Die Erotika eines eigensinnigen Surrealisten: Paul Nougé

Pierre Halen

Paul Nougé (1895–1967) ist eine Persönlichkeit, die kaum in den üblichen Rahmen passt, in dem oder mit dem wir uns Literatur nähern. Deshalb entzieht er sich uns, überrascht und verunsichert uns sogar. Vor allem für jene Rahmen wird sie verunsichernd wirken, die ihre Existenz nur der Macht der Gewohnheit verdanken oder einer konventionellen Einteilung von Texten in bestimmte Forschungs- oder Interessensgebiete, was immer auch eine relative Abgeschlossenheit des Bereichs der Literatur mit sich bringt. Ob diese Abgeschlossenheit eher als Ursache oder als Wirkung, ja möglicherweise sogar als ein mehr oder weniger erklärtes Ziel der Literaturwissenschaft im klassischen Sinn anzusehen ist, lässt sich schwer entscheiden.

Dennoch: zumindest in Belgien, aber auch in Italien, wo ein Kolloquium über Paul Nougé abgehalten wurde1, und in anderen Ländern, wo Veranstaltungen über das Thema Magritte oder Surrealismus organisiert wurden, war von diesem Mann und seinem in vielerlei Hinsicht problematischen Werk in den letzten Jahren häufiger die Rede.

In Brüssel wurde im Jahr 2003 im Rahmen der Maison de la Bellone anlässlich einer Retrospektive ein schöner kleiner Katalog erstellt, der den Titel Paul Nougé, Quelques bribes (Einige Brocken) trägt und auf ein früheres Buch namens Fragments zurückgeht, das 1983 bei Labor in der Reihe Espace Nord erschienen ist, mit einem Vorwort von Frans De Haes und einem Kommentar von Marc Quaghebeur als Nachwort.

Diese beiden Anthologien, deren Inhalt sich teilweise überschneidet, gehen auf die Initiative von Marc Quaghebeur zurück, der dieses schwierige Vorhaben mit Intelligenz und auch mit Mut in Angriff genommen hat. Es handelte sich um eine besondere Herausforderung, für deren Bewältigung er nur wenig Unterstützung erhielt. Jedoch wollte er schon seit langem – und sei es nur innerhalb der Literaturgeschichte – dieses so einmalige und wichtige Œuvre bekannt machen. Die Titel Fragments und Bribes weisen bereits auf einen besonderen Aspekt hin: Das Werk wurde fast immer zu einem bestimmten Anlass geschrieben und besteht nur in Form von Stücken, von Fragmenten, von kurzen Texten. Mehr noch: es handelt sich nicht um das, was man üblicherweise als ein Werk bezeichnet, d.h., eine Art „Buchmonument“, das den Plänen des Autors entsprechend mehr oder weniger „errichtet“ werden kann, und das grundsätzlich auf Dauer hin angelegt ist. Um es noch grundsätzlicher zu sagen: Es ist nicht sicher, dass diese Texte als literarische Werke einzustufen sind; es handelt sich wohl um etwas anderes, das wichtiger und ernster ist.

Hiervon kann man sich eine genauere Vorstellung machen, indem man sich an eine Konstante der Avantgarden erinnert, die, zumindest anfangs, eine Handlungsweise (action) im kollektiven Raum und in der Geschichte anstrebten, deren Tragweite auf einen Bereich ausgedehnt werden sollte, der die bloße Ästhetik an Größe übertrifft. Dies sollte vor allem die geschriebene und gedruckte Literatur betreffen, in der Form von Arbeiten, die von Literaturwissenschaftlern beurteilt werden könnten und an denen ein ausgesuchtes Publikum sein hedonistisches Gefallen finden würde.

Nougé kommt oft auf diesen Begriff einer Handlungsweise zurück, den er vorzugsweise mit dem genaueren Terminus „Intervention“ bezeichnet, und zwar in dem Sinn, in dem wir heute von einer „humanitären Intervention“ in Zusammenhang mit einem Notfall oder einer Krise reden.

Hier wird bereits eine grundsätzliche Debatte eröffnet, denn wenn das Werk, besser gesagt: die Arbeit von Nougé nicht in dem gleichen Maße Anerkennung gefunden hat wie sie beispielsweise Breton in Frankreich zuteil wurde, liegt das daran, dass es sich dieser Anerkennung zum Teil von Anfang an entschieden und mit exemplarischer Kontinuität widersetzt.

Sicher verfolgte André Breton ursprünglich dieselbe Absicht, ebenso wie der Maler René Magritte in der Zeit, in der Nougé sein Alter Ego oder gewissermaßen seine rechte Hand war. Aber der eine wie der andere – und Breton sogar zuerst, mag er sich auch dagegen wehren2 – sind der Versuchung erlegen, ein Werk zu schaffen, ihr eigenes Monument zu errichten, zu akzeptieren, dass man ihnen einen ebenso einträglichen wie symbolischen Wert zugestand, ja sogar, dass sie im Pantheon einer bestimmten Kulturauffassung ihre Kanonisierung erhielten.

Nougé hatte Bretons Schwäche in dieser Hinsicht sehr früh verstanden, auch wenn der französische Surrealistenpapst dies vertuschen wollte, indem er später gerade diese für das Selbstverständnis jeder Avantgarde äußerst beunruhigende Frage immer wieder aufgriff. Auf diesen Punkt zielen zunächst auch die Angriffe der Brüsseler Surrealisten gegen die Pariser Kollegen. Und man muss hier den beinahe klassischen Satz aus einem Brief von Nougé an Breton zitieren: „Ich möchte, dass diejenigen unter uns, deren Namen sich einzuprägen beginnen, diesen auslöschen.“ Breton spielte den Unschuldigen, als er diesen Satz Nougés wörtlich im Second manifeste du surréalisme zitierte und hinzufügte:

Sans bien savoir à qui il pense, j’estime en tout cas que ce n’est pas trop demander aux uns et aux autres que de cesser de s’exhiber complaisamment et de se produire sur les tréteaux.3

Für mich, für uns, für alle, die auf die eine oder andere Weise die Kulturgüter klassifizieren und hierarchisieren müssen, besteht die Gefahr, Argumente für eine Sanktionierung zu liefern, die Nougé nicht wollte, für eine „Versteinerung“ seiner Texte, aus denen er kein Werk machen wollte, für ein Einsperren seiner Gedanken, die auf den ganzen Menschen ausgerichtet waren, in den so beruhigenden Rahmen der akademischen Bibliotheken, des Literaturunterrichts in der Schule, in den Rahmen von Handbüchern, Touristenführern nicht unähnlich, die einem das Leben in wenigen Gemeinplätzen zusammenfassen, leicht etikettierbar und dann umgesetzt in Bildungs- oder Prestigewerte.

Diese Gefahr besteht, aber Nougé selbst, der als erster davon bedroht war, ruft uns dazu auf, dagegen vorzugehen, d.h., zu versuchen, die Beweglichkeit und die Kraft zur totalen Infragestellung seiner „Interventionen“, von denen uns nur der Text oder manchmal das Bild bleibt, lebendig zu halten.

