberechtigte junge Frau heiraten und selbst zu Vermögen kommen könne. Doch auch hier hört man die Konnotation einer anderen Sprache.

Warum also zählt Charlus Le Père Goriot nicht zu seinen bevorzugten Balzac-Texten? Warum erwähnt er diesen Roman nicht, obwohl er sich doch gerade mit dem Vautrin aus Splendeurs et misères identifiziert und auch dessen Liebe zu Rastignac huldvoll gedenkt? Die Antwort hierauf erschließt sich, wie mir scheint, aus der ersten Erwähnung seiner Balzac-Kennerschaft – „il le sait par cœur“ (R II, 781) – auf der Soirée Guermantes, denn auf diese folgt direkt der nächtliche Besuch Marcels bei Charlus. Vorausgegangen ist diesem Besuch eine Einladung auf einem Nachmittagstee der Mme de Villeparisis, die beträchtliche Analogien zu der ersten Gartenszene aus Le Père Goriot aufweist und ihrerseits in einem angetragenen Pakt gipfelt. Marcel hat hierzu über Charlus Folgendes zu berichten:

« Revenons a vous, me dit-il, et à mes projets sur vous. [] Qui sait si vous n’êtes pas celui entre les mains de qui il peut aller, celui dont je pourrai diriger et élever si haut la vie? La mienne y gagnerait par surcroît. Peut-être en vous apprenant les grandes affaires diplomatiques y reprendrais-je goût de moi-même et me mettrais-je enfin à faire des choses intéressantes où vous seriez de moitié. Mais avant de le savoir, il faudrait que je vous visse souvent, très souvent, chaque jour. » (R II, 586ff.)

Wie Vautrin, der aufgrund seiner proletarischen Abkunft nicht selbst für eine glänzende Karriere in Frage kommt, will auch der vom ennui geplagte Baron durch seinen Zögling genießen und ihm zum Aufstieg in die höchsten gesellschaftlichen Sphären verhelfen. Dazu müsste sich aber Marcel, wie dies ja auch Rastignac hätte tun müssen, ganz in die Hände seines Förderers begeben. Charlus sagt dies wenig später unverblümt: „Le premier sacrifice qu’il faut me faire – j’en exigerai autant que je vous ferai de dons – c’est de ne pas aller dans le monde“ (R II, 589). Damit aber nicht genug. Um seine Forderung argumentativ vorzubereiten war Charlus zwei Sätze zuvor auf Balzac zu sprechen gekommen: Marcel möge nicht glauben, dass ihm die Frauen wie noch „au temps des romans de Balzac“ (ebd.) nützlich sein könnten und deshalb auch die Gesellschaft der Herzogin von Guermantes, die ebendieses noch glaube, meiden. Das ist nun schon deshalb schön, weil es hier ja gerade Charlus ist, der sich wie eine Romanfigur Balzacs, nämlich wie Vautrin verhält. Mme de Guermantes’ Bemerkung, Charlus kenne Balzac „par cœur“, wirkt damit auch zurück auf die Paktszene, die man dann im Sinne Luceys als insofern metaleptisch lesen könnte, als für Charlus bereits hier und nicht erst im petit train gilt: „il confondait sa situation avec celle décrite par Balzac, il se réfugiait en quelque sorte dans la nouvelle.“ (R III, 445)

In diesem Sinne ist die Bemerkung von Mme de Guermantes nun auch auf Prousts Umgang mit Balzac zu beziehen. Zwar delegiert Proust die Balzac-Metalepse an seine Figur, doch bleibt davon die Recherche nicht unberührt. Es ist im Gegenteil so, dass mit der Erwähnung Balzacs im Rahmen des homosexuellen Paktes das Projekt der Recherche selbst von einer konnotativen Sprache erfasst wird, die ihren Ursprung in der ersten Gartenszene des Père Goriot hat. Zur Debatte steht damit aber auch der Status Marcels, der ja ganz offensichtlich Rastignac nachgebildet ist. Was geschieht mithin während des Rendezvous bei Charlus? Dass etwas geschieht, dementiert der Text ebenso, wie dies im Père Goriot der Fall ist, und auch ähnelt Marcel Rastignac darin, dass er sich in der Folge wie dieser von einer verheirateten Frau, Mme de Guermantes, protegieren lässt. Nichtsdestoweniger steht das mitternächtliche Rendezvous von Anfang an im Zeichen der Homoerotik. Der Baron empfängt Marcel in einer „robe de chambre chinoise, le cou nu, étendu sur un canapé“ (R II, 842), und als dieser den ihm zugewiesenen „siège Louis XIV“ nicht erkennt und statt dessen auf einem anderen Sitzmöbel Platz nimmt, ruft er in spitzem Tonfall aus: „vous ne savez même pas sur quoi vous vous asseyez, vous offrez à votre derrière une chauffeuse Directoire pour une bergère Louis XIV“ (R II, 843). Das Wortfeld, aus dem sich hier Charlus bedient, lässt wenig Zweifel aufkommen, worum es ihm zu tun ist. Anders als die republikanische „chauffeuse Directoire“ ist die „bergère Louis XIV“ ein Königszeichen, in dem sich der auf seine hohe Abkunft versessene Charlus ganz offensichtlich spiegelt. Charlus, der sich zudem selbst gern mit Ludwig XIV. identifiziert, spricht hier also metonymisch und bekundet demnach auch sein Interesse für das Hinterteil Marcels nachgerade unverhohlen.14 Ganz in diesem Sinne bedient er sich wenig später eines phallisch konnotierten Vergleichs: „Comme dans Les Lances de Vélasquez, continua-t-il, le vainqueur s’avance vers celui qui est le plus humble et comme le doit tout être noble [], c’est moi qui ai fait les premiers pas vers vous.“ (R II, 844) Damit baut sich nun ein hohes Maß an erotischer Spannung auf, ja die Sprache des Barons scheint dem Geschehen bereits einen Schritt voraus zu sein. Wie sehr Sprechen und erotischer Vollzug dabei in der Tat aufeinander verweisen, wie sehr also die Konnotation gleichsam performativ ein ungezügeltes erotisches Imaginäres freisetzt, zeigt sich vorrangig an dem vermeintlich unbedarften Marcel, den die Sprache seines Gegenübers zu erfassen beginnt, als er an diesem zu beobachten meint, „qu’un jus olivâtre, hépatique, semblait prêt à sortir de sa bouche mauvaise“ (R II, 843). Marcel wird hier mithin dergestalt von der Konnotation überwältigt, dass sich diese zu einer phantasmatischen Körperlichkeit vergegenständlicht und sich der Mund des Barons, der die konnotative Rede hervorbringt, vor seinen Augen in ein sein Sekret kaum noch zurückhaltendes (Geschlechts-)Organ verwandelt.15 Dieser phantasmatische Zug erreicht seinen Höhepunkt, wenn Marcel schließlich einer weiteren Metamorphose ansichtig wird: „[C]ependant que, tandis que se crispaient les blêmes serpents écumeux de sa face, sa voix devenait tour à tour aiguë et grave comme une tempête assourdissante et déchaînée. [] M. de Charlus hurlait“ (ebd., 846). Marcel steht nunmehr gänzlich im Bann der performativen Sprache und es scheint mir kein Zufall, dass sich dieser Bann in einem hochgradig sexualisierten Medusenhaupt konkretisiert. In der petrarkistischen Tradition und so auch bei Ronsard steht das Medusenhaupt für den gefährlichen Blick der Geliebten, der den Dichter auf immer in Faszination bannt und damit schlechterdings verweiblicht.16 Die dort latent phallische Komponente gewinnt in Marcels Vision beträchtlich an Kontur, wenn aus dem Gesicht des Barons schäumende Schlangen schießen und dessen Stimme zugleich jeder Semantik und damit auch jeder Denotation verlustig geht. Die um ihre Denotationsfähigkeit gebrachte Stimme erweist sich so nun endgültig als Verkörperlichung der Konnotation. Sie kann nur noch die abgehackten Laute des Orgasmusstöhnens hervorbringen, sie wird zum Analogon des Schaums und damit reines Sekret.

