An den Wurzeln einer „Sinneinheit eigenen Gepräges“: der Arbeitskreis Europa – Politisches Projekt und kulturelle Tradition der Fritz Thyssen Stiftung stellt sich vor

Matthias Bürgel, Moritz Hildt

Bereits seit geraumer Zeit lässt sich feststellen, dass die Zustimmung zum Projekt der europäischen Einigung schwindet: In den unmittelbar auf den Zweiten Weltkrieg folgenden Jahrzehnten allgemein als Idee einer dauerhaften Friedensunion wahrgenommen, wird „Europa“ im öffentlichen Bewusstsein heute mehr und mehr als eine politisch-ökonomische Zweckgemeinschaft aufgefasst. Es ist gemeinhin das wirtschaftliche Wohlergehen, das mit dem Reüssieren des Projektes gleichgesetzt wird. Dies wird begleitet von einer wirtschafts-, sozial- und währungsrechtlichen Vereinheitlichung sowie dem stetigen Ausbau einer europäischen Bürokratie, die an einem offenkundigen Legitimierungsdefizit krankt, werden die Entscheidungen „Brüssels“ doch häufig als die einer fremden, sachlich nicht ausreichend kompetenten und durch Detailvorschriften die Bevölkerung der Mitgliedsstaaten gängelnden Behörde empfunden.

Das Ziel des Arbeitskreises Europa – Politisches Projekt und kulturelle Tradition der Fritz Thyssen Stiftung ist, diese gleich doppelte Verkürzung des Europa-Gedankens in der öffentlichen Wahrnehmung zu korrigieren. Die Forschungsgruppe möchte, das Phänomen Europa in seiner ganzen Breite auffächernd, darin erinnern, dass das Fundament der europäischen Integration weit tiefer liegen kann als das einer rein zweckgebundenen Interessengemeinschaft. Begründer und Leiter des Arbeitskreises sind Otfried Höffe, em. Professor für Philosophie und Leiter der Forschungsstelle Politische Philosophie an der Eberhard Karls Universität Tübingen, sowie Andreas Kablitz, Professor für Romanische Philologie und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft und Direktor des Petrarca-Instituts an der Universität zu Köln. Diese Konstellation gibt bereits die grundlegend interdisziplinäre Ausrichtung der Forschungsgruppe zu verstehen.

Wie schon sein Name anzeigt, begreift der Arbeitskreis die Identität des Kontinents als eine Wertegemeinschaft politischer und kultureller Traditionen, die den politischen Zusammenschluss überhaupt erst ermöglichte und der Existenz eines gemeinsamen Bewusstseins zu verdanken ist, welches seine Wurzeln in der von verschiedenen Historikern (Marc Bloch, Lucien Fabvre) immer wieder betonten „Geburt Europas im Mittelter“ (so der deutsche Titel eines Essays des im vergangenen Jahr verstorbenen Jacques Le Goff) hat, welche aber ihrerseits gewiss schon in der Antike angelegt war. Bereits in den Texten der Karolingerzeit und der ihr folgenden Jahrhunderte sei Europa keine „rein geographische Benennung – ein Ausdruck, der übrigens keinen Sinn macht“1. Das erwähnte doppelte Wahrnehmungsdefizit resultiert, so der Grundgedanke des Projektes, aus einer mangelnden Besinnung auf diese Wurzeln und einer somit zu geringen Bekräftigung dieser gemeinsamen historischen Gemeinsamkeiten und Werte.

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Dem Arbeitskreis Europa geht es also vorrangig um zweierlei: Erstens untersucht er, gewissermaßen nach innen gerichtet, dasjenige, was in Europa staats- und kulturübergreifend als einheits- und identitätsstiftend angesehen werden kann, also das genuin Europäische. Den Begriff der Wertegemeinschaft als provisorischen Ausgangspunkt nehmend, unternimmt es der Arbeitskreis, die verschiedenen kulturellen, politischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Errungenschaften Europas eben daraufhin zu befragen: Was ist an ihnen „europäisch“, und worin besteht die Eigenart Europas? Nach außen gerichtet beschäftigt sich der Arbeitskreis, zweitens, mit der Frage, wie sich die Geschichte Europas – als politisches Projekt ebenso wie in seinen zahlreichen kulturellen Traditionen – zur Geschichte anderer Weltteile und dortiger Kulturen verhält: Sind die europäischen Errungenschaften einzigartig? Sind sie „exportierbar“, und, wenn ja, in einer Weise, die einen kruden intellektuellen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Imperialismus vermeidet?

