Die Saint-Simonisten und das Mittelmeersystem

Wolf Lepenies

Wolf Lepenies, Die Macht am Mittelmeer: französische Träume von einem anderen Europa (München: Carl Hanser Verlag, 2016), 352 S. isbn 978-3-446-24732-1, € 24,90, erschienen am 22. Februar 2016.

Der Abdruck als Auszug aus dem Buch Die Macht am Mittelmeer: französische Träume von einem anderen Europa, S. 99–111, erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Autors und © des Carl Hanser Verlags, München. Die Zitierweise bleibt unverändert.

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Als Napoleon in der Verbannung auf Sankt Helena seine Erinnerungen diktierte, sprach er davon, dass er den gesamten europäischen Kontinent unter seine Herrschaft hatte zwingen wollen – und dabei einem Zusammenschluss des Südens den Vorrang gegeben hätte: „Eines meiner größten Vorhaben war die Agglomeration, die Konzentration geographischer Nachbarn, die durch die Revolution und die Politik getrennt und zerstückelt worden waren. Es wäre schön gewesen, mit einem solchen Gefolge in die Nachwelt einzutreten und den Segen der Jahrhunderte zu erhalten. Einer solchen Ehre fühlte ich mich würdig … Der ganze Midi Europas wäre zu einem kompakten Zusammenschluss von Lokalitäten, Gesichtspunkten, Meinungen, Gefühlen und Interessen geworden. Was hätte uns bei einem solchen Stand der Dinge schon das Gewicht aller Nationen des Nordens ausgemacht? Wieviele menschliche Anstrengungen wären nicht vor einer solchen Schranke gescheitert?“1

Napoleons Ägypten-Expedition von 1798 war der Vorgriff auf eine umfassende Mittelmeerpolitik, die alle Ufer der Méditerranée ein­ schloß. Napoleon träumte davon, Orient und Okzident zusammenzuführen und war sich bewusst, dass ein solches Vorhaben dem Islam Tribut zahlen musste, wie er im Juli 1798 in seiner an die ägyptische Bevölkerung gerichteten Proklamation deutlich machte: „Ich respektiere, mehr als die Mamluken, Gott, seinen Propheten und den Koran …“2 Diese Proklamation aber zeigte ebensowenig Wirkung wie der Appell an den „arabischen Patriotismus“, sich gegen die ottomanische Herrschaft aufzulehnen. Langfristig erfolgreicher war das Zivilisierungsprojekt, das Teil der ägyptischen Expedition war und unter Leitung von Gaspard Monge, dem Gründer der École polytechnique, stand. In Kairo wurde ein Institut des sciences et des arts gegründet; der Vizekönig Muhammad Ali Pascha, der als Leutnant gegen die französische Ägypten-Expedition gekämpft hatte, sandte 1826 eine Mission nach Paris, die westliche Wissenschaften und Technik studieren sollte und sich zu diesem Zweck fünf Jahre lang in der französischen Hauptstadt aufhielt.

Die Projekte Napoleons sollten die Dominanz Frankreichs und damit seine eigene Herrschaft sichern. Das Ende Napoleons führte zu Versuchen, Europa neu zu ordnen – die alten Monarchien taten dies auf dem Wiener Kongress (1814/1815), gleichzeitig wollten Denker wie Saint-Simon und sein ehemaliger Sekretär Auguste Comte den Zusammenschluss der europäischen Länder auf der Grundlage einer von ihnen selbst entwickelten, religiöse Züge tragenden Ideologie oder Weltanschauung befördern. 1814 veröffentlichten der Graf von SaintSimon und sein Mitarbeiter, der spätere Historiker Augustin Thierry, eine Broschüre mit dem Titel De la Réorganisation de la Société Euro­ péenne. Die Einheit Europas sollte nicht mit militärischer Gewalt und Zwang, sondern mit friedlichen Mitteln und durch den Fortschritt der Industrie zu erreicht werden. Sie war der erste Schritt auf dem Wege zur „universellen und friedlichen Assoziation der Menschheit“, zur Herausbildung einer Weltgesellschaft.3

