Die Ursünde der Philologie?

Zu M. A. Lenz’ Arbeit Genie und Blut über Rassedenken in der italienischen Philologie

Manfred Hinz

Markus Alexander Lenz, Genie und Blut: Rassedenken in der italienischen Philologie des neunzehnten Jahrhunderts (Paderborn: Fink, 2014), kart., 405 S.

Die vorliegende Doktorarbeit, entstanden im Kontext der Emmy Noether-Nachwuchsgruppe „Philologie und Rassismus im 19. Jahrhundert“ an der Universität Potsdam, führt ein nach Zahl und Umfang nachgerade erschlagend umfangreiches Textcorpus zum Thema der anthropologischen oder ethnischen Übertragungen philologischen Wissens im 19. Jh. in Italien vor1. Sie beschränkt sich dabei vernünftigerweise nicht auf die professionellen Philologen, sondern bezieht auch sprachmorphologische Ausführungen von Historikern (z.B. Cesare Cantù, Cesare Balbo, Giandomenico Romagnosi, Gabriele Rosa u.a.), „polytechnischen“ Gesellschaftsreformern (Carlo Cattaneo) sowie Literaten (Manzoni, Leopardi, Carducci) mit ein. Grundthese, die all dies Material zusammenbringt, ist die historische Annahme, „Rassismus (sei) die Ursünde der Philologie“ (19), der man aber durchaus entgegensteuern könne und die somit nicht alternativlos sei. In der Tat genügt ein Blick in die Schriften des Altphilologen Friedrich Nietzsche, vor allem etwa in Wir Philologen, um zu erkennen, dass die Philologie eher geeignet ist, substanzialistische Voraussetzungen aufzulösen, als sie festzuklopfen.

Seit der Entdeckung des Sanskrit durch William Jones in der Mitte des 18. Jhs., drehten sich die sprachhistorischen und -vergleichenden Debatten des 19. Jhs. im wesentlichen um den Gegensatz zwischen indoeuropäischen und semitischen Sprachen, der durch Friedrich Schlegel, Max Müller, Ernest Renan, Arthur de Gobineau u.a. (in unterschiedlicher Weise) rassenkundlich aufgeladen und fixiert wurde. Die Attraktivität des arisch-semitischen Schemas vor allem nach 1861, als die Nation sich zwar politisch, jedoch nicht linguistisch konstituiert hatte, führt der Autor, wie ich denke, zutreffend darauf zurück, dass dieses Narrativ eine griffige (und ebenso eschatologische) Alternative zur klerikalen Geschichtserzählung bereitstellte (106) und folglich im politischen Kontext des Verhältnisses zwischen italienischer Monarchie und katholischer Kirche interpretiert werden muss. Die vorliegende Arbeit nimmt jedoch darüber hinaus noch Untersuchungen des Japanischen, Chinesischen, Koptischen sowie nordkaukasischer Sprachen u.a. auf, soweit sie von italienischen Philologen der Epoche angestellt wurden, was die Übersichtlichkeit der Argumentation manchmal akut gefährdet. Mit der Vorführung all dieser Texte erobert der Autor zumindest der deutschsprachigen Romanistik echtes Neuland, denn von wenigen Ausnahmen abgesehen (z.B. Ugo A. Canello) sind sie bislang sehr wenig frequentiert worden. Die italienische Forschungslage allerdings sieht ganz anders aus, man denke nur an die Arbeiten von Sebastiano Timpanaro, die in Deutschland auch nicht die Prominenz erlangt haben, die ihnen gebührt hätte.

Die Diagnose des Rassismusgrades und -typus in der italienischen Philologie des 19. Jhs. fällt erfreulich differenziert aus. Zu Beginn des Jahrhunderts hatten die Italiener zunächst als „Pelasger“ (vgl. 71–3), „Atlantiker“ (Vincenzo Cuoco) oder „Ur-Etrusker“ nach ethnischer Autochthonie gesucht, an dessen Ende, 1895, schreibt Giuseppe Sergi ihnen eine afrikanische Herkunft zu und grenzt sie somit von den zentralasiatischen Ariern ab (72–3), die Nord- und Mitteleuropa besiedelt hätten. Echte, „arische“ Rassisten scheinen in dieser Zeitspanne deutlich in der Minderheit. Zu ihnen zählen der Indologe Angelo de Gubernatis, der in seinen Letture sopra la Mitologia Vedica (1874) geradezu BluBo-Töne anschlägt (121), oder der Altphilologe Gaetano Trezza, der 1870 dem „semitischen Prinzip“ und dem Christentum, seinem letzten Ausfluss, gleichzeitig den Untergang prophezeit, was ihm einen Ehrenplatz auf dem Index eintrug, um dann aber flux (1878) wieder in den kirchlichen Schoß zurückzukehren (130–3). Die relative Zunahme des Rassismusquotienten zum Ende des 19. Jhs. hin bringt der Autor mit der Hegemonie des Positivismus in Zusammenhang (261–2, 271). Er folgt damit der These von Georges Canguilhem, der moderne Rassismus sei aus der Übertragung des aufklärerischen Universalismus, dessen methodische Nachfolge der Positivismus angetreten hatte, in normierende Paradigmen hervorgegangen (278, 289).