Zum Schluss dieser ersten Annäherung sei hinzugefügt, dass anlässlich der Ausstellung, die bereits erwähnt wurde, verschiedene wichtige und wegweisende Publikationen erschienen sind. Zunächst einmal eine bemerkenswerte Biographie, zusammengestellt von Olivier Smolders, die ebenfalls bei Labor, in der Reihe „Archives du Futur“, 1994 erschienen ist. Ein weiterer Herausgeber hat sich angeschlossen, Didier Devillez, der schon vor einiger Zeit die Flugblätter der Brüsseler surrealistischen Bewegung der Jahre 1924–25 als Faksimile herausgegeben hat.

Bei Devillez finden wir heute eine Neuausgabe des Journal (Tagebuch: 1941–1950) und der Notes sur les échecs (Anmerkungen zu den Niederlagen: 1994) sowie einen Band mit dem Titel Erotiques (Erotika). Keiner dieser Titel, nicht einmal Quelques bribes (Einige Brocken) oder Fragments (Fragmente), stammt freilich vom Autor, der weder ein Werk schaffen wollte, noch die Zusammenstellung dieser Bände beabsichtigte. Das Gleiche galt für eine erste Veröffentlichungswelle, die auf die Initiative von Marcel Mariën zurückging, der lange Zeit der letzte Überlebende der Brüsseler Surrealistengruppe war, wobei er sowohl der letzte „Akteur“ war, als auch ihr Andenken zu verteidigen hatte.

Mariën, der Nougé bis zu seinen letzten Augenblicken besuchte, hatte die Einwilligung erhalten, seine Schriften zu veröffentlichen, zunächst in Zeitschriften, dann in Form von drei Bänden, die bei L’Age d’Homme in der Reihe „Cistre-Lettres différentes“ erschienen; er gab ihnen die Titel Histoire de ne pas rire (1980), (Es gibt nichts zu lachen), L’expérience continue (Das Experiment geht weiter), Des mots à la rumeur d’une oblique pensée (1983) (Worte, von denen man sagt, dass sie einem verqueren Denken entsprungen sind).

Dem Literaturwissenschaftler oder Leser fehlt es also nicht an Textmaterial, auch wenn dessen Verfügbarkeit wenig mit der üblichen Situation zu tun hat, in der es über andere Schriftsteller, auch über durchschnittliche Schriftsteller, wie zum Beispiel Breton, über einen größeren Zeitraum verstreut Originalausgaben gibt, oder Neuauflagen, kritische Editionen und Prestigeausgaben wie die Aufnahme in eine Reihe wie La Pléiade. In diesem Fall ist zu Lebzeiten des Autors nichts als Werk zu verzeichnen, außer Flugblättern und Manuskripten, Briefen, bruchstückhaften und dennoch fortgeführten Aktionen. Ganz am Ende seines Lebens wurde eine erste Form, eine mehr oder weniger systematische Veröffentlichung von einem Außenstehenden in Angriff genommen. Vom Surrealismus war in dieser Zeit nicht viel geblieben, nur noch aktive Zeugen wie Marcel Mariën oder die jüngeren Mitglieder der Gruppe Phantômas, Anhänger wie Achille Chavée, aber auch mehr oder weniger akademische Exegeten, die sowohl von Nougé als auch von Mariën verabscheut wurden. Erst lange nach seinem Tod kommt es zur Veröffentlichung seiner Bücher; eine erste Welle im Jahr 1980, die von dem inzwischen verstorbenen Mariën inszeniert wurde, und nun die zweite von 1994–95.

Ein Portrait

Bevor wir uns näher auf die Erotika einlassen, soll zunächst die Persönlichkeit Nougés genauer vorgestellt werden. An der Grenze zum Paradoxen, wie wir schon in Zusammenhang mit der Frage nach dem Werk gesehen haben, zwingt er uns dazu, uns auf einem schmalen Grat zu bewegen, denn wenn wir über ihn reden, nehmen wir bereits eine Kanonisierung vor, die er nicht wollte; wir können jedoch sicher sein, dass es sich in seinem Fall nicht um die Koketterie eines Künstlers handelt, der sich wünscht, als poète maudit kanonisiert zu werden. Darin ist kein kategorischer Imperativ zu sehen, dem man zu gehorchen hat: Für das Publikum reicht es, dass Nougé sich in den öffentlichen Raum hineinbegeben hat, um seine Interventionen zumindest zur Kenntnis zu nehmen. Doch wir sollten uns immer an den ersten Inhalt – der auch die erste Form gewesen ist – seiner Arbeit halten, um seine Ablehnung einem Werk gegenüber im Bewusstsein zu behalten.

Dieses Paradoxon findet sich, allgemeiner, in der Nachfolge Nougés und in der Anerkennung, die er fand oder auch nicht. Einerseits ist ganz deutlich: Verglichen mit André Breton, beispielsweise, existiert Nougé als Ikone kaum; es ist ein Name, den nicht verschweigen darf, wenn man von René Magritte redet, von dem bis heute ja immer viel die Rede war. Von Zeit zu Zeit erscheint der Name Nougé zwangsläufig in den Traktaten und Manifesten, die er mit seinen französischen Kollegen unterzeichnet hat, aber das ist alles in allem eine unvermeidliche Anwesenheit in den Dokumenten der Surrealisten. So ist der Name Nougé den Spezialisten kaum bekannt, nicht einmal in Belgien, wo es bis vor kurzem, das muss betont werden, nur an Marc Quaghebeur hing, sein Werk der Nachwelt zu erhalten.

Um diesen Stand der Dinge zu erklären, sollte man ein gewisses Augenmerk auf die besondere Situation der Schriftsteller im frankophonen Teil Belgiens richten, wo es seit Verhaeren keine wirkliche Begeisterung der Literaten für einen belgischen Autor gegeben hat: Eine breite Anerkennung kommt, wenn sie kommt, nach der Kanonisierung durch Paris, wie es bei Michel de Ghelderode oder Jacques Brel und schon vor ihnen bei den Symbolisten der Fall war.

Nougé und seine Brüsseler Freunde machen jedoch genau das Gegenteil von dem, was die Gruppe um Verhaeren, Rodenbach etc. am Ende des 19. Jahrhunderts getan hatte: sich zu Füßen des Meisters Mallarmé photographieren zu lassen. Zwar finden sie manchmal einige Verbündete in der Pariser Gruppe, doch machen sie dieser keinerlei symbolische oder theoretische Zugeständnisse, sondern gehen sie ziemlich hart an (siehe Aron). Man muss in gewisser Weise auch die relative Missachtung berücksichtigen, der sich der belgische Schriftsteller in den Augen seines Pariser Kollegen ausgesetzt fühlt: Der französische Surrealismus hat mehr als andere Bewegungen das Spiel des Zentralismus um Breton und der örtlichen Intrigen gespielt und auf die von außerhalb Kommenden nur zurückgegriffen, um dort gelegentlich Unterstützung zu finden. Es ist bezeichnend, dass Bücher wie das Manifest des Surrealismus, das die Schriften Bretons enthält, oder die Geschichte des Surrealismus von Maurice Nadeau nicht „Geschichte des französischen Surrealismus“ und „Manifest des französischen (oder sogar des Pariser) Surrealismus“ heißen. Für diesen „lutécianisme“ (die bloße Konzentration auf Paris) sind derartige Gewaltakte normal4. Leider wird er so auch von der Literaturwissenschaft im Ausland übernommen, welche häufig von einer zwar nachvollziehbaren, letztlich jedoch blinden Paris-Orientierung geprägt ist.

