Spielräume des sozialen Subjekts

Simon Stone inszeniert Rocco und seine Brüder nach Luchino Visconti

Judith Frömmer

Vom Schauplatz zum Spielplatz

Rocco und seine Brüder suchen nach einem Platz in der Welt. Man weiß nicht genau, woher sie und ihre Mutter kommen, als sich der Vorhang hebt und den Blick auf die Bühne freigibt (Abb. 1). Auch wohin es gehen soll, wissen sie zunächst nicht so genau. Sie hoffen, erstmal beim ältesten Bruder Vincenzo unterzukommen, dessen Spuren sie im virtuellen Raum von SMS, WhatsApp und Instagram verfolgen. In Viscontis Film rocco e i suoi fratelli kommen die Parondi-Brüder mit ihrer Mutter Rosaria aus einem Dorf in Lukanien nach Mailand, um dort Fortüne zu machen. Bei Simon Stone könnte sich der Flughafen, an dem sie mit ihrem Gepäck stranden, in nahezu jeder beliebigen Stadt befinden. Ja, allein der Obertitel weist diesen Nicht-Ort1, den die Parondi auf der Bühne der Münchner Kammerspiele mit einem Sammelsurium an Taschen, Hausrat und einem Katzenkäfig besetzen, überhaupt als Flughafen aus.

1. Die Ankunft auf der Bühne, ©Thomas Aurin.

1. Die Ankunft auf der Bühne, ©Thomas Aurin.

Ähnlich verhält es sich mit den meisten Bühnenorten des Stücks, die allein durch die Ortsangabe einer Leuchtschrift als „Restaurant in der Stadt“, „in der Wohnung“, „Kino“ oder „Boxclub“ konkretisiert werden und somit in einer beunruhigenden Weise leer und abstrakt bleiben. Nationale und kulturelle Eigenheiten sind im Schauplatz des Theaters, den es, seiner Etymologie folgend, als solchen inszeniert, nahezu aufgehoben. Gerade im Verzicht auf das, was Victor Hugo in seiner Polemik gegen die klassischen Einheitsregeln mit dem Schlagwort der „couleur locale“ für das Theater der Romantik reklamiert hat,2 wird die Bühne hier aber zum Schauplatz der Globalisierung, in dem sich geschichtliche und gesellschaftliche Dynamiken verdichten: Das einzig Beständige in dieser Welt ist ein weltverschlingender Transit, in dem den Menschen perfiderweise in der Vermehrung des verfügbaren Raumes ihre Orte abhanden kommen, weil diese ihre spezifische Qualität und insbesondere ihren sozialen Charakter einbüßen.3

In Stones Inszenierung ist der Zuschauer versucht, wenn nicht sogar angehalten, den leeren Bühnenraum mit den Bildern der aktuellen Flüchtlingskatastrophe auszufüllen, die über die Decken und Matratzen der Parondi von Beginn der Aufführung an heraufbeschworen wird. Wer Viscontis Film gesehen hat, kann zudem versuchen, die mitunter unerträgliche Leere im intermedialen Dazwischen seiner Imagination mit den imposanten Schwarz-Weiß-Bildern anzureichern,4 die der trostlosen Welt des Neorealismus immerhin zu einer Art ästhetischen Rettung verhelfen: beispielsweise in der grandiosen Aussprache Roccos mit Nadia auf dem Dach des Mailänder Doms; aber auch in der Ermordung Nadias durch Simone, in der Visconti die Kreuzigung Christi nach- und (in ihrer ganzen Heillosigkeit) entstellt (Abb. 2).5 In Nadias sinnentleertem Opfertod am See spiegelt Visconti durch die Parallelmontage Roccos sinnlosen Kampf im Ring. Während Nadia vom Opferlamm, dessen Symbolik in ihrem weißen Pelz aufgerufen wird, um letztlich auf den qualvollen Todeskampf ihres jeder geistigen Botschaft entkleideten Körpers zurückgeworfen zu werden, zum homo sacer wird,6 der getötet, aber nicht geopfert werden darf, kann Rocco weder seinen Bruder Simone erlösen, noch einen Märtyrertod sterben. Perfiderweise ist er gerade durch seinen Erfolg dazu verdammt weiterzukämpfen.

