Allgegenwärtig und gehoben: ob unsere Gegenwart das Schöne absorbiert

Hans Ulrich Gumbrecht

Als mir die Ehre – und unvermeidlich auch: die intellektuelle Verantwortung – zukam, im Dezember 2014 am Ende einer Vortragsreihe der Bayerischen Akademie der Schönen Künste über ihr eigenstes Thema, eben „das Schöne“, zu sprechen, hatte ich natürlich von den Thesen und Argumenten der Vorredner gelesen. Dies brachte die Verpflichtung mit sich, für meine eigenen Gedanken den richtigen Ort in einem schon dicht abgesteckten Feld aus Positionen und Reaktionen zu finden. Die meisten Beiträger hatten auf einen je spezifischen Begriff zur Identifizierung des Schönen in unserer Gegenwart gesetzt und so eine Vielfalt von einschlägigen Perspektiven entfaltet, der ich keine weitere Intuition hinzufügen konnte und wollte. Peter von Matt hatte vom „Streben“ des Schönen „nach dem Vollkommenen“ gesprochen, Gottfried Böhm von seiner „Lebendigkeit“, Karl Heinz Bohrer von „Plötzlichkeit und Epiphanie“, Christoph Menke von der „Kraft“ und Martin Seel von der „Solidarität“ des Schönen „mit dem Leiden“. Stattdessen versuchte ich, ausgehend von einigen Bemerkungen über die historische Emergenz der ästhetischen Erfahrung an der Beantwortung von drei in ihrer Ausrichtung auf Gegenwart und Zukunft konvergierenden Fragen zu arbeiten. Zunächst sollte es um die Bedingungen gehen, unter denen sich die Frage nach der Form und den Inhalten des Schönen heute stellt; zweitens um ein Verstehen der spezifischen Schwierigkeiten, welche diese erste Frage mit sich bringt (sie haben vor allem, will ich vorwegnehmen, mit der im Vortragstitel erwähnten „Allgegenwart“ des Schönen zu tun); und drittens um die Gründe für die Intuition, dass trotz dieser Schwierigkeiten der Wunsch und das Bedürfnis nach dem Schönen intensiver scheint als je zuvor.

Die begriffliche Grundlage, von der ich dabei ausgehe, könnte traditioneller und solider nicht sein, aber bedarf vielleicht doch einer kurzen Erinnerung. Ich spreche von „ästhetischer Erfahrung“ und den mit ihr verwandten Phänomenen im Sinn von Kants Analyse des „ästhetischen Urteils“ aus der Kritik der Urteilskraft. Dort setzt das ästhetische Urteil „interesselose“ Reaktionen voraus, und das heißt in der Sprache Kants Reaktionen, die nicht von praktischen Interessen des Alltags vorgegeben oder daran orientiert sind, weshalb sich zwischen dem alltäglichen Handeln und dem Gegenstand des ästhetischen Urteils ein Hiat öffnet, auf den sich die zeitgenössische Rede von der „ästhetischen Autonomie“ bezog. Zugleich kann sich das ästhetische Urteil nach Kant nicht auf stabile quantitative oder qualitative Kriterien verlassen: ein Bild wird nicht deshalb als „schön“ wahrgenommen, weil es besonders groß oder in einem besonderen Farbton gemalt ist. Dennoch „heischt“ das ästhetische Urteil, wie Kant sagt, nach Beistimmung, mit anderen Worten: es ist schwierig, sich vorzustellen oder gar zu akzeptieren, dass andere Menschen dem je eigenen ästhetischen Urteil nicht beistimmen. Auf dieser Grundlage unterscheidet Kant dann zwischen dem Schönen und dem Erhabenen als zwei verschiedenartigen Bezugspunkten der ästhetischen Erfahrung (obwohl alltagssprachlich das Wort „Schönheit“ oft für beide Modalitäten steht). Als „schön“ im spezifischen Sinn beschreibt er den Eindruck einer „Zweckhaftigkeit ohne Zweck“ (und ich glaube, das Schöne ist die in unserer jüngsten Gegenwart dominierende Form der ästhetischen Erfahrung), während als „erhaben“ das Gefühl gelten soll, mit einem Gegenstand der Erfahrung konfrontiert zu sein, der die menschliche Fähigkeit zur Erfassung der Welt überschreitet. Tapetenmuster sind ein Beispiel, auf das sich Kant zur Illustration des Begriffs vom „Schönen“ bezieht, während das Meer den Begriff des „Erhabenen“ veranschaulichen soll.

Meine Diagnose zum Status des Schönen in unserer Gegenwart soll sich in fünf eng aufeinander bezogenen Schritten der Beobachtung und der historischen Genealogie vollziehen. Ich setzte ein mit Thesen zu einer Reihe von offenbar gegenwartsspezifischen Entwicklungen und Erscheinungen, auf die mein Titel Bezug nimmt. Darauf folgen drei Schritte historischer Erklärung: zum Hervortreten der ästhetischen als einer besonderen Form der Erfahrung während des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts im zweiten Teil; zur Emergenz des sogenannten „historischen Weltbilds“ um 1800 als Rahmen der ästhetischen Erfahrung im dritten; und zu den Voraussetzungen für jene paradoxale Situation des gegenwärtigen Schönen im vierten Teil, mit der ästhetische Erfahrung zugleich an ihr Ende gelangt und eine überraschende Fortsetzung findet. Abschließend werde ich versuchen, eben diesen Eindruck zu beschreiben und zu erklären, dass trotz aller Ambivalenz und Spannung in der Gegenwart der Wunsch nach ästhetischer Erfahrung wachsen wird – dann möglicherweise wieder unter einer Dominanz des Erhabenen.