Zunächst galt es, eine „anglofranzösische Gesellschaft“ zu schaffen und damit die Konföderation zweier Länder zu erreichen, deren Dauerkonflikt die europäische Geschichte geprägt hatte. Es war der erste Schritt auf dem Weg zur Neuordnung und anschliessend zur Einheit Europas. Deutschland spielte in diesem Prozess eine wichtige Rolle. Saint-Simon und Augustin Thierry beschrieben Deutschlands „Charakter, seine Wissenschaften, seine Philosophie“ mit andächtigem Staunen – ähnlich wie Mme de Staël, die ein Jahr zuvor in ihrem Buch De l’Allemagne vermutet hatte, der „Genius der Menschheit“ habe in Deutschland Quartier bezogen. Und wie Michelet, der für sich in Anspruch nahm, wie kein anderer „der bewegenden Güte und der bewundernswerten Reinheit der Sitten in Deutschland“ Tribut zu zollen, bewunderten auch Saint-Simon und Thierry an der deutschen Nation „die reinste Moral, eine von jeder Täuschungsabsicht freie Aufrichtigkeit und eine Lauterkeit, die jeder Prüfung standhält“. Diese Charakterzüge seien in den schrecklichsten Kriegen, den grausamsten Feindschaften, der unerträglichsten Unterdrückung stets wirksam geblieben: „Niemals ist ein französischer Soldat durch Verrat in diesem Land zu Grunde gegangen, dem Frankreich so viel Kummer bereitet hat.“4

Der Möglichkeit zum Seehandel fast völlig beraubt, so Saint-Simon und Thierry, habe Deutschland nicht jenen Handelsgeist entwickelt, der die Berechnung an die Stelle erhabener Gefühle setze, zum Egois­ mus führe und alles vernachlässige, was groß und edel sei. Anders als in England werde in Deutschland der Verdienst eines Menschen nicht an seinem Besitz gemessen. Bemerkenswert sei dabei, dass die natürliche Güte und Einfachheit der Sitten, die den Volkscharakter auszeichne, sich mehr und mehr auch bei den Regierenden zeige: ihre Autorität sei sanft und väterlich. Das Land der Dichter und Denker sei ein unpolitisches Land – die Deutschen strebten in der Philosophie nach einer besseren Welt, ohne zu versuchen, die eigene gesellschaftliche Wirklichkeit zu verändern.

Langsam aber spüre man, dass sich auch in Deutschland der Geist der Freiheit mehr und mehr ausbreite – eine Revolution sei unausweichlich. Vor dieser Revolution aber hätten die Deutschen Angst, abschreckend stünden ihnen die englische und die französische Revolution vor Augen und sie fragten sich, ob sie die gleichen Schrecken und das gleiche Blutvergießen würden ertragen müssen. In Deutschland sollte nicht nur die Verfassung geändert werden, es müsse zuallererst seine nationale Einheit erringen. Das geteilte Deutschland sei jedem Usurpator ausgeliefert, nur wenn es zur Einheit finde, könne es mächtig werden. Die deutsche Einheit sei die Voraussetzung für die Einheit Europas.

Die erste und vornehmste Aufgabe des englisch-französischen Parlaments würde daher darin bestehen, Deutschland zu einer neuen Verfassung zu verhelfen, um es vor den Schrecken einer neuen Revolution zu bewahren und die Voraussetzungen für seine Einheit zu schaffen. Von England und Frankreich wurde nichts weniger erwartet als ein Akt des politischen Altruismus: Durch seine Bevölkerungszahl, die fast die Hälfte der Einwohner Europas ausmachte, durch seine zentrale Lage auf dem Kontinent und mehr noch durch seinen „noblen und großzügigen Charakter“ war Deutschland dazu bestimmt, in Europa die Führungsrolle zu spielen, sobald die Deutschen unter einer freien Regierung vereint sein würden. Sobald man ihnen gestatten könne, sich dem englisch-französischen Parlament anzuschliessen, werde durch die Macht des Beispiels der Adel des Gefühls, der die Deutschen auszeichne, die kommerziellen Interessen der Franzosen und der Engländer abschwächen, die nur dem Eigennutz dienten. Das gemeinsame europäische Parlament werde durch die Aufnahme Deutschlands liberaler, seine Aktivitäten würden selbstloser werden und damit auch anderen Nationen nützen.