Andererseits spricht jemand wie Francis Ponge, der Nougé persönlich gekannt hat, von ihm als dem „größten Rebell [forte tête] des Surrealismus in Belgien“, und, wie er hinzufügt, „wahrscheinlich auch einem der größten dieser Zeit“. Bekannt ist auch die Debatte um die Bedeutung Nougés an den Bildern Magrittes5. Letztlich ist vielleicht auch die relative Zurückhaltung Bretons gegenüber Nougé auf gewisse Weise eine implizite Hommage. So bleibt auf den ersten Blick ein einfaches Bild: Es existierten etwa zur gleichen Zeit zwei unabhängige Surrealistengruppen in Brüssel und Paris; ihre Wege waren getrennt, wenn auch bis zu einem bestimmten Punkt parallel, ihre Problematik war teilweise ähnlich, und sie wurden alle beide ziemlich nachdrücklich von einem „starken Kopf“ dominiert. An diesem Punkt beginnen also die Detailanalysen und die Überprüfung der wichtigsten differenten Ansichten.

Der am einfachsten zu beschreibende Unterschied betrifft die écriture automatique, grundlegend für die berühmte Definition Bretons6, die aber von Nougé im April 1925 in einem Flugblatt an dessen Adresse radikal abgelehnt wird: „Die Wörter sind geneigt, sich nach besonderen Affinitäten zusammenzufinden, die im allgemeinen die Wirkung haben, dass sie die Welt nach ihrem alten Modell wiedererschaffen.“7 In der Conférence de Charleroi (Vortrag von Charleroi), einem seiner bedeutendsten Texte, geht er noch weiter:

[…] allons-nous, comme certains nous le proposent, renoncer à toute action délibérée, à tout exercice d’une douteuse volonté, – pour demeurer immobiles, penchés sur nous-mêmes comme sur un immense gouffre d’ombre, à guetter l’éclosion des miracles, l’ascension des merveilles ?

Je sais bien que telle est l’attitude de beaucoup d’entre nous, et des meilleurs.

Mais pour ma part, je ne puis m’empêcher d’y distinguer une erreur grossière, une commodité fausse, et, sous le couvert d’un pathétique douloureux, un piège assez grossier que nous tendent notre paresse et notre lâcheté irréductibles.8

Wenn man ganz „vernünftig Wunder erwarten kann“, fährt Nougé von den „Spielen des Zufall und der Bestimmung“ fort, ist das seiner Meinung nach kein Grund, „auf das zu verzichten, was wir als essentiell für den Geist erachten: ein gewisses Vermögen, überlegt zu handeln“. Besser: „Der Geist ist uns ausgeliefert und wir tragen die Verantwortung für unser Handeln.“9

Dies ist mehr als eine Methodenfrage. Abgesehen davon, dass die „überlegte Handlungsweise“, ja mehr noch: die kühle Berechnung, für Nougé geradezu das Leitmotiv und gleichzeitig die Arbeitsform ist, nämlich die Ablehnung dessen, was sogar in einer vom Freudianismus modernisierten Form der traditionellen Inspiration des Künstlers ähnelt, bezieht sich diese Ablehnung auch auf die Relikte des Platonismus, die sich bei Breton finden. Olivier Smolders formuliert dies so:

[…] Au moment où André Breton pressent l’existence d’un monde parallèle prestigieux, accessible à la conscience par les seules fulgurances de l’écriture ou de saisissants hasards objectifs, Nougé préconise plutôt l’invention d’un monde à naitre, par la seule activité de l’esprit et des sens.10

Diese Haltung ist nicht nur einer naturwissenschaftlichen Denkweise verbunden, sie stimmt auch völlig überein mit einer Ablehnung der Literatur einerseits, andererseits mit einem gewissen marxistischen Materialismus. Hier ist Nougé ebenfalls radikaler als sein französischer Kollege, und er geht ihm voran: 1919 ist er in Brüssel Mitbegründer der belgischen Sektion der Kommunistischen Internationalen, die bald zur Belgischen Kommunistischen Partei wird; als die französischen Surrealisten 1927 beraten, ob sie sich der kommunistischen Partei ihres Landes anschließen sollen, wissen die Brüsseler schon genauer, wie weit man sich auf Distanz halten muss, und sie geben es ihnen zu verstehen: „Niemand hat den Sinn Ihres Vorgehens verstanden. Man versucht Sie in eine Ecke zu drängen“11.

Das, was man seither die „Affäre Aragon“ nennt, macht einen weiteren, sehr bezeichnenden Unterschied sichtbar, der ebenfalls einen Nougé zeigt, der radikaler in seinen Konsequenzen ist als Breton, der sich nicht festlegen will. Als Aragon 1932 wegen seines Gedichts Front rouge der „Anstiftung von Militärangehörigen zum Ungehorsam und des Aufrufs zum Mord mit der Absicht anarchistischer Propaganda“ beschuldigt wird, gibt Breton ein auch von René Char und Paul Eluard unterzeichnetes Flugblatt heraus, in dem die Idee verfochten wird, dass man das dichterische Wort nicht mit denselben Augen betrachten könne wie „jede andere gemäßigte Ausdrucksform“; sie verteidigen also in gewisser Weise die Unschuld der Kunst. Von den Franzosen ebenfalls zur Unterschrift aufgefordert, weigern sich die Brüsseler und beglückwünschen sich sogar zu dem gegen Aragon angestrebten Prozess. So schreiben sie:

[…] Le poème prend corps dans la vie sociale. Le poème incite désormais les défenseurs de l’ordre établi à user envers le poète de tous les moyens réservés aux auteurs de tentatives subversives. [...] C’est la bourgeoisie capitaliste elle-même qui se charge de démontrer, de la manière la moins réfutable, l’hypocrite vanité de ses principales valeurs intellectuelles et morales, et spécialement d’écarter à jamais de la scène mentale le fantôme de liberté qu’elle érigeait en idole.