image

image

image

2. Simones Ermordung Nadias, die in Viscontis rocco e i suoi fratelli im Wechselschnitt zu Roccos entscheidendem Sieg im Boxring dargestellt wird

2. Simones Ermordung Nadias, die in Viscontis rocco e i suoi fratelli im Wechselschnitt zu Roccos entscheidendem Sieg im Boxring dargestellt wird

Solche spektakulären Visionen, in denen die Heillosigkeit der Welt signifikanterweise nur im Zeichen des Christentums auf die Kinoleinwand gebannt werden kann, scheinen in Simon Stones Visconti-Adaptation völlig zu fehlen. An die Stelle von Viscontis Allegorien der Heillosigkeit tritt die leere Bühne einer zeichenlosen Welt.

Die einzigen Räume, die hier überhaupt Gestalt annehmen, sind zum einen der Boxring, zum anderen ein terrain vague außerhalb der namenlosen Stadt. In beiden Fällen handelt es sich um transitorische Orte, die in Zwischenräumen angesiedelt sind, gleichzeitig aber auch die utopische Hoffnung auf einen beständigeren Ort bergen: Der Boxring vertreibt den Verlierer und verbindet sich für den Sieger mit der Hoffnung auf einen sozialen Aufstieg jenseits der Kampfzone. Das terrain vague ist ein Provisorium, das der Konstruktion von etwas Bleibendem harrt. In der Zwischenzeit bietet es einen zeitlich wie räumlich unbestimmten Raum, der – ähnlich wie der Boxring – zur Kampfzone, aber auch zur Spielfläche werden kann.

3. Über Stones Boxring leuchten die Sterne des Star-Spangled Banner, ©Thomas Aurin.

3. Über Stones Boxring leuchten die Sterne des Star-Spangled Banner, ©Thomas Aurin.

Der Boxring, in dem die Brüder Parondi nacheinander ihr Glück versuchen, ohne dass es ihnen wirklich gelänge, sich aus seinen Grenzen heraus zu boxen, wird in Stones Inszenierung noch stärker als bei Visconti zum Modell der Regulierung sozialer Aggression, die beständig droht, in Totschlag und Anarchie auszuarten. Hier gibt es nur Gewinner, die sich weiter nach oben boxen, oder Verlierer, die den Ring verlassen müssen, um andernorts weiterzukämpfen. Während in Viscontis rocco e i suoi fratelli die Fratelli d’Italia auf der Suche nach einem nationalen Champion gegeneinander kämpfen, der mit seinem Dialekt auch seine regionale Identität verliert, wird der Boxring bei Stone in den imperialistischen Farben des Star-Spangled Banner zum schreckenerregenden Mikrokosmos weltumspannender sozialer Konkurrenz und Ausgrenzung (Abb. 3).

Am besten scheint es noch denen zu ergehen, die sich, wie die Brüder Vincenzo und Ciro, aus dem Boxring in den bürgerlichen Privatraum zurückziehen; oder aber, wie Rocco, im Ring eine Rolle spielen, von der er sich zu distanzieren weiß. Er hasst das Boxen und benutzt die Rolle des Champions, um Geld zu verdienen. Simone hingegen, der seinen Wiener Akzent ebenso wenig wie sein Übergewicht loswird, findet nirgends Halt, weil der Boxkampf für ihn zur sozialen Realität geworden ist, der er buchstäblich nicht gewachsen ist. Die Unförmigkeit in Person, passt er einfach nirgends hin und nirgendwo hinein. Er wird zur Gegenfigur kultureller Integration.