Saint-Simon beklagte, dass es in Europa keinen Politiker gab, der es durch sein politisches Talent vermochte, Europa neu zu ordnen; die politische Klasse war in den Denkgewohnheiten des Ancien Régime gefangen. Faute de mieux habe er sich selbst in diese Rolle versetzt und ein politisches System konzipiert, das die Prinzipien der Aufklärung widerspiegelte – „Wenn diejenigen, die Verantwortung tragen, sich auf meine Höhe erheben, werden sie das sehen, was ich gesehen habe.“ Für Saint-Simon lag das Goldene Zeitalter nicht, wie die Dichter es beschrieben hatten, in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart, er prophezeite, „dass ohne Zweifel eine Zeit kommen wird, in der alle Völker Europas spüren werden, dass man im allgemeinen und gemeinsamen Interesse handeln muss, bevor man sich auf die Ebene der nationalen Interessen hinunterbegibt; dann werden die Übel erträglicher werden, die Un­ ruhen werden sich abschwächen, die Kriege werden verschwinden; dahin bewegen wir uns ohne Unterlass, dorthin trägt uns der Fortschritt des menschlichen Geistes! Was wäre der Klugheit des Menschen würdiger: sich dorthin ziehen zu lassen – oder dorthin zu eilen?“5

Saint-Simon hatte damit die Etappen auf dem Weg beschrieben, den die Völker Europas in seinen Augen zurücklegen mussten, um die Einheit des Kontinents zu erreichen. Es gab eine Region, in der sich das Vereinte Europa vorausahnen und vorausplanen ließ: das Mittelmeer. Achtzehn Jahre nach der Veröffentlichung der Broschüre von Saint-Simon und Thierry skizzierte der 24-jährige Michel Chevalier, der Chefredakteur der 1831 von den Saint-Simonisten erworbenen Zeitung Le Globe geworden war, die Umrisse eines „Mittelmeersystems“ als Vorstufe zu einem geeinten Europa. Von allen Saint-Simonisten machte der Bergbauingenieur Michel Chevalier die vielleicht beeindruckendste Karriere, auch wenn der Absolvent der Ecole Poly­ technique und der Ecole des Mines 1832 zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr verurteilt wurde und einen beträchtlichen Teil davon im Gefängnis von Sainte-Pélagie absitzen musste.6 Die französischen Behörden, erschüttert durch die Julirevolution und mit neuen Arbeiteraufständen in Lyon konfrontiert, warfen den Saint-Simonisten, die in Ménilmontant ein „Phalanstère“, eine Art von sozialistischer Kommune errichtet hatten, die Störung der öffentlichen Ordnung vor; die Bewegung wurde aufgelöst. Im August 1833 amnestiert, ging Chevalier, der im Gefängnis mit dem Saint-Simonismus gebrochen hatte, für zwei Jahre in die USA , um sich mit den dort herrschenden politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen und nicht zuletzt mit dem Zustand des Eisenbahnnetzes vertraut zu machen; das publizistische Resultat seines Aufenthalts waren Lettres sur l’Amérique du Nord und eine Abhandlung über die Verkehrs- und Kommunikationswege in den Vereinigten Staaten. Danach wurde Chevalier in den Staatsrat berufen und erhielt 1840 den Lehrstuhl für Politische Ökonomie am Collège de France. Später wurde er Senator und engster Wirtschaftsberater Napoleons III., dessen Staatsstreich er unterstützt hatte. Er galt als Chefökonom des Zweiten Kaiserreichs, zu seinen größten Erfolgen gehörte das britisch-französische Freihandelsabkommen, das er zusammen mit Richard Cobden aushandelte.