Rien ne servirait de protester, de faire appel à des principes que les faits en question ici-même suffisent à nier.12

Im Hintergrund findet sich wieder die Frage nach dem Status des surrealistischen Akteurs. Für Nougé, Mesens, Souris und Magritte, Unterzeichner dieses Flugblattes, ist es der Status eines ernstzunehmenden Mitglieds der Gesellschaft, das sich nicht in irgendeinen von einem bürgerlichen Liberalismus tolerierten ästhetischen Freiraum flüchten muss. Für die französischen Surrealisten bleibt die Literatur, was sie ist, und der Surrealist ist nicht so sehr ein Mensch wie alle anderen, als vielmehr ein Dichter oder Schriftsteller. Zwar beteuern sie viele Male, dass sie mit der Literatur aufhören wollen, aber ein großer französischer Schriftsteller zu werden bleibt die eigentliche Ambition. Maurice Nadeau fasst es so zusammen:

[…] ce mouvement anti-littéraire, anti-poétique, anti-artistique n’aboutit qu’à une nouvelle littérature, une nouvelle poésie, une nouvelle peinture, infiniment précieuses, certes, mais qui répondent insuffisamment à ce qu’on nous avait promis. Tant d’énergie, tant de foi, tant d’ardeur, tant de pureté, menant à quelques nouveaux noms sur un manuel d’histoire littéraire et à l’enrichissement de quelques marchands de tableaux ?13

Muss man daran erinnern, dass dies auch das Schicksal von René Magritte sein würde, dem früheren Alter Ego Nougés? Sie überwerfen sich zu einer Zeit, in der der eine der Versuchung des Erfolgs erliegt, der ihm zuteil wird, (doch es sind weder der Erfolg noch der Reichtum, die ihm von Nougé vorgeworfen werden, sondern es ist vielmehr die Tatsache, dass er den herkömmlichen Künstlerstatus als Maler für sich akzeptiert), und der andere, der auf Grund familiärer Probleme in relativer Armut lebt.14

Noch ein paar Worte zum Menschen Paul Nougé. Er besitzt eine weitere Gemeinsamkeit mit Breton: seine naturwissenschaftliche Ausbildung. Aber anders als letzterer macht er daraus einen Beruf: Als Biologe arbeitet er lange Zeit in einem Medizinlabor in Brüssel. Er ist 29 Jahre alt, als er mit Camille Goemans und Marcel Lecomte die Zeitschrift Correspondance begründet. Um 1930 heiratet er in zweiter Ehe Marthe Beauvoisin und erlebt mit ihr eine leidenschaftliche Beziehung, in der stürmische Episoden der Trennung vorangehen. Nougé verliert seine Arbeit und muss sich in den Jahren 1956–57, abermals verheiratet, wieder um seine materiellen Belange kümmern. Er stirbt 10 Jahre später, abseits des Literaturbetriebs, nachdem die letzte Zeit seines Lebens von extremen Schwierigkeiten begleitet war.

Erotika

Es ist schwierig, hier eine vollständige Darstellung der Texte zu leisten, die Nougé uns hinterlassen, oder vielmehr, die Marcel Mariën uns bewahrt hat. In den kommenden Jahren wird es, dank der Neuausgaben dieser überbordenden Fülle von Notizen, Flugblättern, Gedichten und Spekulationen, nach neuen Lektüren und Interpretationen zu einer Neubewertung kommen. Dies ist heute noch nicht der Fall, wenn auch unter den verfügbaren Texten einige sind, bei denen zahlreiche Interessen zusammenlaufen, entweder, weil sie mehrfach zum Nachdruck ausgewählt wurden, oder weil es dazu längere Kommentare gibt. Unter einem theoretischen Gesichtspunkt trifft dies ganz bestimmt auf die Conférence de Charleroi (Vortrag von Charleroi) zu, die, wenn man so will, konsistenter ist als das Korpus der verschiedenen Flugblätter, welche eher punktuelle Interventionen sind und mehr den Historiker der Bewegung interessieren.

Dies gilt auch für das, was man die graphischen Gedichte nennen könnte.

L’
intérieur de votre tête
n’est pas cette
masse
grise et blanche
que l’on vous a dite
c’est un
paysage
de sources et de branches
une
maison de feu
mieux encore
la
ville miraculeuse
qu’il vous plaira
d’
inventer15

Sind diese Texte aus La publicité transfigurée (Die verwandelte Werbung, 1925) Gedichte im eigentlichen Sinn? Wir haben gesehen, dass man diese Frage bei Nougé nicht so einfach stellen kann. Folgende allgemeine Charakteristika seines Schreibens sollte man festhalten:

1. Zunächst seine ureigenste Natur, die darin besteht, einen Sprechakt in der Gegenwart herzustellen, eine Intervention, bei der die konative, auf den Empfänger bezogene Funktion die expressive bei weitem überwiegt: es ist in keiner Weise das Romantische Ich, nach dem Nougé auf der Suche ist, worüber er sich an mehreren Stellen äußert16. Der „erklärte Wille, auf die Wirklichkeit Einfluss auszuüben“, geht logischerweise mit einer gewissen Suche oder Billigung von Gefahr einher17.

2. Dann, verbunden mit dem Vorhergegangenen, der moralische Aspekt der Ratschläge oder der Provokationen: „Was muss man tun, um gut zu handeln? Darin besteht die eigentliche Frage – in einer nahezu kindlichen Formulierung“18, schreibt er, überzeugt, dass „die Frage nach der Dichtung unlösbar mit der nach dem rechten Handeln verknüpft ist“, jedoch durchaus getrennt vom „Bemühen zu gefallen“ gesehen werden muss19.

3. Ein dritter Aspekt, der graphische oder räumliche, je nachdem, was man bevorzugt. Es handelt sich um eine kompakte, kurze Form der Texte, die jedoch immer vollständige Sprechakte sind. Es gibt bei Nougé eine ambivalente Neigung zur Verkürzung; auch sie verstärkt ganz sicher die Sprengkraft des Gesagten, manchmal wird sie sibyllinisch und fast hermetisch. Er, der Botschaften senden wollte, scheint nämlich das später von Baudrillard analysierte Paradoxon20 geahnt zu haben, das für einen innerhalb revolutionärer Veränderungen Handelnden allein darin besteht, das Wort zu ergreifen, da dies bedeutet, es einem anderen zu entziehen. So konzipiert Nougé seine Interventionen und zugleich, wenn möglich, deren Ende: Die Bedeutung der Äußerung liegt nur in dem Sich-zu-Wort-melden und in den Vorstellungen, die sie ihrerseits im Kopf des Empfängers hervorbringen kann.

4. Aspekt: Nougé hat eine Vorliebe für die réécriture. Man erinnert sich vielleicht, im Zusammenhang mit Magritte, an den Modekatalog, den er mit ihm gemacht hat. In diesem Fall steht das Ganze unter dem Titel La publicité transfigurée, der recht deutlich die Absicht verrät, einen bestimmten sozialen Gebrauch des Wortes für andere, subversive Zwecke zu instrumentalisieren.