Der Arbeitskreis Europa möchte für diese Fragen ein wissenschaftliches Diskussionsforum bilden. Aus diesem Grund veranstaltet der Arbeitskreis jährlich zwei mehrtägige Symposien, auf denen sich renommierte Wissenschaftler in Vorträgen und Diskussionen unter einem bestimmten Themenfeld dem Erbe und der Gegenwart Europas widmen. Um darüber hinaus auch die interessierte Öffentlichkeit anzusprechen und miteinzubeziehen, findet im Rahmen jedes Symposiums ein öffentlicher Abendvortrag statt, der im Vorfeld über die örtlichen Medien und Verteiler breit beworben wird und sich immer großer Aufmerksamkeit erfreut. Die Beiträge der Symposien werden, in überarbeiteter Form, in Tagungsbänden publiziert. Die entsprechende Schriftenreihe des Arbeitskreises Europa der Fritz Thyssen Stiftung erscheint im Rombach Verlag (Freiburg i. Br.).

Der Arbeitskreis nahm seine Arbeit im März 2013 auf. Zwei Monate später, im Mai 2013, fand das erste Symposium Europas Sprachenvielfalt und die Einheit seiner Literatur in Köln statt. Im November 2013 folgte eine Tagung zu Recht und Gerechtigkeit in Tübingen. Die beiden Symposien im Folgejahr widmeten sich den Themen Europäische Musik – Musik Europas (Januar 2014, Köln) sowie Religion im säkularen Zeitalter (Dezember 2014, Köln). Nachdem nach zweijähriger erfolgreicher Aktivität beschlossen wurde, den Arbeitskreis um weitere zwei Jahre weiterzuführen, organisierte die Projektgruppe im Juni 2015 ein Symposium zu Bild und Bildlichkeit in Köln. Weitere Veranstaltungen und Publikationen sind bis zum Frühjahr 2017 geplant, wenn der Arbeitskreis voraussichtlich seine Arbeit abschließen wird.

Die Tagungen, deren Dauer – je nach Umfang des Themenspektrums – sich von einem bis zu drei Tagen hin erstreckt, finden in den Räumlichkeiten der Fritz Thyssen Stiftung, direkt im Kölner Stadtzentrum (gegenüber der Basilika St. Aposteln und somit an einem Ort, der durchaus selbst europäische Geschichte atmet), statt. Dies ermöglicht ebenfalls eine Wahrnehmung der Veranstaltungen seitens der interessierten Öffentlichkeit und einen Austausch über die behandelten Themen mit dem Publikum, wofür insbesondere die an die Abendvorträge anschließenden Empfänge eine willkommene und gern genutzte Gelegenheit bieten. Die Universität zu Köln und die Universität Tübingen sind, als Wirkstätten der Leiter des Projektes, weitere Ausrichtungsorte einzelner Veranstaltungen.

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Den Reigen der Veranstaltungen eröffnete am 2. Mai 2013 das Symposium Europas Sprachenvielfalt und die Einheit seiner Literatur. Bei der von Ursula Peters moderierten Veranstaltung sprach zunächst Otfried Höffe „Zu Europas Philosophie der Dichtung: drei Modelle“. Diese identifizierte Höffe bei Platon, Aristoteles und Kant, wobei erst bei Letzterem das Ästhetische zu einem eigenständigen Bereich geworden sei. Es folgte Joachim Küppers Vortrag über „Das frühneuzeitliche europäische Drama und das Konzept der Nationalliteratur“, welcher die Europa bis heute zutiefst prägende Mischung aus Homogenitätsbewusstsein und Diversität, wie sie gerade in den nationalsprachlichen Literaturen hervortrete, in den Vordergrund rückte. Die erste Tagung des Arbeitskreises wurde beschlossen durch Andreas Kablitz’ „Der provenzalische Minnesang und die europäische Lyrik“, einer mehrere Jahrhunderte umspannenden Analyse des „Reflexionspotential des Eros“ in all seinen Variationen und Abwandlungen, wie es von den trobadors an im dichterischen Medium als genuin europäisches Kulturelement erscheint.

