Histoire de la violence oder wie Gewalt entsteht

Daniel Fliege

Édouard Louis, Histoire de la violence (Paris: Seuil, 2016).

Nach seinem viel besprochenen – sowohl gelobten, stark bis polemisch diskutierten wie auch abgelehnten – Debütroman Pour en finir avec Eddy (2014 bei Seuil erschienen) veröffentlicht der erst 23-jährige Édouard Louis nun seinen zweiten ebenfalls autobiographischen Roman. In Histoire de la violence schildert Louis, wie er in der Nacht auf den 25. Dezember 2012 Reda, einen ihm unbekannten Mann kabylischer Abstammung, begegnet, von dem er stark angezogen wird und den er nach anfänglichem Zögern in seine Wohnung lässt. Sie verbringen die Nacht miteinander, doch was als sehr zärtliche Begegnung beginnt, schlägt plötzlich in Gewalt um, in deren Spirale Reda Édouard zu erdrosseln versucht und vergewaltigt.

Histoire de la violence ist jedoch nicht einfach ein Bericht eines versuchten Mordes mit anschließender Vergewaltigung. Denn das Ganze wird perspektivisch gebrochen, indem Édouard die Geschichte anderen Personen erzählt, der Krankenschwester, Ärzten, Polizisten oder auch seinen Freunden Geoffroy und Didier (bei denen es sich um den Soziologen Geoffroy de Lagasnerie und den Philosophen Didier Eribon handelt). Hauptsächlich wird das Geschehene von seiner zu diesem Zweck frei erfundenen Schwester erzählt. Obwohl er den Kontakt zu ihr weitestgehend abgebrochen hat, besucht Édouard, der selbst in Paris lebt, diese ein Jahr nach der Vergewaltigung auf dem Land, in einem kleinen Dorf in der Picardie, aus dem er selbst stammt. Der Name des Dorfes wird nicht genannt, doch die Leser seines ersten Romans und der darauf folgenden Kritik wissen, dass es sich um Hallencourt (Somme) handelt. Édouard erzählt seiner Schwester detailliert von der Nacht auf den 25. Dezember und die Schwester wiederum erzählt dies ebenso detailliert ihrem Mann, während Édouard den Monolog seiner Schwester – denn der Mann spricht nicht ein Wort – hinter der Tür belauscht. Überlagert wird die Stimme der Schwester durch die Gedanken Édouards, der das Erzählte als Figur kommentiert und manchmal selbst als Erzähler eingreift.

Diese an sich unglaubwürdige und gekünstelte Konstruktion ist effizient. Denn durch die Figur der Schwester gibt er der Sprache des sozial benachteiligten Proletariats der französischen Provinz einen Raum, auch wenn er das Gesagte inhaltlich nicht gutheißt. Allerdings wirkt die sprachliche Ausgestaltung übertrieben (die Schwester bringt in der Tat kaum einen syntaktisch korrekten Satz heraus und spricht ohne Punkt und Komma, was durch das Fehlen jeglicher Satzzeichen unterstrichen wird) und steht in starkem Kontrast zum gehobenen Französisch Édouards. So fließen in die Schilderung der Vergewaltigung immer wieder weitere Betrachtungen über Édouard und dessen Vergangenheit auf dem Dorf ein, über seine Kindheit, die er bereits in Pour en finir avec Eddy ausgiebig beschrieben hat. So treten auch der Rassismus, die Homophobie und die Grausamkeiten des Dorfes und seiner eigenen Familie wie bereits im Debütroman zu Tage. Hier werden die Ressentiments der benachteiligten französischen Provinz, aus der Édouard stammt, gegenüber dem aufgeklärten Bildungsbürgertum der französischen Hauptstadt, der Édouard angehören will, deutlich. Diese traditionelle, in diesem Fall jedoch sehr künstlich anmutende krasse Gegenüberstellung von Paris und Provinz wird jedoch durch die teils klugen Beobachtungen der Schwester gebrochen. Die Transformation Édouards aus Ablehnung gegen die Welt des Dorfes gelingt ihm nämlich nur zum Teil: „Édouard il met un masque et il joue tellement bien son rôle qu’au final ceux qui lui ressemblent ils l’attaquent en passant qu’il est du champ adverse.“ (122). Der Roman klagt gesellschaftliche Missstände an, das Erstarken des rechtsradikalen Front National, Rassismus und Homophobie. Gleichzeitig macht der Roman aber auch deutlich, dass der so arrogant erscheinende Édouard nicht von Rassismus ausgeschlossen ist: Nach seiner Vergewaltigung entwickelt er selbst eine rassistische Abneigung gegen Männer südlicher Herkunft, die ihn selbst anwidert und die er erst allmählich wieder bekämpfen kann.