Aber, um nun zu den Erotika zu kommen, hier noch ein anderer Text, der, wie es scheint, den Erwartungen der Kommentatoren und Herausgeber entgegenkommt, Esquisse d’un hymne à Marthe Beauvoisin (Skizze einer Hymne an Marthe Beauvoisin), ein ziemlich später Text – er stammt aus dem Jahr 1953, wurde aber erst dreißig Jahre später veröffentlicht –, und völlig überraschend bei einem Autor, der von sich sagt, dass „das Bekenntnis nicht seine Stärke ist.“21 Wie der Titel nahelegt, ist dieser Text nicht von seiner Biographie zu trennen: er stammt aus einer schmerzvollen Phase, der gleichzeitig schwierigen und leidenschaftlichen Beziehung, die den Autor mit Marthe verband. Nougé hatte nicht im Sinn, daraus ein „Werk“ zu machen. Alles, was er Mariën diesbezüglich hinterlassen hat, ist ein Manuskript, das auf die Rückseite einer Landkarte geschrieben wurde und das enorme philologische Probleme aufwirft. Ist es ein Gedicht? Es besteht jedenfalls aus kurzen Zeilen, die durch Zwischenräume getrennt sind. Eine „traditionelle“ literarische Lesart ist jedoch auch möglich, da ausnahmsweise ein Ich eine dekodierbare parole amoureuse ausspricht, die jedoch insofern verändert wird, als sie die Zeichen von Nougés poetischer Handschrift trägt, die durch eine gewisse Knappheit, relative Nüchternheit und eine nahezu wissenschaftliche Prosa gekennzeichnet ist. Paradoxerweise ist es dieser Ton, der durch Leerstellen im Text und seine graphische Gestaltung fast feierlich wirkt und eine Emotion hervorruft, die durch eben diesen Stil der Verknappung verstärkt wird.

Meilenweit entfernt ist man hier von Bretons Hauptwerk Nadja: einem ästhetisierenden und tendenziell dualistischen Spiritualismus, dessen Versuchungen sowohl Breton als auch Fernand Dumont in La région du cœur (Der Bereich des Herzens) erliegen, stellt man recht leicht, zumindest was die écriture amoureuse bei den Surrealisten angeht, diese Art von brutalem und die üblichen Grenzen überschreitenden Materialismus entgegen, den uns Nougé aufzeigt. Wie zum Beispiel dies:

(Et pourquoi craindre encore
l’allusion intime
l’abîme personnel
le clin d’œil par-dessus les têtes
tant pis pour ceux
qui ne comprendront pas)

(L’exégète qui plongera plus tard
dans ce poème
ne nagera pas facilement)

Il y a aussi ce café de l’avenue de Cortenberg
où tu m’as donné l’adresse de Marcel Duchamp
rue Campagne-Première, où tu m’as dit
qu’une fois, tu avais fait l’amour avec lui
Il y a aussi Yvonne George que j’ai tant aimée
qui t’a appris à pisser dans les lavabos
avec qui tu regardais baiser la putain d’en face
Yvonne que tu as sucée
– moi aussi je l’ai sucée –
ô Yvonne
vieille bête
grande vie perdue

...................................22

Aus dieser Textpassage wird deutlich, dass die Fäden eines affektiven und eines erotischen Diskurses eng verwoben sind, deren Kraft gerade von etwas herrührt, was man andernorts als eine gewisse Plattheit bezeichnen würde. Dieser Effekt bewirkt jedoch gerade das Gegenteil von Plattheit, jedenfalls den Kommentatoren zufolge. Wir sehen auf jeden Fall, dass sich die Erotik Nougés – gemeint ist seine Art, sich dem erotischen Gegenstand literarisch anzunähern –, wenn sie sich in diesem außergewöhnlichen Text in die private und sogar stark anekdotische Sphäre der Biographie flüchtet, (vgl. die Orts- und sonstigen Eigennamen), durch die schon besprochene Form von Nüchternheit auszeichnet.

Dies findet sich auf systematische, um nicht zu sagen methodische Weise wieder in den Texten oder Textgruppen, die die Sammlung Erotika ausmachen, die vor einigen Monaten von Didier Devillez veröffentlicht wurde23. Man findet hier einen Nougé, der sich über Erotik und Lust unter einem sehr „technischen“ Aspekt äußert, ein naturwissenschaftlicher Nougé, der sich auf verschiedene Beobachtungen beruft, darunter Umfragen, aber auch literarische Zitate. Es sind die Commentaires und die Notes sur l’érotisme, die er präsentiert – wahrscheinlich sind sie das Rohmaterial oder die erste Skizze für einen Essay, den er plant –, im Anschluss an eine Erzählung mit dem Titel Georgette, die ihrerseits die réécriture eines erotischen Trivialromans der 30er Jahre darstellt; ein Text, aus dem jede Ausschmückung getilgt ist, so dass sich der Text in einer nüchternen, vielleicht aber auch direkteren Form präsentiert. Es ist wahrscheinlich, dass Nougé, der die Gewohnheit besaß, beim Lesen lange Passagen, manchmal ganze Bücher, von Hand abzuschreiben, diese réécriture nicht zur Publikation vorgesehen hatte: man hat eher den Eindruck eines Experiments, das er „zu verstehen versucht“.

Aber den erstaunlichsten Teil des Bandes, in dem man auch Esquisse d’un hymne à Marthe Beauvoisin wiederfindet, bilden die ersten Abschnitte, mit Titeln wie Le carnet secret de Feldheim (Die geheimen Aufzeichnungen von Feldheim), Pour le cahier secret de Feldheim (Für das geheime Notizbuch von Feldheim), Pour le cahier secret de Maxime Raymond (Für das geheime Notizbuch Maxime Raymonds), Sans titre (Ohne Titel) und La chambre aux miroirs (Das Spiegelzimmer). Allein der Wortlaut dieser Titel, zu denen Texte extrem unterschiedlicher Länge gehören, lässt schon ahnen, dass sich hier philologische Probleme stellen, die vielleicht niemals gelöst werden, wenn es sich erweisen sollte, dass Mariën die dazugehörigen Dokumente nicht behalten hat oder nicht behalten konnte. Diese Arbeit wurde bis heute, soweit mir bekannt ist, nicht in Angriff genommen.

Die traditionelle Unterscheidung zwischen literarischen und diskursiven Gattungen, die mit einer Hierarchisierung einhergeht, interessiert Nougé, wie wir oben gesehen haben, wenig. Und wir haben auch gesehen, wie es Nougé durch eine Methode der Verknappung und der Konzentration schließlich gelingt, Texte, die zunächst von seiner eigenen Absicht weit entfernt sind, eine neue Sprache sprechen zu lassen. Hier wird das Verfahren der Abweichung und Umorientierung deutlich und die Zweideutigkeit im Umgang mit den Genres offenkundig. Manche Texte liefern Indizien dafür, sie der Autobiographie oder der fiktiven Biographie zuzuordnen, andere hingegen zur Kurzgeschichte oder phantastischen Erzählung. Auf der anderen Seite sehen die Texte, die in La chambre aux miroirs (1929) Eingang finden, wie die Notizen eines Biologen aus, der aus beruflichen Gründen dazu veranlasst war, Frauen zu behandeln, die wegen medizinischer Analysen gekommen waren. Es sind 37 Porträts (man denkt hier an die Caractères, so sehr folgt die Schreibweise hier dem Weg der Knappheit und der Effizienz), von denen man zumindest sagen kann, dass sie den Leser in ihren Bann schlagen. Manchmal hat man das Gefühl, es mit einem Entwurf oder der Kurzfassung eines Romans zu tun zu haben:

5. Une jeune fille. Docile. Très noire. Se présente de face. Beaux seins rigides et colorés. Ventre étonnamment étroit et plat. Forte et longue toison dressée.