Doch der Boxring ist nicht die einzige Spielfläche des sozialen Dramas. Im Falle seiner Visconti-Adaptation beschränkt sich Stones Inszenierung nicht auf jenes Repräsentations- und Identifikationstheater, das man in der Presse häufig mit seinem Namen in Verbindung bringt. Das ästhetische Spiel erschöpft sich ebenso wie der Raum, den Stones Bühne eröffnet, nicht in einer Mimesis bestehender sozialer Welten. So spielt ein Großteil der Szenen auf dem terrain vague außerhalb der Stadt, einer „exterritorialen Zone“,7 die jenseits gesellschaftlicher Räume und ihrer Regeln angesiedelt ist. Sie wird zum Experimentierfeld für die Figuren, die jedoch genauso ausgebrannt sind, wie das Autowrack, das diesen Zwischenraum dominiert.

Wolfram Nitsch hat das terrain vague über seinen „unbestimmte[n] Status als provisorische Leerstelle“ charakterisiert, der in der Literatur „eine nachhaltige ästhetische Faszinationskraft und [e]in heute mehr denn je spürbares poetisches Potential begründet“.8 In der literarischen und der filmischen Tradition, von der seine Begriffsgeschichte kaum zu trennen ist, konnte das terrain vague zur „leeren Bühne einer frei umherschweifenden Imagination“ werden.9 Vom 19. Jahrhundert an oszilliert der Status des terrain vague dort, wie Nitsch anhand zahlreicher Beispiele vom romantischen und realistischen Roman des 19. Jahrhunderts bis hin zum Film und zur Lyrik des 20. Jahrhunderts zeigt,10 zwischen dem eines utopischen Raumes, der bezeichnenderweise häufig durch spielende Kinder repräsentiert wird, und dem einer beunruhigenden Zone der Transgression.

Ähnliche Funktionen hat das terrain vague auch in Rocco und seine Brüder, wo es gleichermaßen zum Ort der Liebe, aber auch zum Ort des Verbrechens wird, wobei beide hier – wie im übrigen auch die Schauplätze von terrain vague und Boxring – nahezu nahtlos ineinander übergehen: Prostitution wird zur Liebe und umgekehrt, wobei die Liebe ebenso wie die Ehe immer schon dem Verdacht der Prostitution ausgesetzt ist. Die erotische Vereinigung wird zur Vergewaltigung, welche die Paarbeziehungen gleichzeitig stiftet und zerstört und schließlich zum Mord wird. Bei Stone wird die Bühnenfläche des terrain vague gleichzeitig zum Ort des theatralischen Spiels, an dem die Schauspieler, allen voran Samouil Stoyanov als Simone und Brigitte Hobmeier als Nadia, so richtig in Fahrt kommen. Noch weniger als im Boxring und den anderen gesellschaftlichen Orten, die auf der Bühne repräsentiert werden, ist das Schauspiel auf dem terrain vague an Regeln gebunden: Es muss hier nicht zwangsläufig repräsentieren und gewinnt einen ästhetischen Eigenwert, der über das soziale Drama einer Migrantenfamilie hinausgeht. Hier gewinnt Stones Inszenierung eine poetologische Dimension, die man bei all den nahezu penetranten Verweisen auf das aktuelle Tagesgeschehen nicht übersehen sollte. Diese poetologische Dimension erschöpft sich dabei keineswegs in einer selbstreflexiven Metapoetik des Theaters, sondern besteht vor allem auch in der poetischen Schöpfung einer Spielfläche, die den Ort des Theaters seit jeher ausmacht.

Gleichzeitig Ermöglichungsstruktur und Produkt dieses Spiels im Raum, ist das Theater ein intermediärer Ort, der sowohl innerhalb als auch außerhalb der räumlichen Ordnung der Gesellschaft angesiedelt ist. Gegenwärtig ist es als gesellschaftliche Institution nicht mehr selbstverständlich, ja es ist in gewisser Weise selbst zum terrain vague geworden, dessen gesellschaftlicher und künstlerischer Status neu zu bestimmen ist. Indem es die soziale Welt im dramatischen Spiel (re-)produziert, wird das Theater in Stones Rocco und seine Brüder einerseits zur performativen Metapher des sozialen Raumes, der es seinerseits hervorbringt, nicht zuletzt um sich selbst zum Schauplatz zu machen. Durch die extreme Reduktion des Bühnenbildes, wodurch die Präsenz des Schauspiels als einer den Raum allererst hervorbringenden performativen Praxis gesteigert wird, geht der dargestellte (bzw. gespielte) soziale Raum in dieser Inszenierung nahezu vollkommen im szenischen Raum auf.11