Die vier Artikel, die Michel Chevalier im Februar 1832 im Globe, dem „Journal de la Religion Saint-Simonienne“, veröffentlichte, trugen Manifestcharakter. In ihnen formulierte er die Grundzüge der saint-simonistischen Industrie- und Friedenspolitik. Berühmt und viel diskutiert wurde der Artikel vom 12. Februar mit dem Titel „Système de la Méditerranée“. Seiner Publikation war am 15. Januar eine „Predigt“ (pré­ dicament) von Émile Barrault vorausgegangen. Sechs „Pre­diger“ legten seit 1830 die Doktrin der Saint-Simonisten aus, um so die Anhänger der Lehre in ihrem Glauben zu festigen; Barrault, der ein ­literarisches Manifest der Saint-Simonisten mit dem Titel „Aux artistes“ publiziert hatte und im Globe für den Literaturteil zuständig zeichnete, war der erfolgreichste unter ihnen, er predigte nicht weniger als dreiundfünfzig Mal.7 Am 15. Januar hieß Barraults Thema: „L’Orient et l’Occident“.8 In einer Zeit, da sie in Paris von den politischen Autoritäten verfolgt wurden, versicherte Barrault den Gläubigen, eines Tages werde sich der Saint-Simonismus auf der ganzen Welt durchsetzen, denn er sei eine Doktrin des Aufbaus und nicht der Zerstörung, Orient und Okzident würden gleichermaßen von ihm geschätzt, er versöhne die „strahlenden Klarheiten des Midi mit den bleichen Wolken, in die sich der Norden hüllt“. Barrault machte es sich zur Aufgabe, seinen Hörern das Gesetz zu offenbaren, welches „den Geist und die Materie, die Intelligenz und das Fleisch, den Gedanken und die Tat, die Theorie und die Praxis, die Wissenschaft und die Technik in bisher ungeahnter Harmonie miteinander vereinen würde“. Und als ob er den „Montesquieu-Effekt“ ausschalten wolle, fügte Barrault hinzu, der Saint-Simonismus umarme die ganze Menschheit – in welchem Klima die Menschen auch immer lebten. Orient und Okzident, die sich bis jetzt stets feindlich gegeneinander verhalten hatten, würden unter der Herrschaft eines neuen Gesetzes brüderlich, in „göttlichem Gleichgewicht“, miteinander leben. „Association universelle“ hieß das Schlüsselwort der saint-simonistischen Doktrin – und das Mittelmeer sollte die Region werden, in der sie sich beispielhaft verwirklichte. Das Mittelmeer würde von der Arena zum Forum werden, zum wahren Mare nostrum. Damit wäre die Geschichte an ihr Ende gekommen, die Bestimmung des Menschengeschlechts hätte sich erfüllt.

Diese Idee nahm Chevalier in seinem dritten Artikel für den Globe auf, der am 5. Februar 1832 unter der Überschrift „France: La paix est aujourd’hui la condition de l’émancipation des peuples“ erschien. ­Seine Fortsetzung fand dieser Text, erweitert und zum Teil mit der wortwörtlichen Wiederholung ganzer Sätze, eine Woche später im Artikel „Système de la Méditerranée. Politique Nouvelle“. Das Mittelmeer, zu dem Chevalier auch das Schwarze und das Kaspische Meer zählte, würde zum Zentrum eines politischen Systems werden, das alle Völker der alten Welt vereinte und ihre Beziehungen zur Neuen Welt harmonisch gestaltete. Im Mittelmeer würde der blutigste Konflikt, den die Welt kannte, der Kampf zwischen Orient und Okzident, zwischen Islam und Christentum ein für alle Mal beendet werden. Durch das Mittelmeersystem sollte erreicht werden, was im Europa des 17. Jahrhunderts mit dem Westfälischen Frieden versucht worden war: das Ende aller Religionskriege. Chevalier erinnerte sich offenkundig nicht mehr daran, dass sein „Meister“ Saint-Simon in der erwähnten Denkschrift zur Neuordnung Europas von 1814 den Westfälischen Frieden als Lizenz zum Kriegführen kritisiert hatte: die Zielsetzung, in Europa ein Gleichgewicht der Kräfte zu erreichen, ermunterte die einzelnen Nationen zum Versuch, ein Gleichgewicht, das angeblich nicht vorhanden war, mit kriegerischen Mitteln zu erzwingen.