6. Jeune fille. Employée de bureau. Assez vive. Docile. Seins ronds, petits, un peu lourds. Mamelons transparents, roses. Le vrai corail de la littérature.24

Man hat den Eindruck, dass hier literarische Stereotypen nur aufgerufen werden, um eine noch größere Distanz zur Literatur zu halten, die eben nicht der Ort ist, wo man die „wahre Koralle“ findet. Es ist aber auch nicht so sicher, dass die Brücken zu diesem Bereich abgebrochen wurden, und das Portrait eines Hausmädchens, das folgt, trägt Spuren der alten Dienerin, deren Züge Flaubert in Madame Bovary verewigt hat.

37. C’est une servante, sans doute.

Ses trente-neuf ans portent le visage ravagé de la cinquantaine, ridé, couperosé, – et les dents aurifiées pourrissent.

Elle est docile et gaie. Lorsque les froissements du linge se sont tus, soudain je me retourne : la splendeur de ses seins m’atteint en plein cœur.

Ils sont singulièrement petits, ronds, sans flétrissures, des seins de très jeune fille, aux aréoles pâles, aux pointes délicates. Et le ventre un peu fort, les hanches étroites offrent des courbes exquises.

Elle est mince, élégante sous des dessous misérables.

Le poil est rare, le sexe profondément caché entre les cuisses très longues. La peau est merveilleusement pure.

Revêtue, elle est affreuse.

… Ceci, pour ceux qui s’étonnent que l’on puisse faire l’amour avec de vieilles femmes.25

Lassen wir die Esquisse d’un hymne à Marthe Beauvoisin beiseite, ein bewegender Text, doch ganz außer der Reihe, der als ein außergewöhnliches Zeugnis eines „Bekenntnisses“ gelesen werden kann, das einem Mann sozusagen entschlüpft ist, der erschüttert wurde von den Ereignissen, die ihm widerfahren sind.

Die Frage, die bleibt, und die uns letztlich beschäftigt, ist folgende: Wie verbinden sich diese Überlegungen und diese erotischen Notizen mit der weiter oben beschriebenen Vorgehensweise, der eines Akteurs des Surrealismus, der Breton die Stirn bot, der aller Wahrscheinlichkeit nach Magritte inspirierte, und der die Literatur in den Dienst der Revolution stellen wollte?

Sicherlich ist eine erste, formale Verbindung sichtbar: der analytische Ton, eine prosaische Ausdrucksweise, ein nüchterner Objektivismus, oder, wenn man will, eine zurückhaltende Subjektivität, die man in allen Schriften Nougés findet. Eine zweite Verbindung erscheint in einer Hypothese, die man in den Commentaires lesen kann: es gibt eine gewisse Beziehung zwischen sexueller Erregung und literarischer Kreativität, ein Bezug, den er durch die Masturbation26 oder den Voyeurismus27 herzustellen versucht, manchmal auch durch den Akt der Transgression, sei es die der Tat selbst oder die ihrer Erzählung (84): Ein anderes Subjekt als das des bürgerlichen Humanismus, also eine andere mögliche Geschichte, tritt in der methodischen Untersuchung der sexuellen Realität, so wie sie erlebt wird, auf28.

Eine dritte Verbindung zeichnet sich ab in dem, was wir bezüglich des genreüberschreitenden Charakters der Schreibpraxis des Autors von La publicité transfigurée29 gezeigt haben; sicher ist es diese Absicht, die ihn dazu brachte, eine réécriture des Romans Georgette zu verfassen. Aber diese Disposition beruht selbst auf etwas anderem, dessen politische Dimension offensichtlich ist, und das ist das Referenzsystem Nougés, das nicht nur die Grenzen des Genres, sondern auch die sozialen Grenzen überschreitet. Bekanntlich bezeichnet die Einteilung nach Gattungen, früher zwischen Tragödie und Komödie, heute zwischen Literatur und Paraliteratur, in gewisser Weise eine andere Trennungslinie. Wenn man nun Breton und die meisten der zeitgenössischen Autoren ansieht, erstaunt die extreme Treue gegenüber einem gewissem literarischen und teilweise auch philosophischen Kanon, auch wenn dieser gleichzeitig neu hierarchisiert wird. Nougé, der Polemiker und Theoretiker, streitet zwar selbst auch auf diesem Terrain, aber er fügt andere Beobachtungen hinzu, die man durchaus als klinisch bezeichnen könnte; so beschreibt er in La conférence de Charleroi die Gefahren der Musik an Hand verschiedener Anekdoten, die er den Faits-divers entnommen hat. In den Texten, die, obwohl einem anderen Genre angehörig, dennoch teilweise zur Literatur gehören, zum Beispiel La publicité transfigurée, sieht man, wie er für die Dichtung eher triviale Wege wählt, aus denen sie übrigens nicht unversehrt hervorgeht; aber auch die Trivialität bleibt sozusagen nicht unversehrt.

Doch könnte man auch nicht behaupten, dass La chambre aux miroirs nur klinische Aufzeichnungen enthält; und ebenso wenig, dass es sich einfach um Dichtung oder literarische Portraits handelt. Und hier kommt die Wirkung, die der Text auf den Leser hat, in ihrer ganzen Tragweite zur Entfaltung: Der Text hat sich von seinen Gattungen (und seinen anderen literarischen Kleidungsstücken) befreit, so wie die erwähnten Frauen sich eines Kleidungsstückes entledigt haben, das sie einteilte nach Alter, Klassenzugehörigkeit oder der Fähigkeit, zu verführen. Übrig bleibt das Produkt einer Vereinfachung, deren „wissenschaftliches“ Verfahren die „Reinheit“30 offensichtlich werden lässt. Es bleibt also der Körper als ein Objet bouleversant (erschütterndes Objekt)31, dasselbe Konzept, das Nougé häufig, und mit gutem Grund, bezüglich der Bilder von Magritte verwendet. Nun bringt dieses Objet bouleversant eben das Begehren ins Spiel32.

Aber welchen Sinn soll man alledem nun geben? Sicher den denkbar weitesten, denn aus der Erschütterung kann alles hervorgehen. „Begehren bedeutet, uns ganz in den Dienst der Möglichkeiten des Geistes zu stellen“. Doch reicht diese Antwort? Nougé bleibt sich selbst treu und präzisiert das Ziel dieser Möglichkeiten nicht. Es reicht ihm vorläufig, dass die Entblößung, die abrupte Art, in der sie geschrieben ist, Aufforderung ist, die Realität wahrzunehmen und das Imaginäre zu entkleiden. „Wir könnten eine geschminkte Realität nicht ertragen“, schreibt Nougé in der Conférence de Charleroi. Das bedeutet, dass er an dieser Stelle eine erste konkrete Geste wahrnimmt, sowie das Zeichen für alle anderen. In diesem Sinne sind die Erotika wirklich ein „wahrhaftiges Forschungslabor für die Wirksamkeit von Poesie“.

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Bibliographie

Breton, André. Manifestes du surréalisme. Folio-essais 5. Paris: Gallimard, 1985.

Devillez, Didier, Hrsg. Œsophage. Marie. Correspondance. Fac-similé. Bruxelles: Didier Devillez, 1993.