Wem dies zu weit gegriffen scheint, der sei an eine Stelle aus Sodome et Gomorrhe verwiesen, wo sich unter Marcels Blick der Mund der alten Marquise de Cambremer – im Kontext scheinbar recht unpassend, wie auch Marcel bemerkt – in ein vaginales Phantasma verwandelt:

Chaque fois qu’elle parlait esthétique ses glandes salivaires, comme celles de certains animaux au moment du rut, entraient dans une phase d’hypersécrétion telle que la bouche édentée de la vieille dame laissait passer au coin des lèvres légèrement moustachues, quelques gouttes dont ce n’était pas la place. (R III, 203)

Auch hier ist die Konnotation „dont ce n’était pas la place“ von wesentlicher Bedeutung, verweist doch die „hypersécrétion“ auf den secret weiblicher bzw. lesbischer Lust, der Marcel seit der kurz zuvor beobachteten danse contre seins (R III, 191) zwischen Albertine und Andrée nicht mehr los lässt.

In unserer Stelle gebraucht Proust den Begriff des Sekrets nicht explizit und so wird man auch den Bezug zum Geheimnis nur erschließen können. Inwiefern es sich um ein solches handelt, lässt sich allerdings vielleicht gerade daran erkennen, dass sich aus der Vision Marcels auf der Handlungsebene auf den ersten Blick wenig Einschlägiges zu ergeben scheint. Dies liegt daran, dass Charlus seiner Stimme wieder Herr wird, die Denotationsfähigkeit wiedererlangt und sich alsbald in ein solches Superioritätsphantasma steigert, dass Marcel seinerseits von einer unbezähmbaren Rage erfasst wird und außer sich vor Wut Charlus’ Zylinder zertrampelt:

D’un mouvement impulsif je voulus frapper quelque chose, et un reste de discernement me faisant respecter un homme tellement plus âgé que moi, [] je me précipitai sur le chapeau haut de forme neuf du baron, je le jetai par terre, je le piétinai, je m’acharnai à le disloquer entièrement, j’arrachai la coiffe, déchirai en deux la couronne, sans écouter les vociférations de M. de Charlus qui continuaient et, traversant la pièce pour m’en aller, j’ouvris la porte. (R II, 847)

Auf der Ebene der Denotation wird klar, ja geradezu plakativ zwischen Charlus und dem Zylinder unterschieden. Die Zerstörung des Zylinders mit seiner „couronne“ ist also ein symbolischer Akt, der auf das Königszeichen, das Charlus für sich beansprucht und das ja auch die Insignie der Guermantes ist, abzielt.17 Der bürgerliche Marcel leugnet mithin die Überlegenheit des Barons und wenn er schließlich das Appartement verlässt, kann man dies als finale Absage an den ihm angetragenen Pakt lesen. Doch haben wir bereits oben gesehen, dass sich Charlus zu seiner „bergère Louis XIV“ in ein metonymisches Verhältnis gesetzt hat, und ein solches eignet auch dem „chapeau haut de forme“. Das ganze Marcel charakterisierende Wortfeld ist zudem von einer derartigen Heftigkeit – précipiter, jeter, piétiner, acharner, disloquer, arracher, déchirer – charakterisiert, dass sich die dergestalt bestimmte Handlung schon auf der Denotationsebene als eine Spannungs- bzw. Affektentladung lesen lässt. Hinzu kommt, dass einige der Verben Assoziationen zu einem gewaltsamen Geschlechtsakt wecken und auf diese Weise das hier thematische se faire casser le chapeau auch paronomastisch vorausdeutet auf jenes berüchtigte se faire casser le pot (R III, 840), mit dem Albertine in La Prisonnière ihre Homosexualität zu verraten scheint.18 Man kann daher die Vehemenz, mit der Marcel auf den zu Charlus metonymischen Zylinder stürzt, auf konnotativer Ebene so lesen, dass er hier das Asymmetrieverhältnis umkehrt und – um an den Velázquez-Vergleich anzuschließen – die Lanzenhoheit wiedererlangt. Wenn ich mich trotzdem (noch) für eine alternative Lektüre aussprechen möchte, so deshalb, weil die dem Zylinder angetane Gewalt in ein hochgradig phantasmatisches Bezugsgefüge eingelassen ist und Charlus, wie wir in Le Temps retrouvé erfahren, die höchste Lust nicht während der passiv empfangenen Penetration, dem se faire casser le pot, sondern durch an ihm ausgeübte rohe Gewalt erlebt. Dies lässt meines Erachtens eine zusätzliche Lesart zu, wonach Marcel, der sich ansonsten nicht eben durch Körperkraft oder gar Gewaltsamkeit auszeichnet, hier nicht nur von der performativen Sprache des Barons erfasst wird, sondern zugleich dessen eigentliches erotisches Begehren, den unter der phallischen Maske verborgenen Masochismus, gleichsam malgré lui erfüllt. Dass der solchermaßen aufgerufene Akt dabei im Modus der Metonymie ausgespielt wird, ist Teil von Prousts Textstrategie, die derjenigen Balzacs dahingehend nachgebildet ist, dass gerade die oberflächliche Leugnung einschlägiger Aktivität eine gegenläufige Semantik beschwört. In beiden Fällen befördert die Metonymie, wie mir scheint, ein Wissen um jenes „secret“, von dem Vautrin zu Rastignac spricht.