Nicht zuletzt durch den permanenten Raumentzug, der paradoxerweise gerade aus der globalen Erweiterung der Räume erwächst, bringt die soziale Welt umgekehrt das Schauspiel hervor. Dieses kreist hier vor allem um die Suche und das Einnehmen von Orten, ob es sich nun um Wohnungen, Kinos, Hotelzimmer oder Frauen handelt. Alle diese Orte dienen gleichermaßen als Kampfzone wie als Spielfläche. Das Theater wird somit zum Umschlagplatz von Aggression in Spiel und vice versa. In beiden Fällen handelt es sich um Praktiken der Eroberung des sozialen Raumes, der indes nicht einfach vorhanden ist, sondern durch das Handeln der Figuren allererst konstituiert werden muss. Im Theater dominiert dabei die spielerische Dimension des Handelns, die dort als solche zur Schau gestellt werden kann. Als performativer Raum eröffnet das Theater hier Möglichkeiten, die über eine reine Mimesis der sozialen Welt hinausgehen, zumal die Arten der Nutzung und Realisierung dieser poetischen und theatralischen Potenziale hier nicht fest gelegt sind.12 In Stones Inszenierung wird das terrain vague zur Projektionsfläche dieses sozialen Spiels, das sich indessen, wie Rocco und seine Brüder, im Kampf gegen eine feindliche Außenwelt zu erschöpfen droht.

Kollisionen

Während beispielsweise die verschiedenen Wohnungen der Parondi bei Visconti den sozialen Aufstieg der Familie in der Materialität der Schauplätze nachzeichnen, finden Rocco und seine Brüder bei Stone allein auf der Bühne den Ort, der ihnen in der Welt verweigert wird. Auf emblematische Art und Weise gelingt es dem Theater, die Ortlosigkeit der globalisierten Welt in der Multiplikation sinnentleerter Orte in Szene zu setzen. Gerade indem er die räumliche Ordnung der Gesellschaft dekonstruiert, scheint Stone dem Theater als Schauplatz dessen, dem die Welt keinen Ort einräumt, seinen Raum in der Sphäre des Sozialen zurückzuerobern: als Spielfläche, die allein dem Einbruch eines unkontrollierbaren globalisierten Außenraumes in das Innere (sei es unserer Kultur, sei es des Subjekts) Widerstand leistet – allerdings, und das gilt für die Figuren ebenso wie für deren Schauspieler, um den Preis einer Verausgabung, in der jeder Hoffnungsschimmer immer schon dessen Auslöschung birgt. Entsprechend verlassen Stones Darsteller die Bühne der Kammerspiele nahezu ebenso erschöpft wie die Figuren, die sie spielen.

Wenn Kunst und Literatur, wie Jurij Lotman dargelegt hat, mit den semantischen Gegensatzpaaren, die sich im Kunstwerk mit topologischen Oppositionen verbinden, ein Kulturmodell modellieren,13 dann inszeniert Stones Theater-Adaptation von Viscontis rocco e i suoi fratelli den Zusammenbruch einer solchen kulturellen Ordnung. Im Zuge beständig wachsender Mobilität scheinen Grenzen als solche zu verschwinden.14 Bedeutete die Zugreise, welche die Familie Parondi bei Visconti von ihrem Dorf in Süditalien nach Mailand in den Norden führte, noch eine ereignishafte Grenzüberschreitung und war damit sujetkonstitutiv, so hat Migration im Angesicht der Flüchtlingsbewegung der letzten Jahre ihren Ereignischarakter verloren, zumal sich die Grenzen zwischen den Teilräumen beständig verschieben. Man könnte hier mit Lotman von einer „Kollision“ sprechen, deren radikalisierte Form er über ein „Bestreben des inneren Raumes, sich zu verteidigen, die Grenzen zu festigen, und das des äußeren Raumes, den inneren zu zerstören, die Grenze niederzureißen“ charakterisiert.15