Aus der spirituellen Utopie von „Predigern“ wie Barrault machte Chevalier, der als Absolvent der École polytechnique und der École des mines zu den „Saint-Simoniens pratiques“ gehörte, die Utopie eines Ingenieurs und Fabrikanten. Europa war noch weitgehend eine Agrarwirtschaft; die Landwirtschaft war „barbarisch, feudal und in ihrer Entwicklung fast völlig von den kreditgebenden Institutionen isoliert“.9 Europa stand vor der dringenden Aufgabe, seine Industrialisierung voranzutreiben. Das Mittelmeersystem wurde vom Blickwinkel der Industrie her konzipiert; in seinem Zentrum standen, nach Doktrin der Saint-Simonisten Materie und Geist miteinander vereinend, die Verkehrswege und die Banken. Beide waren so eng miteinander verknüpft, dass es genügte, die Struktur der Verkehrs- und Handelswege aufzuzeichnen, um damit auch die Topographie des Bankensystems vor Augen zu haben. Und so, wie in der Politik die Kooperation an die Stelle des Konflikts treten würde, würden im Wirtschaftsleben Egoismus und Geiz der Bankiers verschwinden und einem generellen Wohlwollen Platz machen.

Voraussetzung für die Entstehung des Mittelmeersystems war die Erfindung der Eisenbahn. Bis jetzt hatte man nur ihren technischen Eigenschaften Aufmerksamkeit geschenkt, ohne die weitreichenden politischen und moralischen Konsequenzen zu erkennen, die aus der Einführung des Schienenverkehrs folgten. Die Schnelligkeit der Eisenbahn war nur unter Gesichtspunkten der Kostenersparnis diskutiert worden – viel wichtiger aber war, dass Menschen und Güter sich jetzt mit einer Geschwindigkeit bewegen konnten, die man vor zwanzig Jahren noch ins Reich der Fabel verbannt hätte. Die Beziehungen von Menschen und Städten ließen sich beschleunigen und damit vervielfachen: Die Eisenbahn war das perfekte Symbol der asso­ciation universelle. Mit Hilfe anderer moderner Erfindungen, insbesondere des Telegraphen, würde es möglich werden, den größten Teil der an das Mittelmeer grenzenden Länder ebenso effizient zu regieren wie es jetzt bereits mit Frankreich möglich war. Und letztlich waren die Eisenbahnen auch die Voraussetzung für die Entstehung eines europäischen Patriotismus.

Das Mittelmeer, so Chevalier, konnte man als eine Reihe von Buchten (golfes) betrachten, die jeweils den Zugang eines großen Landes zum Meer bildeten. In jeder dieser Buchten gab es einen Haupthafen. Das Mittelmeersystem würde diese Haupthäfen durch parallel zueinander laufende Wasserstraßen und Eisenbahnen in Form von riesigen Netzwerken (réseaux) miteinander verbinden. Deutschland nahm in den Überlegungen Chevaliers einen besonderen Platz ein – das Mittelmeersystem der Saint-Simonisten war nicht gegen, sondern mit Deutschland konzipiert. Chevalier sprach von Deutschland als der „Türkei“ Europas und zählte „l’Allemagne dix fois à demi absorbée par les Turcs“ zum Mittelmeer. Die Überlegungen, die Saint-Simon und Thierry 1814 zur Neuordnung Europas angestellt hatten, wirkten nach. In der „großen Bewegung“, welche die Völker instinktiv zur Einheit drängte, war es den so lange in Kleinstaaten zersplitterten Deutschen bereits gelungen, miteinander so etwas wie eine spirituelle Einheit zu bilden. Obwohl den Norden und den Süden Deutschlands der Gegensatz von Protestantismus und Katholizismus trennte, spürte man im ganzen Land „den gleichen Duft einer kontemplativen mystischen Poesie“, der auf unbestimmte Weise die Seelen der „Teutonie“ miteinander verband. Die materiellen Verbindungen zwischen den Deutschen aber konnten sich an Schnelligkeit und Regelmäßigkeit nicht mit denen messen, über welche England und Frankreich bereits verfügten. Von einer wirtschaftlichen Einheit Deutschlands konnte keine Rede sein. Erst „schöne Eisenbahnen“ würden in Deutschland die Verbindungen herstellen, welche Menschen enger aneinander banden, die zwar die gleiche Sprache sprachen, sich aber nicht verstanden, die über die gleichen Sitten und Gewohnheiten verfügten und sich doch fremd geblieben waren.