Steht nun aber die Nacht bei Charlus im Zeichen des Geheimnisses, so erklärt sich möglicherweise auch, weshalb Charlus Le Père Goriot gerade nicht unter seine Lieblingsbücher Balzacs aufnimmt. Die Auslassung wäre dann weniger einem Desinteresse geschuldet, als vielmehr als eine signifikante Leerstelle zu sehen, die in letzter Instanz Proust als Autor und mithin der kryptographischen Textstrategie der Recherche zuzuschlagen wäre. Proust, das wäre meine These in diesem Zusammenhang, spart also Le Père Goriot gerade deshalb aus, weil die Analogie so sehr ins Auge sticht. Es ist die Auslassung selbst, die uns auf ein im Text verborgenes Geheimnis, auf ein Schreiben im Zeichen des – wie es Eve Kosofsky Sedgwick genannt hat – ,Verstecks‘ stoßen soll.19 Erst so erklärt sich meines Erachtens, weshalb Charlus in dem oben bereits besprochen Passus so wehmütig an Rastignac denkt:

C’est si beau, le moment où Carlos Herrera demande le nom du château devant lequel passe sa calèche: c’est Rastignac, la demeure du jeune homme qu’il a aimé autrefois. Et l’abbé alors de tomber dans une rêverie que Swann appelait, ce qui était bien spirituel, La Tristesse d’Olympio de la pédérastie. (R III, 437)

Die angesprochene Stelle aus den Illusions perdues verweist zurück auf Le Père Goriot und gleiches leistet auch der Passus selbst. Die Analogie zwischen Vautrin und Charlus wird dadurch unterstrichen, dass sich beide in einem Transportmittel – der eine in der Kalesche, der andere im Zug – befinden, während sie der Vergangenheit gedenken. Die Traurigkeit des „Olympio de la pédérastie“, die Charlus auf sich selbst bezogen wissen will, speist sich damit aus einer rätselhaften, bei Balzac vorgeformten Begegnung mit einem „jeune homme qu’il a aimé autrefois“, und die Rede des Barons richtet sich demzufolge sowohl an den neben ihm sitzenden – opaken – Marcel als auch an den Leser, der das Bezugsgefüge erkennen und die diversen Leerstellen füllen soll.

Wenn nun allerdings Charlus im Anschluss an seine Rastignac-Rêverie auf den Tod Luciens de Rubempré zu sprechen kommt, so ist damit, wie mir scheint, nicht allein der Bogen zu seiner zweiten großen Liebe Charlie Morel geschlagen.20 Vielmehr ergibt sich dadurch auch eine implizite Handlungsprolepse bzw. eine weitere Metalepse, die man auf Marcel und die ihn hier zu den Verdurins begleitende Albertine zu beziehen hat. Charlus, durch den ein weiteres Mal Proust zu sprechen scheint, gibt uns mithin zu verstehen, wie wir La Prisonnière und den Folgeroman zu lesen haben: nämlich vor dem Hintergrund von Splendeurs et misères des courtisanes. Wie Vautrin, der eifersüchtig über Lucien und Esther wacht, wird Marcel Albertine bei sich festsetzen und diese nach ihrem Tod einen ganzen Band lang – in Albertine disparue – betrauern. Ohne dass Marcel dies hier auch nur zu ahnen vermöchte, wird sich also die „Tristesse d’Olympio de la pédérastie“ letzten Endes als die seine erweisen. Charlus ist hingegen ein anderes Schicksal beschieden. Zwar unternimmt er Versuche, Morel zu kontrollieren, doch scheitern diese Versuche – wie das vorgetäuschte Duell oder die vaudevilleartige Charade im Bordell von Maineville (R III, 451ff., 463ff.) – sämtlich im Zeichen grotesker Komik. Fast scheint es also, als verabschiede sich Charlus gerade dort von seiner Rolle als Vautrin, wo er sie im höchsten Maße beschwört und mit der Erwähnung des Todes von Lucien zugleich an Marcel weitergibt. Er selbst, der bereits anlässlich von La Princesse de Cadignan an eine „infortune qui le menaçait peut-être“ (R III, 445) denken musste, verwandelt sich nach und nach dem von ihm nie erwähnten Père Goriot an. Ebenso wie Goriot die unmäßige Liebe zu seinen undankbaren Töchtern bringt auch ihn die Liebe zu dem nicht minder undankbaren Fast-Adoptivsohn Charlie Morel zu Fall. Auch das mag ein Grund sein, warum er Le Père Goriot nicht nennt, denn das Schicksal des ehemaligen Nudelhändlers birgt für ihn eine ähnlich proleptische Dimension wie der Tod Luciens für Oscar Wilde.

III

Will man sich der bisher vorgeschlagenen Lektüre anschließen, so stellen die Ausführungen, die Charlus im petit train zu Balzac anstellt, eine zentrale poetologische mise-en-abyme der Recherche dar, aus der sich nicht nur ein dichtes Bezugsgefüge ergibt, sondern an der sich auch der von Lucey konstatierte metaleptische Charakter der Proustschen Schreibweise erkennen lässt. Charlus, der wie Marcel ein Alter ego Prousts ist, erweist sich damit als eine Art Spielführer, der, indem er sich selbst mit Figuren Balzacs ,verwechselt‘, diese Verwechslung auch auf andere Figuren der Recherche überträgt.21 Man sieht das sehr schön an Marcel, für den der Abend bei den Verdurins ein völlig anderes Ende nimmt als jenes, das er eigentlich geplant hatte. Es ist nämlich so, dass Marcel die Rückreise im petit train zum Anlass hätte nehmen wollen, sich endgültig von Albertine loszusagen. Statt dessen schließt Sodome et Gomorrhe mit dem denkwürdigen, an die Mutter adressierten Satz „il faut absolument que j’épouse Albertine“ (R III, 515).