Die anwesenden Diskussionsteilnehmer David Nelting, Arbogast Schmitt und Gideon Stiening bereicherten nicht nur das öffentliche Symposium, sondern auch den im Druck befindlichen Tagungsband, für den sie ihre Repliken in komplette eigene Beiträge transformierten: Schmitt behandelt in „Aristoteles und Horaz und ihre Bedeutung für zwei unterschiedliche Phasen der europäischen Literatur. Anmerkungen aus altphilologischer Sicht zur Einheitlichkeit der europäischen Literatur“ die grundlegende Relevanz des aristotelischen Literaturverständnisses, in anderer Weise ebenso Stiening in „Aristoteles als Garant des europäischen Ranges deutschsprachiger Dichtung in den Dichtungstheorien der frühen Neuzeit: Opitz – Gottsched – Lessing“. Nelting, wiederum, bejaht in „Petrarcas renovatio Romae und die Nationalität europäischer Kultur. Diskussionsbeitrag anlässlich von Joachim Küpper, ‚Das frühneuzeitliche europäische Drama und das Konzept der Nationalliteratur‘“ die im genannten Aufsatz geäußerte Hoffnung auf das Reüssieren einer „transnationale[n] europäische[n] Kultur“ vor dem Hintergrund einer auf der Positionierung Petrarcas als Begründer „eines weitgehend homogenen europäischen Humanismus“ basierenden Darstellung der Entwicklung eines entsprechenden europäischen und nationalen Bewusstseins. Abgerundet wird der Band durch Klaus Metzgers „Vom Theater in Europa zum Théâtre de l’Europe – ein Fortschritt?“, einem Zwischenruf eines Theaterpraktikers, der anhand des erfolgreichen Beispiels des Pariser Théâtre de l’Europe Perspektiven aufzeigt, wie sich künstlerisches Schaffen in den europäischen Sprachen, verstanden in ihrer ganzen Vielfalt, behaupten kann.

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Zweifelsohne hat die geistesgeschichtliche Tradition Europas in vielerlei Hinsicht unser heutiges Verständnis von Recht und Gerechtigkeit geprägt. Auf dem zweiten Symposium des Arbeitskreises, das am 28. und 29. November 2013 unter dem Titel Recht und Gerechtigkeit in den Räumen der Universität Tübingen stattfand, nahmen sich Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen und mit teils interdisziplinärer Ausrichtung der Frage an, worin das europäische Verständnis von Recht und Gerechtigkeit gründet, und was seinen (historischen wie normativen) Kern ausmacht.

Dieter Langewiesche warf zunächst einen historischen Blick auf die Genese des Rechtsverständnisses in Europa. Unter dem Vortragstitel „Staatsbildungen in der europäischen Geschichte: Macht – Recht – Vertrag“ skizzierte er den Übergang eines Verständnisses, in dem die politische Macht der entscheidende Faktor ist, hin zu einem demokratischen Rechtsverständnis, das von der Vorstellung eines Gesellschaftsvertrags getragen wird. Eine Perspektive auf gegenwärtige Herausforderungen nahm Jens-Hinrich Binder ein, der wirtschaftsrechtliche Überlegungen zum Thema „Nationalstaat und rechtliche Integration“ anstellte. Den öffentlichen Abendvortrag dieses Symposiums bestritt der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg. Er diskutierte unter dem Titel „Integration und Demokratie: zwei europäische Werte im Widerstreit?“, inwieweit diese beiden Begriffe in den aktuellen Debatten, aber auch in ihrer historischen Prägung einander entgegenstehen, und wie sie dadurch das Projekt Europa in unterschiedliche Richtungen weisen.