Auf der einen Seite war Deutschland dazu bestimmt, Verbindungen nach Osten aufrechtzuerhalten, die sich bis nach Sankt Petersburg, Odessa und die Kamtschatka erstrecken würden. Auf der anderen Seite war Deutschland das Land, in dem die „groupe du Nord“ und die „groupe du Midi“ sich treffen würden – mit Dresden, der „Stadt der Franzosen in Deutschland“, im Mittelpunkt. Michel Chevalier machte deutlich, wie sehr gerade Deutschland, das sich auf dem Kontinent so lange abgeschottet hatte, von einer Aufhebung des Nord-Süd-Gegensatzes in Europa profitieren würde, die durch die neuen Transportmittel und die systematisch ausgebauten und erweiterten Verkehrswege möglich geworden war: „Wenn der Berliner Akademiker und der Student aus Göttingen innerhalb von vierundzwanzig Stunden von den Hörsälen ihrer Universitäten zu den Sammlungen des Jardin des Plantes, zu einer Sitzung des Instituts oder in den Louvre gelangen würden; wenn die Anmut Italiens, die Finesse der Hellenen und die elegante Leichtigkeit der Franzosen … sich mit der Aufrichtigkeit, der Ernsthaftigkeit und der Seelengüte der Germanen verbinden würden; wenn all dies Bestand haben würde – kann man sich überhaupt den Glanz, den Reichtum und die Kraft der Assoziation vorstellen, die sich dann in der Brust Germaniens finden würden?“10

Schließlich weitete Chevalier das Mittelmeersystem nach Asien und Amerika aus – und auch die Pläne zur Errichtung des Suez- und des Panamakanals gehörten zu dem „wunderbaren Bild, welches der alte Kontinent bald bieten wird“. Das Mittelmeersystem wurde letztlich zu einer Metapher für die Weltgemeinschaft, in der sich die nationalen Gegensätze und Konflikte im friedlichen Miteinander aufgelöst haben würden. Der erste Schritt zu dieser universellen Assoziation aber musste im Mittelmeer gegangen werden. Die Kosten dafür hatte Chevalier präzise berechnet, realisiert werden konnte sein Projekt nur in einer Mittelmeer-Konföderation, in der das bisher von den einzelnen Nationen für Kriegsvorbereitungen und Kriege ausgegebene Geld zu friedlichen Zwecken genutzt würde. Dass zur Voraussetzung dieser „Confédération méditerranéenne“, die über die europäischen Einheitsbestrebungen zur Errichtung des Weltstaats führen würde, die enge Kooperation von Deutschland und Frankreich gehörte, gibt den Überlegungen Michel Chevaliers aus dem Jahre 1832 einen aktuellen Klang. Die Saint-Simonisten waren Meister der Propaganda. Dazu gehörte auch eine sorgfältig gesteuerte Pressepolitik. 1824 von jungen liberalen Intellektuellen gegründet, war der Globe in Frankreich zum Sprachrohr der romantischen Bewegung geworden, in Deutschland gehörte der alte Goethe zu seinen Lesern. Der Kauf durch die Saint-Simonisten bedeutete das Ende des „liberalen Globe“, von nun an erschien die Zeitung mit dem Untertitel „Journal de la doctrine de Saint-Simon“, aus dem im August 1831 das „Journal de la religion saint-simonienne“ wurde. Um seine Reichweite zu steigern, wurde das Blatt gratis verteilt. Wirtschaftliche Schwierigkeiten und ideologische Differenzen innerhalb der Bewegung – der Streit der beiden „Väter“ Bazard und Enfantin, der ein Schisma zur Folge hatte – führten zum Ende des Globe im April 1832. Der Vorgang trug Symbolcharakter: Die Zeit der Artikel war vorüber, die Zeit für Aktionen war gekommen. Dazu gehörten Projekte innerhalb Frankreichs wie der Canal de Provence und die Herstellung einer durchgehenden Eisenbahnlinie, die Paris mit dem Midi verbinden würde. Der Schwerpunkt der Aktionen aber lag außer­ halb Frankreichs, im Maghreb und in Ägypten. Die Herrschaft der­ Ottomanen neigte sich dem Ende zu, der Türke galt als „homme malade“ – zugleich schien der Orient aus seiner Lethargie zu erwachen. Bereits die Ägyptenmission Napoleons hatte Pläne für einen Kanal zwischen dem Mittelmeer und dem Roten Meer ausgearbeitet; aufgenommen wurden sie von den Saint-Simonisten und von Ferdinand de Lesseps schließlich zu einem erfolgreichen Ende geführt.