Nougé, Paul. Histoire de ne pas rire. Cistre-Lettres différentes. Lausanne, L’Age d’Homme 1980.

———. L’expérience continue. Cistre-Lettres différentes. Lausanne: L’Age d’Homme, 1981.

———. Des mots à la rumeur d’une oblique pensée. Cistre-Lettres différentes. Lausanne: Ed. de L’Age d’Homme, 1983.

———. Fragments. Préface de Frans De Haes. Lecture de Marc Quaghebeur. Espace Nord 7. Bruxelles, Ed. Labor, 1983.

———. Érotiques. Bruxelles: Didier Devillez, 1994.

———. Journal (1941–1950). Avertissement de Marcel Mariën. Suivi de Notes sur les échecs. Avertissement de Denis Marion. Bruxelles: Didier Devillez, 1995.

———. Quelques bribes. Bruxelles: Didier Devillez, 1995.

———. La Musique est dangereuse. Ecrits autour de la Musique, rassemblés et présentés par Robert Wangermée. Bruxelles: Didier Devillez, 2001.

Sekundärliteratur

Aron, Paul, Hrsg. Surréalismes de Belgique. Textyles 8. Bruxelles, Textyles, 1991.

Baudrillard, Jean. Pour une critique de l’économie politique du signe. Tel. Paris: Gallimard, 1972.

Fauchereau, Serge. Expressionnisme, Dada, Surréalisme et autres ismes, Tome II, 204–60. Paris: Denoël-Les Lettres nouvelles, 1976.

Marien, Marcel. L’activité surréaliste en Belgique. Bruxelles: Lebeer-Hossmann, 1979.

Michel, Geneviève. Paul Nougé: la poésie au coeur de la révolution. Bruxelles: P.I.E. Peter Lang-Archives et Musée de la Littérature, 2011.

Nadeau, Maurice. Histoire du surréalisme. Points-Littérature 1970. Paris: Seuil, 1964.

Quaghebeur, Marc. „Balises pour l’histoire de nos lettres“, in Alphabet des lettres belges de langue française, 9–202. Bruxelles: Promotion des Lettres, 1982.

Smolders, Olivier. Paul Nougé: écriture et caractère. A l’école de la ruse. Essai biographique. Archives du Futur. Bruxelles: Labor, 1995.

Soncini Fratta, Anna, Hrsg. Paul Nougé: pourquoi pas un centenaire? Bussola. Bologna, Clueb, 1998.

Toussaint, Françoise. Le surréalisme belge. Un livre, une œuvre. Bruxelles: Labor, 1986.


  1. Siehe Soncini, Paul Nougé. Aus der letzten Zeit ist noch das Buch von Geneviève Michel, La Poésie au cœur de la Révolution von 2011 zu erwähnen.

  2. Siehe u.a. die von M. Nadeau zitierten Texte: Nadeau, Histoire du surréalisme, 24, 48, 67.

  3. Breton, Manifestes du surréalisme, 127. „Ohne genau zu wissen, an wen er denkt, meine ich auf jeden Fall, dass es von dem einen oder anderen nicht zu viel verlangt ist, damit aufzuhören, sich gefällig zur Schau zu stellen und auf einer Bühne aufzutreten.“

  4. Der Umschlag von Nadeaus Buch in der Reihe „Points“ zeigt ein Bild Magrittes, bei dem verschwiegen wird, von welchem Künstler es stammt. Als einzige Angabe findet sich der Hinweis, dass es sich um einen Ausschnitt aus der Zeitschrift La Révolution surréaliste handelt.

  5. Man kann sich auch fragen, ob Bemerkungen von Nougé nicht andere surrealistische Künstler beeinflusst haben; z.B. wird jene Szene aus dem Film Le Fantôme de la liberté (Das Gespenst der Freiheit) von Buñuel, in der man Leute sieht, die sich schamhaft verbergen, um zu essen, zugleich aber ungeniert öffentlich ihre Notdurft verrichten, von Nougé mit ähnlich lautenden Bemerkungen versehen, vgl. Erotiques, 45, 172. Der Ausdruck „fantôme de liberté“ taucht in einer anderen Äußerung Nougés wieder auf, die weiter unter zitiert ist, und die sich auf eine Bourgeoisie bezieht, wie sie im Film dargestellt wird.

  6. „Surréalisme, n.m. Automatisme psychique pur par lequel on se propose d’exprimer […] le fonctionnement réel de la pensée […]“, Breton, Manifestes du surréalisme, 36.

  7. Réflexions à voix basse (Leise Überlegungen), in Histoire de ne pas rire, 21.

  8. Histoire de ne pas rire, 207–208.[…] Werden wir, wie manche es uns vorschlagen, auf jede entschiedene Handlung, auf jegliche Umsetzung verdächtiger Vorhaben verzichten – nur um untätig zu bleiben, über uns gebeugt, wie über einen immensen dunklen Abgrund, um auf Wunder zu warten, auf die Erscheinung des Außergewöhnlichen? | Ich weiß, dass so die Haltung von vielen von uns, ja, von den Besten unter uns, aussieht. | Doch was mich anbelangt, so kann ich nicht umhin, darin einen kapitalen Irrtum zu sehen, eine falsche Bequemlichkeit, und, unter dem Deckmantel eines schmerzerfüllten Pathos, eine ziemlich große Falle, die uns unsere Faulheit und unsere unüberbietbare Feigheit stellen.“

  9. Histoire de ne pas rire, 211.

  10. Smolders, Paul Nougé, 52. „[…] Dort, wo André Breton die Existenz einer parallel existierenden Welt wahrzunehmen glaubt, die dem Bewusstsein nur durch die Geistesblitze des Schreibens und durch ergreifende objektive Zufälle zugänglich ist, befürwortet Nougé eine Sicht der Dinge, in der die Welt erst erfunden werden muss, und zwar durch die alleinige Betätigung des Geistes und der Sinne.“

  11. Zit. in Nadeau, Histoire du surréalisme, 100. Siehe A l’occasion d’un manifeste (Anlässlich eines Manifests), in Histoire de ne pas rire, 28–30.

  12. La poésie transfigurée. Flugblatt vom 30. Januar 1932, zit. von Toussaint, Le surréalisme belge, 43.[…] Das Gedicht nimmt im sozialen Leben Gestalt an. Von jetzt an fordert es die Verteidiger der etablierten Ordnung dazu heraus, dem Dichter gegenüber all jene Mittel einzusetzen, die den Urhebern subversiver Unternehmungen vorbehalten sind. […] Es ist die kapitalistische Bourgeoisie selbst, die es sich zur Aufgabe macht, auf möglichst unwiderlegbare Weise die verlogene Eitelkeit ihrer intellektuellen und moralischen Hauptwerte vorzuführen, und vor allem diejenige Erscheinung der Freiheit, die sie als ihr Idol errichtet hatte, für immer von der geistigen Bühne zu verjagen. | Es würde nichts nützen zu protestieren und an Prinzipien zu appellieren, welche die hier behandelten Tatsachen allein schon ausreichend leugnen.“