Ist es Marcel ursprünglich darum zu tun, Eindeutigkeit zu schaffen, so handelt er sich mit Albertine in jeder Hinsicht das Gegenteil ein, ja man kann sagen, dass es gerade dieses Gegenteil von Eindeutigkeit ist, das, indem es die unabschließbare Albertinen-Semiose in Gang setzt, erst den Motor für die folgenden beiden Bände darstellt. Es scheint mir daher auch nicht zufällig, dass die Rückreise nach Balbec zunächst im Zeichen der wild wuchernden Etymologien des Sorbonne-Professors Brichot steht, denn damit ist bereits ein hermeneutischer Prozess vorweggenommen, der durch den Anschein dringen will und sich doch in einer kaum noch zu kontrollierenden Bedeutungsvielfalt verstrickt. In gewisser Weise erteilen die etymologischen Überlegungen Brichots, gerade weil sie ganz offensichtlich Wissenschaftsparodien sind, jedem Vereindeutigungsbegehren, jeder Hoffnung nach gesichertem Wissen eine Abfuhr. Um welches Wissen es dabei letztlich geht, zeigt sich an dem Anlass von Marcels überstürztem Gesinnungswechsel. Folgt direkt auf die etymologischen Betrachtungen noch die Überzeugung „je n’attendais qu’une occasion pour la rupture definitive“ (R III, 497), so bricht diese Überzeugung just in dem Moment zusammen, als Albertine vermeintlich beiläufig erklärt, ihre „meilleurs années“ (ebd., 499) mit Mlle Vinteuil und deren Freundin verbracht zu haben.

Diesen Gesinnungswandel, so abrupt er inszeniert wird, hat Proust von langer Hand vorbereitet, denn die Montjouvain-Episode, bei der Marcel heimlich Mlle Vinteuil und ihrer Freundin beim Liebesspiel zusieht, gehört nicht nur zu den frühesten Szenen von Homosexualität (R I, 158), sondern ist auch eines der zentralen Phantasmen der Recherche überhaupt.22 In Montjouvain hatte der noch jugendliche Marcel durch ein nächtlich erhelltes Fenster beobachtet, wie sich Mlle Vinteuil und ihre Freundin, um einander sexuell zu erregen, dazu anschickten, auf die Photographie des soeben verstorbenen Komponisten Vinteuil zu spucken. Der Akzent – und das ist das Entscheidende – liegt hier auf der Unabgeschlossenheit der Szene, denn noch bevor es zu dem eigentlichen Profanierungsakt kommt, wird vor den Augen Marcels der Vorhang zugezogen. Montjouvain, und nicht erst dessen Bezug zu Albertine, birgt also wiederum in sich ein Geheimnis, und auf dieses Geheimnis richtet sich von Anfang an Marcels volonté de savoir.23

Eben hierdurch unterscheidet sich Marcel denn auch grundlegend von seiner Rollenmaske als Rastignac. Während dieser vaterlose junge Mann durch Zufall in den Bannkreis Vautrins gerät, ist Marcels Begehren spätestens seit der Montjouvain-Episode homosexuell grundiert. Die Montjouvain-Episode nimmt somit auch den Anfang von Sodome et Gomorrhe vorweg, wo Marcel erstmalig die mann-männliche Spielart der Homosexualität beobachtet. Das soll nicht heißen, dass Proust zwischen Sodom und Gomorrha, zwischen männlicher und weiblicher Homosexualität keinen Unterschied machte; nichtsdestoweniger sind die beiden Spielarten schon deshalb aufeinander bezogen, weil Marcel auch den Akt zwischen Charlus und Jupien nicht eigentlich sieht und statt dessen in einem an den Ort des Geschehens anschließenden Kellerraum nur unartikulierte Laute vernimmt, die ihrerseits wiederum auf das konnotative Sprechen des Barons während des nächtlichen Rendevous mit Marcel zurückverweisen. Was nun die Homosexualität angeht, so ist es in diesem Zusammenhang nicht unbeträchtlich, dass der Erzähler im Anschluss an die Charlus/Jupien-Episode in seinem einigermaßen deutlich an Balzac gemahnenden ,soziologischen‘ Exkurs zur „inversion“ (R III, 18) diese mit dem Judentum und dem Zwang zur Heimlichkeit wie dessen weltweiter Ausbreitung in der Diaspora vergleicht. Dass Proust damit die beiden für ihn problematischen Aspekte seiner Persönlichkeit kurzschließt, ist bekannt. Umso aufschlussreicher scheint es daher, wenn La Prisonnière durchweg im Zeichen eines Textes steht, in dem es um die Frage des Verbergens bzw. die Offenlegung jüdischen Glaubens geht. Ich meine Racines spätes alttestamentarisches Drama Esther, das sich durch den ganze Roman wie ein roter Faden zieht und aus dem sowohl Marcel als auch Albertine immer wieder auswendig zitieren. Esther, die Gattin des Perserkönigs Assuérus, verschweigt ihr Judentum und mit diesem ihre radikale Alterität, ihr „qui vous êtes“ (v. 190)24, denn sie muss fürchten, dass eine Selbstbekundung ihrer Situation schade bzw. für sie tödlich ende. Erst als das Leben der Juden in Persien bedroht ist, offenbart sie sich und bewirkt dadurch, dass der König ihren Oheim Mardochée zum zweiten Mann im Staate macht und auf diese Weise die zuvor nicht assimilierbare Alterität des Judentums in eine neue symbolische Ordnung integriert. Die Ähnlichkeit zu La Prisonnière wird man nicht zu betonen haben, verschweigt doch Albertine ebenso hartnäckig ihr „qui vous êtes“, wie sich Marcel wiederholt mit Assuérus identifiziert. Dieses Rollenspiel gipfelt darin, dass die beiden die Offenbarungsszene nachempfinden und Albertine mit den Worten des Königs auf die Todesgefahr eines Geständnisses – „Quel mortel insolent vient chercher le trépas“ – hinweist, während sich Marcel darum bemüht, sie mit den Worten eben dieses Königs – „Est-ce pour vous qu’est fait cet ordre sévère“ (R III, 627) – des Gegenteils zu versichern. Marcel scheint indes seinen Worten nicht recht Glauben zu schenken, ruft er doch schon wenig später, „Pensez, Albertine, s’il vous arrivait un accident!“ (ebd.), aus und nimmt damit den Tod Albertines bereits vorweg. Albertine bewahrt im Gegenzug ihr „qui vous êtes“ für sich, wodurch ihre Beziehung zu Marcel denn auch ein zu Esther gegenläufiges Ende nimmt. Anders als bei Racine, wo es ja zu einer dialektischen Synthese und damit zur Integration von Alterität kommt, bleibt in La Prisonnière und auch noch in Albertine disparue die Alterität gewahrt und zwar als ein hermeneutisches Skandalon für Marcel. Gerade also, weil Albertine ihr „qui vous êtes“ nicht offenbart, kann sie selbst lange nach ihrem Tod für ihn als ungebrochenes Faszinosum fortbestehen und sein Imaginäres als unauflösliche Figur der différance konturieren.25