Jedoch bleibt beim Leser ein gewisses Unbehagen hinsichtlich des arroganten Auftretens von Édouard. Wer nicht in Paris gelebt hat, mag es etwas befremdlich und übertrieben finden, dass sich an Heiligabend drei Intellektuelle, namentlich Édouard, Didier und Geoffroy, treffen, gateaux aus der Bäckerei zu Wein speisen und dabei Opern-Arien hören und sich eine Gesamtausgabe von Nietzsche schenken. Es wäre übertrieben zu sagen, dass sich der Autor über diese allures, wie es die Schwester nennt, selbstironisierend lustig macht, jedoch ist er sich durchaus über die Künstlichkeit dieser bürgerlichen Welt bewusst. Dabei erscheint es doch sehr naiv und vereinfacht, und dies erkennt Édouard über die Perspektive der Schwester in dem Roman, aus dem provinzialen Proletariat in das aufgesetzte Bürgertum von Paris flüchten zu wollen – wobei doch der Wunsch zum Bürgertum gehören zu wollen an sich in Frage zu stellen wäre.

Eine Stärke des Romans sind die Schilderungen der Nacht selbst mit all ihren Absurditäten und Banalitäten, die zwischen ruhigen zärtlichen Phasen und grausamer Gewalt oszilliert. Sie sind in kurzen prägnanten Szenen geschildert, sodass ein Voyeurismus an der Gewalt vermieden wird. Unterbrochen werden sie von feinen Beobachtungen Édouards:

Mais il s’est éloigné et à nouveau: “Tu vas le payer, je vais te buter moi sale pédé, je vais te faire la gueule pédale”, et j’ai pensé: Voilà pourquoi […] Il désire et il déteste son désir. Maintenant il veut se justifier de ce qu’il a fait avec toi. Il veut te faire payer son désir. Il veut se faire croire que ce n’était pas parce qu’il te désirait que vous avez fait tout ce que vous avez fait mais que ce n’était qu’une stratégie pour faire ce qu’il te fait maintenant, que vous n’avez pas fait l’amour mais qu’il te volait déjà. (137–8)

Édouard versucht die Gewalt Redas teilweise soziologisch zu deuten, jedoch wird diese nie vollends soziologisch aus der Geschichte Redas erklärbar, schon gar nicht entschuldbar. Das Interesse des Autors liegt hier nicht darin, die Gewalt Redas auf dessen soziale Benachteiligung zurückzuführen, obwohl auch dies immer wieder anklingt, sondern vielmehr psychologisch zu ergründen, aus welchen fatalen – banalen wie auch absurden – Umständen die Gewalt plötzlich entsteht, denen sich Opfer und Täter gewissermaßen anpassen.

je me pliais aux circonstances avec cette capacité de l’individu à se plier et à s’adapter à toutes les situations, […], même dans les contextes les plus contre nature et les plus atroces, les hommes s’ajustent, ils s’adaptent […] cela signifie qu’il suffit de changer le monde pour changer les hommes, ou en tout cas en majorité, […] il n’y a pas besoin de les changer individu par individu, ce qui prendrait trop de temps, les hommes s’adaptent, ils n’endurent pas, ils s’adaptent. La question n’était donc pas Va-t-il me tuer mais plutôt Comment va-t-il me tuer. (19–20)

Immer wieder lässt der Autor solche allgemeinen soziologischen Aussagen in den Text einfließen, die stark von Michel Foucault und Pierre Bourdieu geprägt sind. Um den Menschen zu ändern genüge es also das soziale System, in dem er lebt, zu ändern.

Jede Kommunikation scheitert schließlich zwischen Reda und seinem Opfer und die Sprache Édouards selbst scheint ihn zu provozieren, wie die Schwester berichtet:

moi j’ai pensé Même [sic] devant l’autre il a pas pu s’empêcher de sortir son vocabulaire, de parler avec son vocabulaire de ministre, c’est plus fort que lui, ça devait mettre l’autre encore plus en rogne, et il lui dit, Si tu veux on fait comme si ça avait jamais existé, ça n’a pas d’importance. On oublie. (126)

Selbst nach dem versuchten Mord flieht Édouard nicht, um dem drohenden Tod zu entkommen, sondern fixiert sich auf das ihm von Reda gestohlene Handy und steigert sich in ein absurdes Spiel, in dem Reda auf ebenso absurde Weise mitmacht: Sie sollten zusammen das Handy in seiner Wohnung suchen. Wenn Reda es finde, gäbe Édouard ihm 50€, in der Hoffnung, dass Reda sich auf diesen Handel einlasse und dann gehe – beide tun so, als ob sie das Handy suchten, beide wissen, dass Reda das Handy hat und dass das Spiel nicht funktioniert, doch beide nehmen in der Absurdität der Umstände an dem Spiel teil.