Diese Kultur permanenter Grenzüberschreitungen und -verletzungen hat Folgen für die Ausgestaltung sozialer und künstlerischer Räume. Die etablierten Raumsemantiken der sozialen Welt und ihre spatialen Metaphoriken wie Integration, sozialer Aufstieg, Exil oder Ausgrenzung können diese Bewegungen nicht mehr bewältigen. Umso wichtiger werden künstlerische Räume wie das Theater, wo soziale Konstruktionen von Raum auf der Bühne spielerisch erprobt werden können. Dieser spielerische Charakter bedeutet indes nicht, dass das Spiel des Theaters nicht sehr schnell sehr ernst werden kann. Gerade hierin liegt die Wucht von Stones Inszenierung, in der das Spiel blitzschnell in eine Aggression umschlägt, die indes nicht im Spiel aufgeht. Auch wenn Rocco im Ring eine Rolle spielt, ist damit keineswegs die Brutalität seines Kampfes getilgt, dessen Gegner ebenso namenlos wie unbedeutend bleiben und der in dieser „Unmenschlichkeit“ am Ende ins Leere läuft.

Im Laufe des Stückes wird immer unklarer, wofür hier eigentlich gekämpft wird. In der Welt, von der Rocco und seine Brüder umgeben sind, gibt es im Grunde nur einen Raum, für den es sich wirklich zu kämpfen lohnt: die Innenwelten der Liebe. Eben dieser an sich schon prekäre Innenraum ist aber der permanenten Gefährdung durch den Außenraum ausgesetzt. Das Schauspiel um Rocco und seine Brüder kann diesen Innenraum der Liebe nur andeuten, da er, sobald er sich im Außen manifestiert, zur Kampfzone zu werden droht.

Migranten

Die für den sozialen Raum konstitutive Opposition von Innen und Außen kollabiert im theatralen Spiel, das kein Inneres mehr nach Außen kehrt, gleichzeitig aber den einzigen Widerstand darstellt, den die Figuren den aggressiven Penetrationsversuchen der Außenwelt entgegensetzen können. In der mehr oder minder aggressiven Verteidigung ihres Innenlebens droht ihnen dabei jede innere Identität abhanden zu kommen. Sie verfügen über keine „innere Burg“, mit der die frühneuzeitliche Mystikerin Teresa von Avila ihre Seele verglich. Vielmehr erschöpft sich moderne Innerlichkeit zunehmend in der Verteidigung gegen den Außenraum: sei es durch Kleidung, sei es durch Sport, sei es durch Aggression. Im Boxkampf rebellieren die Parondi-Brüder gegen die Positionen und Hierarchien des Außenraumes, um sich ihnen gleichzeitig zu unterwerfen.

Die Parondi sind, wie sie selbst, aber auch das Programmheft zur Aufführung fast schon zu deutlich herausstellen, Migranten. Stone inszeniert diese Migration als solche, als Bewegung die sich ohne Start- und Zielpunkt im offenen Raum der Bühne vollzieht. Der Zuschauer bekommt bei Stone nur eine vage Vorstellung davon, wo Rocco und seine Brüder herkommen: aus einem Dorf, das von Armut, Instabilität und Ausbeutungsverhältnissen geprägt ist. Ihr Vater ist dort bei der Feldarbeit zusammengebrochen. In Stones Inszenierung wird das Foto des Vaters, das Viscontis Rosaria ostentativ auf dem Herzen trägt, in ein flüchtiges, aber grausames Sprachbild übersetzt. Mit dem Kopf des Vaters, der, wie Rosaria auf der Bühne berichtet, am Trecker klebte, ohne dass der Zuschauer erfährt, wie er dort hingekommen ist, hat die Familie ihr Oberhaupt verloren. Die Mutter drängt daher zur Neuorientierung, ohne dass ihr und ihren Söhnen klar ist, an welchen Ort sie diese Suche nach einer neuen Identität konkret führen könnte.