Damit ist allerdings noch kein Bezug zu Balzac gegeben. Nur ist es eben so, dass Proust auch hier, wie schon anlässlich von Le Père Goriot, ein indirektes Bezugsgefüge wählt, denn der Name der Esther, ich habe es bereits angedeutet, verweist zugleich auf die jüdische Geliebte Luciens. Auch erklärt sich erst vor dem Hintergrund von Splendeurs et misères das Motiv der Gefangenschaft, das ja in dieser Form bei Racine nicht explizit vorgeformt ist. Balzac hat indes Racine gut genug gelesen, um sich der Offenbarungsproblematik in noch deutlich verschärfter Form zu bedienen. Nicht nur wird die ehemalige Kurtisane Esther Gobsec von Vautrin gezwungen, zum Christentum überzutreten, auch wird sie als ein skandalöses Zeichen verborgen gehalten. Esther, auf der sich Prostitution und Judentum überschneiden, darf nicht an die Öffentlichkeit treten, sie muss also ein Geheimnis bleiben, das nur Vautrin und Lucien teilen. Ich hatte oben bereits darauf hingewiesen, dass auf diese Weise männliche Homosexualität und Kurtisanenwesen in ein Korrelationsverhältnis treten, die jüdische Kurtisane Esther mithin als ein Caché für das homosexuelle Verhältnis von Vautrin und Lucien lesbar wird. Ich will den Punkt nicht überstrapazieren, doch scheint es mir kein Zufall in der Ökonomie des Romans zu sein, dass Esther, sobald sie ihr Gefängnis verlässt, in der Tat die Demaskierung von Lucien und Vautrin einleitet. Aus den ihr von Vautrin gewährten nächtlichen Ausfahrten in den Bois de Boulogne ergibt sich die Bekanntschaft mit Nucingen, im Zuge deren sie sich zum Wohle Luciens widerwillig erneut als Kurtisane betätigt und als sie schließlich nach der Nacht mit Nucingen Selbstmord begeht, bewirkt dies umgehend die Inhaftierung von Lucien und Vautrin.

Tritt in Splendeurs et misères auf diese Weise das Geheimnis an die Oberfläche, so bleibt es in La Prisonnière und auch in Albertine disparue verhüllt. Zwar beschäftigt Marcel in letzterem Roman eine Reihe von Mittelsmännern, die ihm sämtlich Beweise für Albertines Homosexualität vorlegen, doch findet er hier immer wieder Argumentationsgänge, durch die er diese für befangen erklären kann. Das gilt selbst noch für Albertines Freundin Andrée, mit der er ein unlauteres Liebesverhältnis eingeht und die ihm au lit aus erster Hand allerlei Pikantes zu berichten weiß. Man kann all dies gleichsam als einen ,Willen zum Unwissen‘ lesen, ähnelt doch Marcel in Albertine disparue einem König Ödipus, der seinen Informanten keinen Glauben schenkt und partout nicht sehen will. Auf der Handlungsebene wird das ödipale Motiv dahingehend bestätigt, dass es im dritten Teil des Romans, dem Venedig-Teil, auch wieder zu einer Rückbindung an die Mutter kommt, die von Anfang an, seit dem drame du coucher, für ein inzestuöses Begehren stand. Und dennoch ist es nicht so, dass Marcel einfach seine Mutter genießen könnte. Albertine, obgleich tot, ist nicht aus der Welt, ja gerade in Venedig ersteht sie wieder auf, wenn Marcel, wie er glaubt, von ihr ein Telegramm erhält:

mon ami vous me croyez morte, pardonnez-moi, je suis très vivante, je voudrais vous voir, vous parler mariage, quand revenez-vous. tendrement, albertine. (R IV, 220)

Wenn Marcel hier, wie wir später erfahren, irrtümlicherweise statt Gilberte Albertine liest, handelt es sich dabei um eine Form der Fehlleistung, die es ihm erlaubt, eine reumütige Albertine zu imaginieren, eine Albertine, die mit ihm die Ehe eingehen will, und damit vor allem eine Albertine, die kein Rätsel mehr für ihn darstellt. Dies jedoch nicht, weil er eine solche Albertine auch wirklich haben will, sondern im Gegenteil, um sie zurückzuweisen und seine Autonomie von ihr zu behaupten. In gewisser Weise ist damit die Fehlleistung dann auch so zu verstehen, dass er aus Albertine eine Gilberte machen will, mithin eine ehemalige Liebe, die ihn nicht mehr verfolgt.

Auf der Textoberfläche scheint das alles durchaus zu funktionieren. Bei seiner Rückkehr nach Paris ist von Albertine kaum noch die Rede. Dafür verkehrt Marcel wieder in der Gesellschaft, trifft sich mit Gilberte und lernt schliesslich, dass diese ihn schon in Kindertagen, in Combray, spontan geliebt habe. Wer dies als ein spätes happy ending im Zeichen heteronormativen Begehrens lesen will, muss dabei freilich einiges unberücksichtigt lassen. Denn zwar scheint Albertine nunmehr aus dem Roman getilgt, doch erfahren wir dafür, dass Robert de Saint-Loup, Marcels Jugendfreund und mittlerweile der Ehemann Gilbertes, ein leidenschaftliches Verhältnis zu eben jenem Charlie Morel unterhält, für den zuvor Charlus entbrannt war. Wenn vor diesem Hintergrund Marcel Gilberte in Tansonville besucht und zu seinem großen Staunen erkennt, dass die beiden Wege – der nach Méséglise und der nach Guermantes –, die er in seiner Kindheit und Jugendtagen für diametral entgegengesetzt gehalten hatte, in der Tat miteinander in Verbindung stehen, so stellt dies zunächst einmal eine topographische Allegorie der zusammengebrochenen Klassenstruktur dar, für die ja Gilberte selbst einer der besten Belege ist. Doch darf man dabei nicht vergessen, dass der Weg nach Méséglise eben auch nach Montjouvain führt. Ich würde daher meinen, dass es Proust bei seiner topographischen Allegorie in letzter Instanz auch um eine Verschwisterung von Sodome und Gomorrhe geht. Dies lässt sich schon daran ablesen, dass just nachdem Marcel Albertine bewältigt zu haben scheint, mit der bislang nur vage angedeuteten Homosexualität Saint-Loups die Figur der inversion neuerlich zum Tagen kommt. Die gänzliche Entdifferenzierung ergibt sich jedoch erst, nachdem Marcel jenes bereits eingangs erwähnte Männerbordell besucht hat, auf das er gerade dadurch aufmerksam wird, dass er daraus Saint-Loup in die Nacht entschwinden sieht. Doch der Reihe nach.