Alle Aktionen der Saint-Simonisten kennzeichnete die Mischung aus einem von christlicher Symbolik geprägtem Mystizismus und einem Pragmatismus, der dazu führte, dass sie vielen ihrer Projekte eine exakte Finanzplanung zu Grunde legten. Aus seiner Gefängniszelle rief Prosper Enfantin, „père suprême du collège saint-simonien“, zu einem neuen Kreuzzug auf: „La grande communion se prépare. La Méditerranée sera belle cette année.“11 Im Mittelmeer war Enfantin auf der Suche nach der „Femme-Messie“, dem weiblichen Orient, der sich mit dem männlichen Okzident verbinden würde – aber zugleich suchte er nach finanziellen Möglichkeiten zur Errichtung des Suezkanals. Das Gleiche galt für den „Prediger“ Barrault, der vor seinem Aufbruch nach Ägypten in Lyon eine „Association saint-simonienne“ gründete, um das Kanalprojekt angemessen zu planen.

Die Saint-Simonisten waren Wegbereiter der kolonialistischen Ideologie – „Les colonies – en avant“, hieß der Ruf, mit dem Michel Chevalier seine Glaubensgenossen anfeuerte. Zugleich sahen die Saint-Simonisten in einer vorurteilsfreien Koalition der Kulturen die Voraussetzung erst für die Wirksamkeit des Mittelmeersystems und dann für die Formierung der allgemeinen Assoziation, zu der die Menschheit in Frieden zusammenwachsen würde. Im Vorwort zu seiner Gedichtsammlung Les Orientales (1829) hatte Victor Hugo gefragt, ob die „alte asiatische Barbarei“ nicht über mehr bedeutende Männer verfügte als die westliche Zivilisation hatte glauben wollen. Ähnlich schrieb Michel Chevalier, die christlichen Völker seien „heute nicht die einzigen, die nach Fortschritt dürsten“, wobei für ihn Mehmet Ali, der „industrielle Pascha“, der „Napoleon des Orients“, zum Vorbild eines muslimischen Modernisierers wurde. Der Friedensbringer, „le pacificateur du monde“, werde allen Völkern die Hand ausstrecken, „er wird allen den Fortschritt ermöglichen, ohne am Eingang Wachen aufzustellen, die sie dazu verpflichten, die Tunika der Demokratie anzulegen“.