Zunächst soll der älteste Bruder das Vakuum füllen, das der Tod des Vaters entstehen ließ. Doch Vincenzo ist dazu mehr schlecht als recht in der Lage. Während sein Vater als Bauer zum Leidwesen seiner Frau auf der Stelle trat, weil er seine Heimat nicht verlassen wollte, hat Vincenzo in der Stadt, wie seine Mutter nach der ersten Begegnung feststellt, vielleicht nicht den Kopf, aber den Verstand verloren: „Die Stadt hat dich verrückt gemacht.“ So verrückt ist Vincenzos Plan, in der Gründung einer neuen Familie Halt und denjenigen sozialen Ort zu finden, den er mit der Heimat verloren hat, am Ende aber auch wieder nicht – zumal er im Boxring gescheitert war, noch bevor die Handlung einsetzt. Vincenzo ist kein Champion und das weiß er auch. Er hat in der neuen Stadt schnell seine Grenzen erkannt, die seine Brüder noch ausloten. Schon bei Visconti hatte Vincenzo, ohne sich mit langer Trauerarbeit am Verlust des Vaters und der Heimat aufzuhalten, den Boxring schnell durch das ärmliche, aber warme Nest eines kleinbürgerlichen Familienidylls ersetzt. „Fidanzata“ und „camera“ sind für ihn, wie es dort über ihn hieß, „la stessa roba“. Ob es ihm mit dieser Strategie in der Stadt letztlich besser ergehen wird als seinem Vater auf dem Land, bleibt aber sowohl bei Visconti als auch bei Stone ebenso dahingestellt, wie die Natur der Verbindung mit Ginetta, die als Muttersubstitut – zum Leidwesen Rosarias – mit harten Bandagen zu kämpfen weiß.

Vincenzos Brüder boxen indes weiter, um einen Ort zu finden, der ihnen beständig verweigert wird. Wenn Simon Stone Viscontis rocco e i suoi fratelli, der ein Film über die Fratelli d’Italia und ein Italien auf der womöglich scheiternden Suche nach Ursprung, Einheit und Identität ist, in ein Migrationsdrama übersetzt, dann steht dabei die Zersetzung etablierter (räumlicher) Ordnungen durch Mobilität auf dem Spiel. Es geht nicht um das woher oder das wohin, sondern um eine Migration, der das Subjekt als solches unterworfen ist. Identitäten können in Rocco und seine Brüder, wenn überhaupt, nur durch Liebe oder Kampf erzeugt werden, wobei die Liebe sich oft nur als Spielart der (Auto-)Aggression entpuppt.

Nach der Heirat Vincenzos organisiert sich die Bruderhorde der Parondi vornehmlich um zwei weibliche Zentren: zunächst ihre ehrgeizige Mutter, die sie zum gesellschaftlichen Aufstieg anstachelt, weil ihr eigener Platz in der Welt letztlich von der männlichen Hierarchie und demjenigen Kopf abhängt, der in ihrem Dorf am Trecker kleben blieb; und dann die Prostituierte Nadia, die sich als Trophäe für Champions in Szene zu setzen weiß, deren Identität aber einzig über die sie penetrierenden Männer erzeugt und in der letzten gewaltsamen Durchbohrung Simones völlig ausgelöscht wird. „Was soll ich tun? Mich ausradieren?“, fragt sie Vincenzo bereits bei ihrem ersten Auftritt. Da ist sie zunächst auf der Flucht vor ihrem Vater, dem ihre „Life Choices“ nicht gefielen. Die Frage ist, worin in diesem Leben überhaupt die Wahl besteht: Selbst wenn sie sich nicht ausradiert, nimmt sie nie einen Standpunkt ein, der unabhängig von ihren Männern wäre. Doch kann das Bild ihrer schönen Leiche, die bei Stone im Boxring zurückbleibt, auch keine männliche Ordnung mehr stabilisieren.16 Unermüdlich boxt die Bruderhorde der Parondi weiter, wobei Ihnen die Preisgelder dabei nahezu gleichgültig zu sein scheinen. Simones Mord an Nadia wird bei Stone wie bei Visconti nicht so sehr als Gewaltverbrechen, denn als logische Konsequenz eines Frauenlebens inszeniert, das im Grunde nur als Produkt fortschreitender Grenzverletzungen, nur über das beständige Eindringen von außen in ein weibliches Innen möglich ist. Dieses Innen bleibt bei Nadia, wie bei allen anderen Figuren eine unheimliche Leerstelle, ein Hohlraum, den die Prostituierte den Männern bereitwillig zur Verfügung stellt. Letztlich handelt es sich dabei um ein Analogon zum leeren Innenraum des Boxrings, der von den Männern eingenommen wird (Abb. 4).