Ein erster Hinweis auf die grundlegende Entdifferenzierung gibt uns Charlus, während er noch mit Marcel die Boulevards hinabspaziert. Unter dem Bombenhagel der Deutschen werde Paris „notre Pompéi“ (R IV, 385), und das umso mehr, als sich dort, im historischen, soeben ausgegrabenen Pompeji, auf einer Hauswand folgendes Graffiti befinde: „Sodoma, Gomora“ (R IV, 386). Charlus verfolgt den Gedanken nicht weiter und kommt statt dessen auf seine Bewunderung für die strammen deutschen Soldaten zu sprechen, bevor er sich von Marcel verabschiedet, der dann seinen Weg durch die Nacht allein fortsetzt. Während Marcel, offenbar inspiriert von der Pompeji-Assoziation, allerhand orientalistischen Phantasien nachhängt und mit den „Mille et une Nuits“ (R IV, 388) auch bereits jenen Text evoziert, der ihm ganz am Ende als Sinnbild für die Schreibsituation seines eigenen Romans erscheinen wird (R IV, 620), sieht er plötzlich einen „officier“ aus einem Hotel huschen und hält diesen, wie gesagt, für Saint-Loup. Dass es sich bei dem vermeintlichen Hotel um ein Männerbordell handeln könnte, kommt Marcel – kurioserweise – nicht in den Sinn, denn nur, weil er das Hotel für eine Spionagehöhle hält, wagt er sich überhaupt dorthinein.

Was in Anbetracht der vorgängigen Isotopien nachgerade absurd erscheinen muss26, hat nun dahingehend seinen Sinn, dass es dem Erzähler und damit Proust die Gelegenheit bietet, ein sich über einige Seiten erstreckendes Balzac-Pastiche vorzulegen (R IV, 389–94), das den Unterweltszenen aus Splendeurs et misères oder der Histoire des Treize entstammen könnte.27 Es wird ein Chef erwartet, Decknamen finden Verwendung, es ist von geheimnisvollen Zimmern die Rede und man bringt schließlich Ketten, „capables d’attacher plusieurs forçats“ (R IV, 392). Daß der sensible Marcel ausgerechnet in diesem Ambiente um ein Zimmer bittet, entbehrt nicht der Komik, es erlaubt jedoch Proust mit einer Enthüllung aufzuwarten, wodurch die von Balzac geborgte Szenerie auf die hinter ihr verborgene Homosexualität gleichsam transparent wird. Marcel hört auf dem Weg zu dem ihm angewiesenen Zimmer Stimmen, Ächzen, Schreie, er tritt in ein leeres Zimmer, und der Zufall will es, dass sich dort ein Spion befindet, durch den er in den angrenzenden Raum blicken kann. Dort befindet sich ans Bett gekettet Charlus, der sich blutverschmiert von einem Apachen auspeitschen lässt.

Man sollte nicht vergessen, dass dies die erste und einzige Szene ist, in der Marcel eine homosexuelle Handlung wirklich sieht. Und dass er diese gleichsam durch Balzac sieht, scheint mir eine wesentliche poetologische Leistung dieser ansonsten fast aberwitzigen Sequenz. Damit aber nicht genug. Die Bomben gehen über dem Viertel nieder, die Gäste verlassen überstürzt das Männerbordell, was es nach sich zieht, dass nun etwas geschieht, das, wie ich denke, das Gegenstück zu Marcels Blick durch den Spion ist:

Plusieurs [] furent tentés par l’obscurité qui s’était soudain faite dans les rues. Quelques-uns même de ces Pompéiens sur qui pleuvait déjà le feu du ciel descendirent dans les couloirs du métro, noirs comme des catacombes. Ils savaient en effet de n’y être pas seuls. Or l’obscurité qui baigne toute chose comme un élément nouveau a pour effet, irrésistiblement tentateur pour certaines personnes, de supprimer le premier stade du plaisir et de nous faire entrer de plain-pied dans un domaine de caresses où l’on n’accède d’habitude qu’après quelque temps. Que l’objet convoité soit en effet une femme ou un homme, même à supposer que l’abord soit simple, et inutiles les marivaudages qui s’éterniseraient dans un salon (du moins en plein jour), le soir (même dans une rue si faiblement éclairée qu’elle soit), il y a du moins un préambule où les yeux seuls mangent le blé en herbe, où la crainte des passants, de l’être recherché lui-même, empêchent de faire plus que de regarder, de parler. Dans l’obscurité, tout ce vieux jeu se trouve aboli, les mains, les lèvres, les corps peuvent entrer en jeu les premiers. Il reste l’excuse de l’obscurité même et des erreurs qu’elle engendre si l’on est mal reçu. Si on l’est bien, cette réponse immédiate du corps qui ne se retire pas, qui se rapproche, nous donne de celle (ou celui) à qui nous adressons silencieusement, une idée qu’elle est sans préjugés, pleine de vice, idée qui ajoute un surcroît de bonheur d’avoir pu mordre à même le fruit sans le convoiter des yeux et sans demander permission. (R IV, 413)

Auf diesen Passus, so will mir scheinen, läuft die Recherche letztlich hinaus, denn hier verfügt der Erzähler erstmals über ein Wissen, das er nicht hätte erlangen können, wäre nicht Marcel von der Dunkelheit in Versuchung geführt worden, wäre nicht Marcel in die finsteren Schächte der Metro hinabgestiegen und hätte er dort nicht ein Wissen über eine Sexualität erlangt, in der die Grenze zwischen männlichen und weiblichen Partnern schon deshalb aufgehoben ist, weil sich niemand mehr sicher sein kann, mit wem er da verkehrt. Abgeschafft sind das alte Spiel der Sprache und damit das Symbolische überhaupt. Hände, Lippen, Körper scheinen in der Dunkelheit gleichsam zu wuchern, ohne dass sie sich dabei noch eindeutig einem Geschlecht zuordnen ließen. Das ist der wahrhaft pompejanische Schluss der Recherche, in dem nicht nur Sodome und Gomorrhe zusammenfallen, sondern zugleich auch der Unterschied von Hetero- und Homosexualität aufgehoben ist.