Der Friedensbringer war – Frankreich. In Zukunft konnten in Europa die Revolutionen ausbleiben, weil „das generöse Frankreich“ den Kataklysmus einer schrecklichen Revolution bereits hinter sich gebracht hatte – zum Nutzen der anderen europäischen Nationen, die Feuertaufe und Blutbad nicht mehr durchleben mussten. Den Fortschritt und den Frieden in der Welt habe Frankreich gesichert: „Le génie des révolutions n’a plus à visiter les peuples.“ Dies galt selbst für England, wo sich eine schreckliche Kollision zwischen einer hochmütigen Aristokratie und einem ungeduldigen Proletariat anbahnte. Schließlich wurde von Chevalier die welthistorische Rolle Frankreichs christologisch überhöht: „Frankreich hat den revolutionären Kelch ­getrunken, es hat ihn in einem Zuge geleert; Frankreich ist ans Kreuz gestiegen; Frankreich ist der Christus der Nationen gewesen.“12

Das Mittelmeersystem sollte erst Europa und dann der Welt den Frieden bringen. Doch so wie der Westfälische Frieden – Saint-Simon hatte es beklagt – Anlass für neue Territorialkriege lieferte, die unter dem Vorwand vom Zaum gebrochen wurden, in Europa das verlorene Gleichgewicht der Kräfte wiederherzustellen oder allererst zu schaffen, provozierten Versuche, die Völker des Mittelmeers zu einer Union zusammenzuschließen, Koalitionen zwischen anderen Regionen des Kontinents, die den europäischen Nord-Süd-Konflikt verstärkten.


  1. Napoléon, „Dictée de Sainte-Hélène“, zitiert als Motto des Buches von Charles de la Varenne, La Fédération latine par les unités Française, Italienne et Ibérique, Paris (E. Dentu) 1862.

  2. Zit. Nach Émile Temime, Un Rêve Méditerranéen. Des Saint-Simoniens aux Intellec­tuels des Années Trente (1832–1962), Marseille (Actes Sud) 2002, S. 33.

  3. Le Saint-Simonisme, L’Europe et la Méditerranée. Introduction et notes par Pierre Musso, Houilles (Éditions Manucius) 2008. Darin Claude-Henri de Saint-Simon und Augustin Thierry, „De la Réorganisation de la Société Européenne“, Michel Chevalier, „Le Système de la Méditerranée“ sowie „La Prédication d’Émile Barrault du 15 janvier 1832“.

  4. Die Zitate stammen aus dem Kapitel X „Résumé des Considérations relatives à la France et à l’Angleterre“ sowie dem Kapitel XI „De l’Allemagne“, a. a. O., S. 64–66. Jules Michelet, Introduction à l’histoire universelle, Paris (Hachette) 1831, S. 83 (Anmerkungen).

  5. Saint-Simon und Augustin Thierry, „De la Réorganisation de la Société Européenne“, S. 69.

  6. Zu Chevalier vgl. J.-B. Duroselle, „Michel Chevalier Saint-Simonien“, in: Revue Historique, 215 (1956), No.2, S. 233–266.

  7. Vgl. Pierre Musso, „Préface“, Le Saint-Simonisme. L’Europe et la Méditerranée, S. 73–83.

  8. A. a. O., S. 85–95. Eine Woche später untersagten die Behörden eine weitere Predigt. Die Verfolgung der Saint-Simonisten, denen die Störung der öffentlichen Ordnung vorgeworfen wurde, erreichte damit ihren Höhepunkt. Der Globe wurde verboten.

  9. Michel Chevalier, „France: ‚La paix est aujourd’hui la condition de l’émancipation des peuples‘“, in: Le Saint-Simonisme. Europe et la Méditerranée, S. 100. Für die SaintSimonisten war die Industrie im Kern pazifistisch. Auch in den beiden folgenden Artikeln vom 31. Januar und vom 5. Februar beschäftigte sich Chevalier mit der europäischen Friedenspolitik: „Politique Générale: ‚La paix est aujourd’hui la condition de l’émancipation des peuples‘“, a. a. O., S. 105–116.

  10. Chevalier, a. a. O., S. 124–126. Mit dem Institut war das Institut de France gemeint, die Dachorganisation der großen nationalen Akademien Frankreichs.

  11. Temime, Un Rêve Méditerranéen, S. 38.

  12. Michel Chevalier, „Le Système de la Méditerranée“, S. 112–113.





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