Den zweiten Tag des Symposiums eröffnete Otfried Höffes Vortrag über „Europäische Naturrechtslehrer: Aristoteles, Hobbes und Kant“, in dem Höffe drei Rechtsphilosophen präsentierte, deren grundlegende Überlegungen die europäische Denktradition entscheidend, sogar weichenstellend prägten. Einen Blick über Europa hinaus, und von dort aus zurück auf Europa, unternahmen der Sinologe Michael Lackner mit einem Referat zu „‚Gerechtigkeit‘, ‚rechte Bedeutung‘, ‚Macht‘, ‚Recht‘: Bemerkungen zur Problematik von Recht und Gerechtigkeit im traditionellen und modernen China“ und Achim Mittag mit seinem ausführlichen Kommentar „Vom Gerechtigkeitssinn, vom angemessenen Handeln, vom rechten Wortsinn: drei Anmerkungen zum Begriff yi“. Zwei juristische Beiträge beschlossen die Veranstaltung. Aus rechtshistorischer Perspektive sprach Thomas Finkenauer zu „Die römischen Juristen und die Gerechtigkeit“, während Heinz-Dieter Assmann ins Heute wechselte und eine Analyse der „Erosionen des Rechts im Zuge der Schaffung der Europäischen Union“ anstellte. Zu den genannten Vorträgen wurden im Verlauf der Tagung weitere Kommentare von Gabriele Abels, Rudolf Hrbek und Dietmar von der Pfordten gegeben.

Der Tagungsband Recht und Gerechtigkeit erschien als Band zwei der Schriftenreihe des Arbeitskreises Europa der Fritz Thyssen Stiftung im Herbst 2014 im Rombach-Verlag (Freiburg i. Br.).

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Wiederum in Köln tagte der Arbeitskreis sodann am 31. Januar 2014 zum Thema Europäische Musik – Musik Europas. Die Redner des Symposiums ermöglichten es den Zuhörern, innerhalb eines Tages mehrere Jahrhunderte der Musikgeschichte zu durchstreifen: Am Anfang stand dabei Frank Hentschels Frage „Gibt es eine europäische Musik des Mittelalters“, auf die Peter Wollnys „Johann Sebastian Bach: der Europäer“ folgte. Wolfram Steinbeck, schließlich, präsentierte mit „‚Absolute Musik‘: ein deutscher Beitrag zur europäischen Kunstgeschichte“ einen „fundamentalen Kerngedanken europäischer Kunstmusik“ deutscher Provenienz, der somit erneut das Wechselspiel zwischen national geprägten Ideen und ihrer den gesamten Kontinent betreffenden Wirkung, wie sie für die kulturelle Identität Europas so typisch ist, erhellte. In den kurz vor der Drucklegung begriffenen Tagungsband einfließen werden zudem Beiträge von August Gerstmeier, Gunnar Hindrichs, Silke Leopold, Christoph Wolff sowie der beiden Arbeitskreisleiter selbst, welche einerseits die einheitsstiftenden Elemente der europäischen Musiktradition vom Mittelalter, über Barock und Klassik bis zur Gegenwart hin weiter definieren werden, während sie andererseits, so insbesondere im Ausblick von Otfried Höffe, den kosmopolitischen, den „exportfähigen“ und somit auch eine Integration des „Fremden“ ermöglichenden Charakter der Musik Europas ausleuchten.

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Das Thema des vierten Symposiums des Arbeitskreises, Religion im säkularen Europa, hatte einen offenkundigen, sogar drängenden tagespolitischen Bezug. Denn die Frage, wie die europäischen Gesellschaften und die europäische Gemeinschaft ihr Zusammenleben in einer Zeit organisieren, in der in großen Teilen des Kontinents die traditionellen christlichen Institutionen an Zulauf verlieren, ist in höchstem Maße aktuell. Die Tagung stellte sich, vom tagespolitischen Diskussionsrahmen reflektierend zurücktretend, darüber hinaus die Frage, welchen Stellenwert in den weitgehend säkularisierten Gesellschaften Europas das gemeinsame Erbe des Christentums in all seinen Facetten hat, beziehungsweise haben sollte.