Damit wird nun aber auch die Medusa in ihr Recht gesetzt. Noch phantasmatisch während des nächtlichen Rendezvous bei Charlus, hatte sie Marcel erstmals explizit evoziert, kurz bevor er Charlus und Jupien zu Anfang von Sodome et Gomorrhe in den Keller des Hôtel de Guermantes gefolgt war. Unvermittelt und gleichsam pathetisch wird sie dort im Vokativ beschworen: „Méduse!“ (R III, 28) Zwar ist damit, wie man sogleich erfährt, die Qualle gemeint, doch wenn diese in Marcel nicht nur eine gewisse Abscheu, sondern eben auch eine Blickhemmung auslöst – „mais si je savais la regarder“ (ebd.) –, wird die Qualle wiederum in die mythische Figur rückübersetzt. Hinzu kommt, dass es in der darauf folgenden Kellerszene ja in der Tat um Abscheu, Faszination und vor allem ein Nicht-Hinsehen-Können geht. Im Schacht der Metro ist all dem die reine Faszination gewichen und die Medusa schon deshalb um ihre Gefährlichkeit gebracht, da man ihr nicht mehr ins Antlitz blicken muss, sondern sich getrost in die schlangenartigen Arme der Unsichtbaren fallen lassen darf. Stellt nun aber die damit aufgerufene Entdifferenzierungsfigur den wahrhaft pompejanischen Schluss der Recherche dar, so heißt das freilich auch, dass es bei der Suche Marcels schon länger nicht mehr nur um die verlorene Zeit ging. Von der frühen Montjouvain-Episode vorgeprägt und von Charlus nicht minder fasziniert wie von Albertine, hat sich Marcel vielmehr immer tiefer in eine weitangelegte Erforschung der Homosexualität verstrickt. In den Armen der Medusa kommt diese Erforschung ans Ziel, dies jedoch um den Preis, dass Marcel als Instanz des Erlebens gleichsam verlischt, er sich also von einer Sprache verabschieden muss, über die dann nur noch der Erzähler verfügt. Rainer Warning hat diese hier gipfelnde Bewegung zu Recht als „eine wahnsinnsnahe Neugier, die phantasmatisch projektive und darin utopische Besetzung von Neuem ist“28, beschrieben, und ich würde nur hinzusetzen wollen, daß dieser wahnsinnsnahen Neugier, in der sich die Recherche als Suche und Untersuchung erfüllt, die Figur des Marcel hier nicht mehr standhalten kann.29 Nur wenige Seiten später wird er sich in eine, wie es heißt, „nouvelle maison de santé“ einweisen lassen, „[qui] ne me guérit plus que la première“ (R IV, 433).

Es ist dieses „[qui] ne me guérit plus“ der Figur, das, so denke ich, den Anstoß für deren Schreibprojekt darstellt. Die Recherche nimmt ihren Anfang an einem unscharfen, unbenannten Ort, in der Dunkelheit der Nacht. Das berühmte „Longtemps, je me suis couché de bonne heure“ (R I, 3), mit dem die Recherche einsetzt, verweist dabei voraus auf die Gewißheit, die Marcel ganz am Ende erlangt: „Si je travaillais, ce ne serait que la nuit“ (R IV, 620). Ich würde daher auch meinen, dass die Recherche in jener „nouvelle maison de santé“ beginnt. Sie ist Ausdruck einer unheilbaren, wahnsinnsnahen Neugier, die sich nur in einer Schrift vollziehen kann, die die Nacht im Metroschacht so lange wie möglich aufschiebt und zugleich als nächtliches Schreiben auf sie zuläuft. Paradigmatisch hierfür steht wiederum die wiederum nächtliche Teileinsicht in die Geschehnisse in Montjouvain, denn, wie es Warning gefaßt hat, die „Suche würde zusammenbrechen, wenn sie zur nackten Ansicht führte.“30 Die wahnsinnsnahe Neugier und den Aufschub der nackten Ansicht verbindet Proust mit Balzac. Und vielleicht ist es ja so, dass wir erst durch Proust so mancherlei in Balzac ansichtig werden.


  1. Die komplexe Erzählsituation der Recherche ist vielfältig ausdifferenziert worden. Ich unterscheide auf die Gefahr übergebührlicher Vereinfachung hin, indes der Klarheit halber, zwischen der erlebenden Figur Marcel, dem Erzähler als extradiegetischer Instanz eines Wissens, das der Figur so nicht zuhanden ist, sowie Proust als Autor.

  2. Dieser in Le Temps retrouvé nicht realisierte, letzte Aufstieg Gilbertes wird in Albertine disparue vorweggenommen, wenn es dort bezüglich des neuen monde heißt: „Sans doute ne songent-ils pas à rechercher les causes de l’accident qui fit de Mlle Swann Mlle de Forcheville, et de Mlle de Forcheville la marquise de Saint-Loup puis la duchesse de Guermantes“, R IV, 248. Ich zitiere À la recherche du temps perdu durchweg nach der vierbändigen, von Jean-Yves Tadié besorgten Pléiade-Ausgabe (Paris: Gallimard 1987–89) unter der Sigel R und der Angabe von Band und Seitenzahl.

  3. Zur „inversion“ als grundlegendem formalen Prinzip der Recherche siehe erstmals Roland Barthes, „Une idée de recherche“, in Recherche de Proust, hrsg. von Gérard Genette und Tzvetan Todorov (Paris: Seuil 1980), 34–9, hier insb. 36–7.

  4. Auf den Bezug von Elstirs Ästhetik zu der sexuellen „inversion“ hat bereits Rainer Warning hingewiesen und den Port de Carquethuit demzufolge auch als eine metapoetische mise-en-abyme gelesen, in der die für die Recherche grundlegende Dekonstruktionsbewegung vorgezeichnet ist. Vgl. „Zu Prousts ,impressionistischem Stil‘: 1. Proust und Flaubert. 2. Le port de Carquethuit“, in ders., Proust-Studien (München: Fink, 2000), 51–76, hier insb. 86–7.