4. Tod Nadias (Brigitte Hobmeier) in Stones Inszenierung, ©Thomas Aurin.

4. Tod Nadias (Brigitte Hobmeier) in Stones Inszenierung, ©Thomas Aurin.

Stone holt den Titelhelden Rocco, der in Viscontis Film als zu allen Opfern bereite Christusfigur stilisiert wird, auf den Boden der Tatsachen dieser Welt zurück. Ihm scheint die Identitätsfindung des Migranten noch am besten zu gelingen. Emsig arbeitet er in einer Boutique, die an die Stelle der symbolträchtigen Reinigung getreten ist, wo der Saubermann Rocco in Viscontis Film seine erste Anstellung findet. Als Kontrafaktur der christlichen Taufe wird die Symbolik der Reinigung, wie sie sich beispielsweise auch in den Duschräumen des Boxclubs vollzieht, in den allegorischen Bildern Viscontis zum Sinnbild der problematischen Identitätsfindung des italienischen Migranten, der, wie Simone vor seinem ersten großen Boxkampf, seine süditalienische Herkunft abwäscht, um danach als angeblicher Lombarde in den Ring zu steigen. Während Simone an diesen Wechselduschen der Identität zugrunde geht, beherrscht Rocco die Regeln des Boxrings, weil er weiß, dass sie fiktiv sind und außerhalb seiner Seile ihre Gültigkeit verlieren.

Gerade in Stones Inszenierung erfährt der Zuschauer allerdings zu keiner Zeit, was in Rocco wirklich vorgeht. Seine Identität erschöpft sich im Grunde in der Anpassung an die Außenwelt, von der er sein Innenleben durch die gestählte Hülle seines durchtrainierten Körpers abzuschotten weiß. Was unter dieser makellosen Oberfläche verborgen sein könnte, ist nicht Teil des Spiels, das aber den Preis ihrer Erzeugung erahnen lässt. Von außen besehen – und das ist die einzige Perspektive, die uns das Theater einnehmen lässt – ist selbst der Mustersohn Rocco eine prekäre Figur der Integration, die sich, wenn überhaupt, nur über die Adaptation der eigenen Oberfläche an das Außen vollzieht. Hier liegen vielleicht auch die Grenzen des Theaters, das Identität nur im Außen performieren, aber eben nicht als Essenz begründen kann. Einmal davon abgesehen, dass die Grenzen des theatralischen Spiels zwar, wie die Seile des Boxrings durchlässig sind, seine Regeln aber in der sozialen Welt nur eine beschränkte Gültigkeit haben.

Simon Stone ist dafür bekannt, klassische Vorlagen auf emotionale Weise für die Gegenwart zu adaptieren. Doch die Gefühle, die seine Inszenierung von Rocco und seine Brüder zweifelsohne transportiert, sind Produkt eines Spiels, dessen Grenzen das Theater neu ausloten, ja vielleicht noch aggressiver ausweiten muss, wenn es nicht zum belanglosen Divertissement werden will. Als potenziell aggressives Spiel kann es sich im Außenraum nur um den Preis permanenter Kollisionen behaupten, die auch vor dem Innenleben des Zuschauers, ja sogar vor dessen potenziellen Aggressionen nicht Halt machen. Die Innerlichkeit des modernen Menschen ist dabei gleichermaßen Boxring wie terrain vague: Raum einer Aggression, die es zu regulieren gilt, aber auch Spiel- und Experimentierfläche für die permanente Migration, die dem Selbst nicht nur in der globalisierten Welt abverlangt wird.