Eine solche Diskussion bedarf zunächst einer Klärung des Begriffs der Säkularisierung. Diese unternahm Franz-Xaver Kaufmann in seinem Beitrag „Religionsbegriff und Säkularisierung (ca. 1700–1850)“, dem sich ein weiteres, historisch ausgerichtetes Referat von Dieter Langewiesche zum Thema „Religion als gesellschaftliche Macht im 19. Jahrhundert“ anschloss. Da auch die Frage nach der Zugehörigkeit des Islam zu Europa eine nicht nur tagespolitische, sondern auch ideengeschichtliche Dimension hat, wurde auch sie auf dieser Tagung diskutiert, und zwar von Mouhanad Khorchide in seinem Vortrag zu „Islam und säkularer Rechtsstaat: ein Plädoyer für ‚islamische Säkularität‘ im modernen Staat“. Einen diese Perspektive ergänzenden Blick auf das Christentum warf Hermann Breulmann: „Verkündigung im säkularen Europa“. Daraufhin rückten der Säkularisierungsbegriff und seine Brauchbarkeit noch einmal ins Zentrum der Tagung, als Horst Dreier „Religiöse Elemente im säkularen Staat“ herausstellte, und Lukas Sosoe die Frage stellte: „Wie brauchbar ist der Begriff der Säkularisierung?“.

Aus philosophischer Perspektive untersuchte Otfried Höffe den Begründungszusammenhang zwischen Religion und Moral, den er unter der Frage diskutierte „Ist Moralbegründung auf Religion angewiesen?“. Auch im Rahmen dieses Symposiums fand wieder ein öffentlicher Abendvortrag statt. Josef Isensee verglich darin „Europäische Modelle von Religiosität und Säkularismus“ mit solchen, die sich in den Vereinigten Staaten von Amerika finden lassen, und diskutierte deren jeweilige Vorzüge und Nachteile.

Der letzte Teil des Symposiums widmete sich dem Themenbereich der Tagung, wie er sich in den Künsten wiederfindet. So sprach Henner von Hesberg über „Die Götter der Antike und ihre Wirkung in Europa“ und Andreas Kablitz referierte zu „Kunstreligion: ein europäisches Phänomen“. In einem abschließenden Vortrag von Joachim Küpper kamen die großen Themen, die im Rahmen dieses Symposiums diskutiert und erörtert wurden, noch einmal zusammen: „Gleichheit, Demokratie und Säkularismus: Überlegungen zu den christlichen Grundlagen der politischen Ordnung des Westens“.

Der Tagungsband Religion im säkularen Europa erscheint als Band vier der Schriftenreihe des Arbeitskreises Europa der Fritz Thyssen Stiftung im Rombach-Verlag (Freiburg i. Br.), voraussichtlich im Winter 2015/16.