Giandomenico Romagnosi dagegen hatte sich schon 1825 deutlich gegen jeden substanzialisierenden Rassismus ausgesprochen (180). Der Philologe Bernardino Biondinelli in der Mitte des Jhs. sei zwar, so der Autor, irgendwie ein Rassist gewesen, aber trotzdem für Völkerverständigung (188). Im übrigen war Biondinelli der Auffassung, auch die Azteken seien Arier gewesen (195–6). Der ambitionierteste Versuch einer philologisch (etymologisch) fundierten Rassenlehre waren zweifellos die Monumenti storici rivelati dall’analisi della parola von Paolo Marzolo, angelegt auf 16 Bände, von denen 1847–66 immerhin vier abgeschlossen wurden. An Marzolos Großprojekt kann der Autor die Beobachtung machen, dass der Positivismus zwar biologistische Rasselehren – immer wieder durchschossen von ganz unpositivistischen, nämlich ästhetischen Urteilen (cfr. 284) – zu produzieren imstande ist, dass ihm jedoch von allen philologischen Gegenständen allein die Etymologie methodisch zugänglich ist, die Literatur, Mythologie u. dergl. jedoch verschlossen bleibt, was immer Hippolyte Taine auch sagen mag. Paolo Marzolo gelangt in diesem Bereich zu Abgrenzungsformulierungen, die chronologisch fast schon auf die von Benedetto Croce, freilich von der anderen Seite her, vorausverweisen (cfr. 291 und 296).

Die eigentlichen Helden dieses Buches sind die noch heute prominenten Figuren von Carlo Cattaneo und Graziadio Ascoli, beide gegen Rassentheorien resistent. Der Autor macht bei ihnen geradezu einen „antirassistischen Gegendiskurs aus (363). Cattaneo, von dem selbstverständlich nur die sprachtheoretischen und nicht die „polytechnischen“ Schriften (über Eisenbahnbau u. dergl.) herangezogen werden, stelle „überhaupt die Möglichkeit einer essenziellen Unterscheidung der Spezies Mensch“ infrage (197). Indem Cattaneo die kommunikative Funktion von Sprache in den Vordergrund rückt sowie Sprach- und Kulturentwicklung entkoppelt (207), wird Friedrich Schlegels These der grammatischen Verarmung der indoeuropäischen Sprachen bei ihrer Deszendenz vom Sanskrit schlicht gegenstandslos (241). Zwar ist auch Cattaneo wie viele seiner Zeitgenossen gegen die hegemonialen Ansprüche der Kirche der Meinung, die Kultur der „prisca Italia“ entstamme irgendwie dem zoroastrischen Persien, leitet daraus jedoch keine ethnische Verwandtschaft ab. Gewandert seien nicht so sehr Rassen, als vielmehr Texte und mündliche Überlieferungen, „sebbene, fügt Cattaneo hinzu, „ad ogni generazione l’elemento asiatico e l’europeo vadano sempre più mescendosi“ (210).2 An Cattaneos Historisierung linguistischer wie ethnographischer Daten anschließend, führt Gabriele Rosa 1865 die Geschichte als „synthetisch arbeitende Dachwissenschaft aller anderen Wissenschaften ein“ (251). Cattaneo wie Rosa als gemäßigte, i.e. iberale Theoretiker folgen damit einer historisierenden Grundströmung, die von radikaleren Denkern schon wesentlich früher und mit ungleich größerer Durchschlagskraft formuliert worden war: „Wir kennen nur eine einzige Wissenschaft, die Wissenschaft der Geschichte“, hieß es 1846 lapidar in der Deutschen Ideologie3.

Auch Graziadio Ascoli, der Begründer der italienischen Glottologie, geht ausschließlich von historisch rekonstruierbaren Sprachformen aus, die keiner ästhetisch-ethischen Hierarchie unterworfen werden können und auf keine ethnischen Verwandtschaftsgrade verweisen (cfr. 340). Ascoli geht sogar die indoeuropäische-semitische Oppositionsachse frontal an, wenn er sich an die Rekonstruktion einer arisch-semitischen Ursprache begibt und jedenfalls den morphologischen Gegensatz der beiden Sprachfamilien sehr stark relativiert (351–2). Leider folgt der Autor auch Ascolis Kritik an der „stark ästhetisch normierenden Sprachauffassung Alessandro Manzonis“ (358–9) aus dem Vorwort zum Archivio Glottologico. Manzoni jedoch hatte für das Florentinische als Nationalsprache plädiert, nicht weil es jahrhundertelang die Literatursprache gewesen war, sondern einfach weil die Stadt ungefähr in der Mitte Italiens liege und ihr Dialekt daher relativ einfach über das nationale Territorium ausgedehnt werden könne. Im Gegensatz zur Florentiner Sprachenkommission unter Raffaele Lambruschini hatte Manzoni daher nichts gegen Fremdwörter und Neologismen, sofern sie nur im Florentinischen in Gebrauch waren. Ascolis Kritik richtet sich daher weniger gegen eine „Ästhetisierung“ der Sprache durch Manzoni, als vielmehr gegen den Versuch, überhaupt eine Nationalsprache von oben, durch die Verteilung Florentinischer Volksschullehrerinnen über das Land, zu oktroyieren.