  1. Zur (a-)sozialen Dimension solcher sinnentleerter Übergangsräume der „Übermorderne“ vgl. Marc Augé, Non-lieux: introduction à une anthropologie de la surmodernité (Paris: Éd. du Seuil, 1992).

  2. Siehe das berühmte Vorwort zu Cromwell, hier zitiert nach: Victor Hugo, Théâtre complet, Bd. I, hrsg. von J.-J. Thierry und Josette Mélèze (Paris: Gallimard, 1963), 409–54, hier v. a. 436–7.

  3. Bezugspunkt hier abermals Augé, Non-lieux.

  4. Theoretisch und methodisch grundlegend hier Irina O. Rajewsky, Intermedialität (Tübingen u. a.: Francke, 2002).

  5. Zu solchen christlichen Sinndimensionen im Nachkriegskino vgl. auch die Beiträge in Uta Felten und Stephan Leopold, Hrsg., Le dieu caché? Lectura christiana des italienischen und französischen Nachkriegskinos (Tübingen: Stauffenburg, 2010).

  6. Vgl. Giorgio Agamben, Home sacer: il potere sovrano e la nuda vita (Torino: Einaudi, 1995).

  7. Diesen Begriff entnehme ich ebenso wie zahlreiche Anregungen zu künstlerischen Ausgestaltungen und Funktionen des terrain vague: Wolfram Nitsch, „Topographien: zur Ausgestaltung literarischer Räume“, in Handbuch Literatur & Raum, hrsg. von Jörg Dünne und Andreas Mahler (Berlin u. a.: De Gruyter, 2015), 30–40, v. a. 35–6.

  8. Vgl. Wolfram Nitsch, „Terrain vague: zur Poetik des städtischen Zwischenraums in der französischen Moderne“, Comparatio 5 (2013): 1–18, hier 2.

  9. Nitsch, „Terrain vague“, 9.

  10. Vgl. hierzu auch die Dokumentation auf der Website des von der DFG geförderten Forschungsprojekts: www.terrainvague.de.

  11. Zu Theorien der Konstruktion bzw. Performativität des sozialen Raums vgl. die Texte und insbesondere auch die Einleitung von Jörg Dünne in der Sektion „Soziale Räume“ in Raumtheorie: Grundlagen aus Philosophie und Kulturwissenschaften, hrsg. von Jörg Dünne und Stephan Günzel (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2006), 286–368, sowie Sabine Friedrich, „Raum und Theatralität“, in Handbuch Literatur & Raum, hrsg. von Jörg Dünne und Andreas Mahler (Berlin u. a.: De Gruyter, 2015), 105–14 sowie die jeweils dort angegebene Forschungsliteratur.

  12. Vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004).

  13. Vgl. Jurij M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte (1972), übersetzt von Rolf-Dietrich Keil (München: Fink, 41993), 212–3 et passim.

  14. Zu solchen Formen der Kollision der räumlichen Ordnung vgl. Jurij M. Lotman, „Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen“, in Jurij M. Lotman, Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur (Kronberg i. Ts: Scriptor Verlag, 1974), 228–377, hier v. a. 359–60.

  15. Lotman, „Zur Metasprache typologischer Kultur-Beschreibungen“, 359.

  16. Zu den kulturstabilisierenden Funktionen der weiblichen Leiche vgl. hingegen: Elisabeth Bronfen, Over Her Dead Body: Death, Femininity, and the Aesthetic (Manchester u. a.: Routledge, 1992).





Copyright (c) 2016 Judith Frömmer

Creative-Commons-Lizenz
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.