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Mit dem Thema Bild und Bildlichkeit beschäftigte sich am 10. und 11. Juni 2015 die jüngste Veranstaltung des Arbeitskreises. Im Amélie Thyssen Auditorium sprach Wolfram Hogrebe zu Beginn unter dem Titel „Der gekreuzigte Logos“ über Michelangelos Kruzifixus für Vittoria Colonna: Die Zeichnung könne eine Selbstzerrissenheit des Göttlichen ausdrücken, welche als Konsequenz eine Reduktion des Menschen auf sich selbst als Subordinationsmodell nach sich ziehe. Diese sei nunmehr ihrerseits in Gefahr, was letztlich den Abschied des Menschen von sich selbst und somit das Ende der eigenen Gattung, wie bereits von Kant geahnt, impliziere. Joachim Paech präsentierte mit „Die Nachtwache analog (Godard) und digital (Greenaway)“ anhand zweier konkreter Beispiele von Werken stilprägender europäischer Regisseure, was die Konzepte von „Bild“ und „Bildlichkeit“ im Übergang zu elektronischen und digitalen „Bildern“ bedeuten könnten. Horst Bredekamps Abendvortrag „Bildwelten aus dem Geist der Negation: die europäische Kunst als schöpferische Paradoxie“ verortete sodann das Proprium der europäischen Bildkultur in der singulären Beschaffenheit und Entwicklungsgeschichte des Christentums, das als einzige der drei monotheistischen Weltreligionen kein Bilderverbot kenne, die negative Konzeption abbildender Darstellung aber nie gänzlich eliminiert habe – was in der europäischen Kunstgeschichte zu einem einzigartige Produktivität generierenden Spannungsfeld geführt habe. Den zweiten Tagungstag eröffnete im Alten Senatssaal der Universität zu Köln Andreas Kablitz’ „Die Bilder der Commedia: Dantes Bildreflektion im Purgatorio“, eine weitere Betrachtung der spezifisch europäischen Ausprägung der Kunst. Diese, so Kablitz, manifestiere sich auf literarischer Ebene in Dantes Repräsentation der Künstler als sich gegenseitig überbietende, mit der Natur selbst rivalisierende superbi sowie der daraus erwachsenden Teilnahme des Schöpfers selbst an diesem Wettstreit. Otfried Höffe unternahm den Versuch, die Frage „Ist das Visuelle für die Philosophie wesentlich?“ aus philosophischer Perspektive auszuleuchten, indem er sich der Visualisierung philosophischer Aussagen durch die Geschichte des Faches hindurch widmete und Überlegungen zur Rolle des Visuellen in der philosophischen Terminologie selbst anstellte. Eine notwendige Ergänzung zu der bis dahin vorrangig westeuropäische Belange in den Vordergrund rückenden Tagung stellte am Nachmittag Chryssoula Ranoutsakis Vortrag „Die Ikone in Byzanz zwischen Bild und Heiligkeit“ dar, der den spezifisch sakralen Wert des byzantinischen Bildverständnisses erläuterte. Zum Abschluss des Tages sprach Robert Felfe über „Albrecht Dürer und die Suche nach Europa“ und lenkte so das Augenmerk auf das Wirken eines die bildliche Darstellungsformen auf dem Kontinent zutiefst prägenden Künstlers der Frühen Neuzeit.

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Der Arbeitskreis Europa kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt auf fünf erfolgreiche, anregende und diskussionsreiche Symposien zurückblicken. Eine weitere Tagung wird sich im November 2015 dem Themenkomplex Naturwissenschaft, Technik und Medizin – drei Exportartikel Europas annehmen. Dabei wird zunächst in historischer und ideengeschichtlicher Hinsicht das Verständnis der Naturwissenschaften in Europa beleuchtet werden, um anschließend Fachvertreter aus Technik und Medizin zu Wort kommen zu lassen, die aus ihrer jeweiligen Perspektive und für ihren Bereich sprechend mögliche Eigenarten Europas herausarbeiten oder aber infrage stellen werden.

Für 2016 sind, dem üblichen Prozedere folgend, abermals zwei Symposien geplant; einmal zum Thema Philosophie in Europa (Mai 2016, Tübingen), und einmal zu Ökonomie und Wirtschaft (November 2016, Köln). Im Februar 2017 steht schließlich eine resümierende Abschlusstagung an. Hier sollen durch die Arbeitskreisleiter ein Fazit gezogen, auf die Arbeit des Arbeitskreises zurückgeblickt sowie, vor diesem Hintergrund, weitere Forschungsfragen benannt werden.

Der Arbeitskreis Europa lädt alle Interessierten dazu ein, seine Arbeit zu verfolgen, sei es durch die Lektüre der Publikationen seiner Schriftenreihe, oder durch die Teilnahme an den weiteren Symposien. Der Arbeitskreis ist im Internet zu finden unter: www.fritz-thyssen-stiftung.de/arbeitskreise/arbeitskreis-europa/.


  1. Jacques Le Goff, Die Geburt Europas im Mittelalter, aus dem Französischen von Grete Osterwald (München: Deutscher Taschenbuch Verlag, 2007), 72. Titel der französischen Originalausgabe: L’Europe est-elle née au Moyen Age? (Paris: Editions du Seuil, 2003).





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