So differenziert sich die vorliegende Arbeit auch mit den rassistischen und antirassistischen Diskursen in der italienischen Philologie auseinandersetzt, so fraglich bleibt es, ob ein so moralisch aufgeladener Begriff wie der des „Rassismus“ überhaupt geeignet ist, die Gedankenwelt solch eminenter Gelehrter zu erschließen. Ist es sinnvoll, bringt es Erkenntnis, Cesare Cantù zu Beginn des 19. Jhs. seinen „Eurozentrismus“ vorzurechnen (86, 88)? Was hätte er denn sonst sein sollen? Derartige Bedenken richten sich zunächst an den Forschungskontext, von dem die vorliegende Arbeit ihre Fragestellung empfangen hat, weniger gegen die Arbeit selbst. Grundlage der Argumentation ist wieder einmal Edward Saids Orientalism (16–7, 44), gegen den lediglich eingewandt wird, dass er die italienische Philologie unbeachtet gelassen habe (369), wie die deutsche im übrigen auch. Hier müsste die Kritik viel systematischer ansetzen. Führt Saids Behauptung, Flaubert, Nerval, Chateaubriand und all die anderen Orientreisenden des 19. Jhs. seien einer „orientalistic bias“ unterlegen und somit (unbewusste, immerhin) Rassisten wirklich zu stichhaltigen Einsichten? Natürlich kapriziert sich Flauberts Reisebericht aus Ägypten auf die skurrilsten Episoden, das gehört einfach zu den Definitionsmerkmalen der Gattung. Er macht sich damit aber nicht über „den Orient“ lustig, sondern stellt klar, dass Ägypten jedenfalls frei war von jener bêtise bourgeoise, die er im zeitgenössischen Europa so sehr verachtete. Noch weniger lässt sich Saids Orientalismus mit dem Kolonialismus in eine plausible Verbindung bringen, denn die palästinensischen Gebiete waren niemals Kolonien (sondern Mandatsgebiete 1920/23–46) und Ägypten war nur sehr kurz britische Kolonie (1882–1922). Als Flaubert und andere den Nahen Osten bereisten, war dieser keineswegs ein „leerer“, staatenloser Raum, offen für koloniale Expansionen, sondern Herrschaftsgebiet einer formidablen Großmacht, des Osmanischen Reichs.

Angesichts des Umstandes, dass Saids Ansatz literaturtheoretisch wie historisch in die Irre führt, hat sich die vorliegende Arbeit ziemlich klug aus der Affäre gezogen. Die gegenüber dem Material etwas schief angesetzte Fragestellung verleiht dem Text aber doch gelegentlich einen gönnerhaften Unterton (cfr. z.B. 336), wenn bedeutende Gelehrte von moralischen Anwürfen des Rassismus freigesprochen werden.4 Bei der Lektüre dieses Buches wird man öfters an den Einwand erinnert, den der Altphilologe Arnaldo Momigliano (Stanford) gegen Hayden White erhoben haben soll, als dieser in seiner Metahistory (1973) das rhetorische „emplotment“ des Orientalisten Ernest Renan „entlarvt“ hatte: „Das mag alles zutreffen, aber Renan konnte mindestens zehn Sprachen mehr als Sie“.


  1. Einen Überblick über das Gesamtprojekt bieten Philipp Krämer, Markus A. Lenz und Markus Messling, Hrsg., Rassedenken in der Sprach- und Textreflexion: kommentierte Grundlagentexte des langen 19. Jahrhunderts (Paderborn: Fink, 2015). Der Sammelband bietet (in Auszügen) einige Grundlagentexte aus allen (west-) europäischen Philologien, in denen die Verbindung zwischen sprachmorphologischen und anthropologischen Überlegungen gezogen, oder aber verweigert wird.

  2. Cattaneos Rezension zu Biondinellis Atlante linguistico d’Europa hat M. A. Lenz für den o.g. Sammelband (Rassedenken in der Sprach- und Textreflexion) übersetzt und ausführlich kritisch kommentiert: Carlo Cattaneo, „Das historische Prinzip der indo-europäischen Sprachen“, 127–50; Markus A. Lenz, „Ethnische und sprachliche Genealogie in Carlo Cattaneos Rezension zu Biondellis ‚Europäischem Sprachatlas‘“, 151–66.

  3. Karl Marx, „Die deutsche Ideologie: Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, B. Bauer und Stirner und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten“ (1845–46), in Karl Marx und Friedrich Engels, Werke (Berlin/DDR: Dietz Verlag, 1969), Bd. 3, 5–530, hier 18.

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