Geradezu kafkaesk mutet die Szene in der heruntergekommenen Notfallaufnahme an, in die sich Édouard am Morgen des 25. Dezembers nach der Vergewaltigung begibt, um ein Präventionsmittel gegen HIV zu erhalten. Im von Graffitis beschmierten Wartesaal wird er von einer Schwester alleine gelassen, trifft auf der Toilette nur einen Obdachlosen an und findet die Ärztin schließlich nach einer Stunde in ihrem Büro, wo diese seelenruhig am PC sitzt. So fließt in die Schilderung der Szenerie unterschwellig eine Sozialkritik ein, die die Vernachlässigung des Krankenhauses und die Gleichgültigkeit gegenüber Hilfesuchenden und Schutzbedürftigen anprangert.

Hinzukommt eine weitere Perspektivierung des Geschehenen vor allem durch den Polizeibericht der Anzeige, die Édouard von Geoffroy und Didier gedrängt noch am 25. Dezember aufgibt. Denn er selbst will zunächst nicht Anzeige erstatten, da er am Zweck des bestehenden Justizapparates zweifelt und nicht will das Reda ins Gefängnis gelangt (wobei diese trocken vorgetragene ideologische Erklärung im Roman unglaubwürdig erscheinen mag), und auch weil er die Rache Redas fürchtet. Es folgt eine Odyssee, in der Édouard das Erlebte gegen seinen Willen immer wieder neu schildern muss, in denen seine Aussagen angezweifelt werden und in denen er nach der Vergewaltigung weiter durch den Justizapparat objektiviert wird. Die beiden Polizisten, die seine Anzeige aufnehmen, interessieren sich nicht sonderlich für Édouard und fühlen sich in ihrem latenten Rassismus bestätigt, als dieser ihnen berichtet, dass Reda kabylischer Herkunft sei. Édouards Aussagen werden erst durch eine medizinische Untersuchung für echt erklärt, in denen er sich noch einmal entblößen und auf seinen Körper reduzieren lassen muss, damit seine Wunden vermessen und fotografiert werden. Die medizinische Erklärung maßt sich aus Sicht Édouards an, seine Geschichte in ihrer Echtheit bewerten zu können.

je pensais Pourquoi est-ce qu’on impose aux perdants de l’Histoire d’en être les témoins – comme si être perdant n’était pas suffisant, pourquoi est-ce que les perdants doivent en plus porter le témoignage de la perte, pourquoi est-ce qu’ils doivent en plus répéter de la perte jusqu’à l’épuisement, en dépit de l’épuisement, je ne suis le gardien de personne, ce n’est pas juste, ce n’est pas juste, et je pensais, toujours sans dire un mot: Non, c’est le contraire, c’est le contraire qui devrait arriver, tu devrais avoir le droit au silence, ceux qui ont vécu la violence devraient avoir le droit de ne pas en parler, ils devraient être les seuls à avoir le droit de se taire, et ce sont les autres à qui on devrait reprocher de ne pas parler […]. (190)

Édouard hat das Gefühl, als wolle man ihm das Erlebte nehmen, als wollten andere seine Geschichte schreiben und ihm sagen, wie es wirklich gewesen ist. So wird die Sprache zum eigentlichen Akteur des Romans, eine Sprache, die zur Notwendigkeit wird, aber in ihrer Schilderung des Geschehenen zum Scheitern verurteilt ist:

il ne me reste plus que le langage et j’ai perdu la peur, je peux dire ‚j’avais peur` mais ce mot ne sera jamais qu’un échec, une tentative désespérée de retrouver la sensation, la vérité de la peur. (130–1)

In dieser Hinsicht stellt Histoire de la violence einen radikalen Umbruch zum ersten Roman Pour en finir avec Eddy dar, in dem Édouard Louis noch behauptet, die Identität des Menschen werde von den Aussagen der anderen, seines sozialen Umfeldes, produziert. Die Überlagerung der verschiedenen Stimmen in Histoire de la violence verdeutlicht dies: Die „anderen“ versuchen Édouard zu bestimmen, sie nehmen ihm die Stimme und machen ihn zum Opfer. Jedoch erkennt sich Édouard nicht in diesen Worten, sodass aus der Kluft zwischen den Fremdbestimmungen und dem, was er zu sein glaubt, eine Notwendigkeit der Gegenrede entsteht. Der Roman wird so zu einem Akt des Widerstandes, um die eigene Geschichte zu schreiben und sich als Subjekt zu konstituieren. Édouard Louis, der sich selbst in der Tradition einer littérature engagée in der Tradition Jean-Paul Sartres und Simone de Beauvoirs sieht, versucht sich durch das Schreiben zu befreien und selbst zu behaupten.

„Nous sommes libres de changer le monde et d’y introduire de la nouveauté.“ Ma guérison est venue de cette posibilité de nier la réalité. (209, Zit. Hannah Arendt)

Histoire de la violence ist ein insgesamt starker und lesenswerter Roman, eine Autopsie der Gewalt in all seinen Facetten, physischer, sozialer und sprachlicher Art. Der Roman entgeht so der Gefahr der allzu intimen und für den Leser unangenehmen Selbstbetrachtung und öffnet sich hin auf eine allgemeine Analyse der Gewalt in der Gesellschaft.





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