  5. Zur différance als unabschließbare Semiose im Zeichen von Aufschub und Verschiebung vgl. den hierfür einschlägigen, weithin bekannten Aufsatz von Jacques Derrida, „La différance“ (1968), in ders., Marges de la philosophie (Paris: Minuit 1972), 1–30, hier 8–9.

  6. Zur ,Deprogrammierung‘ als die dialektische Überwindung von Restbeständen feudaler Narrative siehe Fredric Jameson, „The Existence of Italy“, in ders., Signatures of the Visible (London u.a.: Routledge, 1992), 155–229, hier 164–7.

  7. Ich zitiere die Comédie humaine durchweg nach der von Pierre-Georges Castex besorgten Pléiade-Ausgabe (Paris: Gallimard, 1976ff.) unter Angabe von Band und Seite.

  8. In der Tat vergehen zwischen diesen beiden Ereignissen „beaucoup d’années“, R IV, 433, die der Erzähler in einem Sanatorium verbringt, die jedoch in der Erzählung selbst elliptisch bleiben.

  9. Vgl. hierzu auch Gregor Schuhen, Erotische Maskeraden: Sexualität und Geschlecht bei Marcel Proust (Heidelberg: Winter, 2007), 117.

  10. Michael Lucey, The Misfit of the Family: Balzac and the Social Forms of Sexuality (Durham u. London: Duke UP, 2003).

  11. Michael Lucey, „Proust’s Queer Metalepses“, Modern Language Notes 116, Nr. 4 (2001): 795–815.

  12. Vgl. hierzu Stephan Leopold, „Balzac und die Volkssouveränität: Chronotopien des Politischen im Cycle Vautrin“, lendemains 144 (2011): 93–117, hier insb. 100–3.

  13. Man darf sich hier auch daran erinnern, dass Marcel Charlus anläßlich ihrer ersten Begegnung in Balbec seinerseits in Zeichen des Verbrechens – „escroc d’hotel“, „voleur“, R II, 111 – situiert.

  14. Zu Charlus’ Begeisterung für Ludwig XIV. siehe knapp Anka Mulstein, Die Bibliothek des Monsieur Proust, übers. v. Christa Krüger (Berlin: Insel 2013), 81–6. Zu Prousts Vorliebe für die Metonymie vgl. Gérard Genette, „Métonymie chez Proust“, in ders., Figures III (Paris: Seuil, 1993), 41–66.

  15. Zur sexuellen Konnotation von Speichel und Sprache siehe Ulrike Sprenger, Stimme und Schrift: inszenierte Mündlichkeit in Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘ (Tübingen: Narr, 1995), 100.

  16. Vgl. Stephan Leopold, Die Erotik der Petrarkisten (München: Fink, 2009), 212–3.

  17. Vgl. hierzu ansatzweise Sprenger, Stimme und Schrift, 101. Die revolutionäre Reminiszenz dieser Handlung hat Lisa Zeller in ihrer im Erscheinen begriffenen Mainzer Dissertation, Auf der Suche nach der verlorenen Männlichkeit: politische Allegorien im französischen Roman um 1900, einlässlich beleuchtet.

  18. Den Hinweis auf die paronomastische Analogie von chapeau und pot verdanke ich Lisa Zeller. Rainer Warning hat anlässlich der Szene im Männerbordell in Le Temps retrouvé das se faire casser le pot ferner zum Anlass genommen, Marcel mit Charlus zu verschwistern. Vgl. Rainer Warning, Ästhetisches Grenzgängertum: Marcel Proust und Thomas Mann (München: C.H. Beck 2012), 35.

  19. Vgl. hierzu Eve Kosofsky Sedgwick, Epistemology of the Closet (Berkeley: U. of California P. 1990), 213–52.

  20. Vgl. in diesem Sinne Francine Goujon, „Morel, ou la dernière incarnation de Lucien“, in Bulletin d’informations proustiennes 32 (2001/02): 41–62.

  21. „Quel malheur que M. de Charlus ne soit pas romancier“, R IV, 410, so wird Marcel selbst gegen Ende der Recherche sagen. Zu Charlus als Figura auctoris siehe Sprenger, Stimme und Schrift, 104–11.

  22. Vgl. hierzu maßgeblich Rainer Warning, „Gefängnismusik: Feste des Bösen in ‚La prisonnière“‘, in ders., Proust-Studien (München: Fink, 2000), 109–40.

  23. Zur scientia sexualis im ausgehenden 19. Jahrhundert und deren mise en discours der Devianz siehe Michel Foucault, Histoire de la sexualité I: la volonté de savoir (Paris: Gallimard, 1976), 84–98.

  24. Jean Racine, Esther: tragédie tirée de l’Écriture sainte (1689), in Œuvres complètes, Bd. I: Théâtre – Poésie, hrsg. von Georges Forestier, Bibliothèque de la Pléiade (Paris: Gallimard, 1999), 943–999.

  25. Derrida, „La différance“, vgl. dazu Anm. 5.

  26. Es sei denn, man liest Spionage wiederum als Caché für Homosexualität. Vgl. hierzu ansatzweise die Anmerkungen zur sog. Eulenburg-Affäre in Schuhen, Erotische Maskeraden, 62.

  27. Auf die Histoire de Treize war Charlus bereits am Ende von Marcels nächtlichem Besuch zu sprechen gekommen: „il y a des choses qu’on ne peut demander, ni faire, ni vouloir, ni apprendre par soi-même, on le peut à plusieurs, et sans avoir besoin d’être treize comme dans le roman de Balzac“, R II, 854.

  28. „Heterotope Subjektivität: Rousseau ­– Stendhal – Proust“, in Planet Rousseau: zur heteronomen Genealogie der Moderne, hrsg. von Stephan Leopold und Gerhard Poppenberg (München: Fink, 2015), 73–94, hier 91.

  29. Vgl. hierzu auch Roger Shattuck, „Lost and Found: the Structure of Proust’s Novel“, in The Cambridge Companion to Proust, hrsg. von Richard Bales (Cambridge: Cambridge U. P., 2001), 74–84, hier 82.

  30. Warning, Ästhetisches Grenzgängertum, 24.





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