  13. Nadeau, Histoire du surréalisme, 5.[…] diese anti-literarische, anti-poetische, anti-künstlerische Bewegung mündet wieder nur in eine neue Literatur, eine neue Dichtung, eine neue Malerei, was sicher sehr wertvoll ist, aber nur in ungenügender Weise dem entspricht, was uns versprochen wurde. So viel Energie, so viel Glauben, so viel Eifer, so viel Reinheit, die zu einigen neuen Namen in einem Handbuch zur Literaturgeschichte führt und zur Bereicherung einiger Kunsthändler.“

  14. Vgl. Smolders, Paul Nougé.

  15. Zit. in Quelques bribes, 48. „Das | Innere Eueres Kopfes | ist nicht diese | graue und weiße | Masse | wie man Euch gesagt hat | es ist eine | Quellen- und | Ästelandschaft | ein | Feuerhaus | besser noch | die | wunderbare Stadt | die | zu erfinden | Euch Spaß machen wird.“

  16. U.a. Notes sur la poésie, wieder aufgenommen in Histoire de ne pas rire, 164.

  17. Vgl. La conférence de Charleroi, 187, 192, 204.

  18. Des mots à la rumeur d’une oblique pensée, 37.

  19. Notes sur la poésie, wiederaufgenommen in Histoire de ne pas rire, 161, 163.

  20. Siehe Baudrillard, Pour une critique de l’économie politique du signe.

  21. Des mots à la rumeur …, 73. Zum Hervortreten des Lyrischen bei Nougé, siehe Frans De Haes in Nougé, Fragments, 15.

  22. (Und warum noch Angst haben | vor der intimen Andeutung | vor dem eigenen Abgrund | vor dem Augenzwinkern über die Köpfe hinweg | Pech für diejenigen | die nicht verstehen werden) || […] || (Der Exeget, der später in dieses Gedicht | eintauchen wird | wird nicht leicht schwimmen können) || Es gibt auch dieses Café in der Cortenbergerstraße | wo du mir die Adresse von Marcel Duchamp gegeben hast | Rue Campagne-Première, wo du einmal | – wie du sagst – mit ihm geschlafen hast | Es gibt auch Yvonne George, die ich so geliebt habe | die dich gelehrt hat, in die Waschbecken zu pissen | mit der du der Hure von gegenüber beim Ficken zusahst | Yvonne, an der du gesaugt hast | – auch ich habe an ihr gesaugt – | oh Yvonne | altes Haus | großes verlorenes Leben || .............................

  23. Dieser Band vereinigt bei weitem nicht alle Texte Nougés, die auf die eine oder andere Weise die Liebe und Erotik thematisieren. Eine detaillierte Darstellung würde den Rahmen diese Artikels sprengen. Siehe hierzu auch den Fall von Etéria, „Les cartes transparentes“ (Die transparenten Karten), in Des mots à la rumeur, 10–35.

  24. „5. Ein Mädchen. Folgsam. Sehr schwarz. Zeigt sich von vorne. Schöne straffe und farbige Brüste. Erstaunlich schmaler und flacher Bauch. Starke und lange, buschige Schamhaare. | 6. Mädchen. Büroangestellte. Ziemlich lebhaft. Folgsam. Runde, kleine, ein bisschen schwere Brüste. Helle, rosige Brustwarzen. Die wahre Literaturkoralle.“

  25. „37. Das ist zweifellos eine Hausangestellte. | Ihre neununddreißig Jahre tragen das mitgenommene Gesicht einer Fünfzigjährigen, voller Falten, gerötet – und die vergoldeten Zähne faulen vor sich hin. | Sie ist folgsam und fröhlich. Als das Knistern der Wäsche verstummt, drehe ich mich plötzlich um: Die Pracht ihrer Brüste trifft mich mitten ins Herz. | Sie sind außergewöhnlich klein, rund, unverwelkt, Brüste eines ganz jungen Mädchens, mit hellen Brustwarzen, die wunderbar zugespitzt sind. Und der Bauch, der sich ein wenig abzeichnet bildet gemeinsam mit den schmalen Hüften erlesene Kurven. | Sie ist schlank, elegant unter ihrer schäbigen Unterwäsche. | Die Schamhaare sind spärlich. Das Geschlechtsorgan ist tief zwischen sehr langen Schenkeln versteckt. Die Haut ist wunderbar rein. | Wieder angekleidet, ist sie abstoßend. | … Dies an alle, die sich wundern, dass man mit alten Frauen schlafen kann.“

  26. Commentaires, in Érotiques, 83, 94, 102–3.

  27. Commentaires, in Érotiques, 78–9, 83, vgl. auch Journal, 111–2.

  28. „Il est certain que notre histoire sexuelle n’a pas cette allure par trop simple, cette prédestination calviniste que nous lui prêtons à la légère.“ (Es ist sicher, dass unsere Sexualgeschichte nicht diesen manchmal etwas beschränkten Charaker hat, diese calvinistische Prädestination, die wir ihr manchmal so leichthin zuschreiben.) Commentaires, 89. Die Sexualität ist auch ein Gebiet, das sich besonders eignet, um mit dem willkürlichen Charakter der Norm zu experimentieren. Vgl. Erotiques, 163.

  29. „Übrigens sollte man feststellen, dass eine Kontinuität vom Charme der klassischen Tragödie zum Charme des erotischen Films besteht“, bemerkt Nougé, Erotiques, 78, siehe auch Journal, 120.

  30. „J’essaie de surprendre ici la construction érotique quand elle se veut poussée à l’extrême, à la pureté. Il faut renoncer alors à la transposition, à la suggestion voilée. L’expression tend à la rigueur de la description scientifique.“ („Ich versuche, hier dem Erotischen auf die Spur zu kommen, nämlich dann, wenn es ins Extreme geht. Man muss folglich auch auf die Übertragung der verschleierten Andeutung verzichten. Der Ausdruck nähert sich der Strenge der wissenschaftlichen Beschreibung an.“) Erotiques, 175. M. Quaghebeur hat die Implikationen dieser Vereinfachung hervorgehoben, die bei Nougé manchmal im Gewand des Primitivismus erscheint, vgl. Journal, u.a. 15, 17.

  31. „Scientifiquement et parfaitement construits, ces objets ont pour fonction d’amener le sujet à se remettre en cause et en branle.“ („Diese Objekte, die so kalkuliert konstruiert sind, haben zum Ziel, das Subjekt in Frage zu stellen und es zu erschüttern“.) „C’est alors que le mystère devient productif et objectif.“ („So wird das Geheimnis produktiv und objektiv.“) M. Quaghebeur, „L’homme qui ne perdit jamais conscience“, in Quelques bribes, 11. Man erinnert sich vielleicht, dass für Breton dem konstruierten Geheimnis ein Wunderbares entgegenstand, das wie eine Gnade empfunden wurde, wie hartnäckig Breton auch dagegen protestiert haben mag (in Préface à la réimpression du manifeste, 1929), dass eine solche Gnade der göttlichen Gnade entgegengesetzt ist. Vgl. Nadeau, Histoire du surréalisme, 165.

  32. „Das überraschende Objekt“, formuliert Nougé, „ertappt uns“ („nous trouve en défaut“). Des mots à la rumeur, 99.





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