Was vor allem die Situation des Schönen im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert von der Vergangenheit unterscheidet, gehört zu jener Art quantitativer Evidenz, die nicht selten begrifflich unerfasst bleibt. Zum dominanten Standard in der Produktion und im Marketing von Gebrauchsgegenständen ist längst ihre Gestaltung „nach ästhetischen Kriterien“ geworden, wie sie in den zwanziger Jahren, in der Zeit des Bauhaus und des frühen italienischen Designs, noch eine bemerkenswerte Ausnahme war. Man findet heute kaum noch Kleidung, Möbel oder Fahrzeuge, die sich nicht durch eine – oft Käufergruppen-spezifisch ausgelegte – „Schönheit“ zum Kauf empfehlen. Analoges gilt für das Essen, welches weder zu Hause noch im Restaurant als bloße Nahrungsaufnahme erlebt wird, und für dessen ästhetisch ambitionierteste Ebene, die Ebene der „Michelin-Sterne“, man im amerikanischen Englisch die Bezeichnung artsy food gebraucht. Eben im Rahmen dieser Tendenz hat sich auch der Zuschauersport mit seiner Faszination für Körperbewegungen weltweit zu einer bis vor wenigen Jahrzehnten nicht zu ahnenden Popularität entwickelt. Diese tatsächlich allgegenwärtige Durchdringung von Alltagsverhalten mit ästhetischen Effekten gehört grundsätzlich zur Dimension des Schönen, weil seine Artikulationen in Zusammenhänge der Zweckhaftigkeit eingespannt sind, die sie stets überschießen.

Zugleich leben wir in einer Kultur gehobener beruflicher Reflexion über die traditionellen Anlässe und Gegenstände ästhetischer Erfahrung. Dies ist der Grund, warum das Verb „kuratieren“ jüngst eine so singuläre Karriere durchlaufen hat. Gebildete Besucher von Austellungen und Museen bestätigen sich wechselseitig ihren Elite-Anspruch, indem sie ausführlicher über die Anordnung und Kommentierung von Kunstwerken diskutieren als über die Kunstwerke selbst. Entsprechendes gilt für je spezifische Interpretationen von klassischen Stücken der Musik und für das sogenannte „Regietheater“, welches sich kaum mehr auf die dramatischen Produktionen seiner eigenen Zeit verlässt, sondern – statistisch belegbar – vor allem auf immer neue, an der jeweiligen Gegenwart ausgerichtene Inszenierungen eines überkommenden Repertoires konzentriert ist. In den größten Opernhäusern ist diese Tendenz zur Dominanz eines Kanons aus der Zeit zwischen 1750 und 1930 geworden, dessen erstaunliche Beliebtheit dann gelegentliche Produktionen aus der laufenden Gegenwart an seiner Peripherie befördert.

Damit konvergiert die kaum je explizit gemachte (und gegebenenfalls durch skeptische Einwürfe auf Distanz gehaltene) Gewissheit, dass wir im vergangenen halben Jahrhundert immer weniger mit Künstlern und Autoren der höchsten Kategorie zusammengelebt haben. Der letzte Autor, dessen weltweites Prestige bei gebildeten Lesern und professionellen Kritikern mit dem von James Joyce, Marcel Proust oder Robert Musil vergleichbar war, ohne sie je zu erreichen, der Kolumbianer Gabriel García Márquez, ist 2014 gestorben, elf Jahre nach Roberto Bolaño aus Chile, dessen früher Tod Erwartungen einer ähnlichen Kanonisierung zum Stillstand gebracht hatte. Gerhard Richter, der „jüngste“ heute weltweit bekannte und als bedingungslos bedeutend angesehene bildende Künstler wurde 1932 geboren, und Cy Twombly ist 2011 gestorben. Und ohne hinreichende Kompetenz vermute ich, dass der Rückgang außergewöhnlicher Talente in der Gegenwart in der Neuen (klassischen) Musik wohl noch drastischer sein muss. Das angesichts all dieser in sich elementaren Fakten ohnehin wenig überzeugende Gegenargument, dass die potentiell großen Künstler der nächsten Generationen noch nicht genug Zeit hatten, um auf der Weltbühne erfolgreich zu werden, verliert an Überzeugungskraft angesichts der Selbst-Beobachtung, wie deutlich mehr wir als das sprichwörtlich „gebildete Publikum“ mittlerweile – ebenso wie die Feuilletons der anspruchsvollen Zeitungen – beeindruckt sind von Neu-Ausgaben, Neu-Übersetzung und „Wiedergeburten“ großer Autoren und Texte aus der Vergangenheit als von der Literatur – und von der künstlerischen Produktion – unserer unmittelbaren Gegenwart. Manchmal kann man sich kaum des eigenartigen Eindrucks erwehren, dass eine Mehrheit von Lesern und Betrachtern davon träumt, zu Literatur- und Kunstwissenschaftlern zu werden.

Dies bringt uns auf den langen Weg der geschichtlichen Erklärung einer intern gegenläufig erscheinenden Situation, in der sich die wachsende Omnipräsenz und die wachsende Professionalisierung der ästhetischen Erfahrung begegnen. Sie soll einsetzen mit der allzu selten gemachten Bemerkung, dass sich der Begriff der „ästhetischen Erfahrung“ und mithin ein Bewusstsein von ihrer Besonderheit nicht vor der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts durchgesetzt hatten, nicht vor der Zeit von Baumgarten, Kant, Schiller und Hegel, deren Reflexionen dann in der Epoche der Romantik zum europäischen Gemeingut wurden. In den Kulturen der griechisch-römischen Antike und des Mittelalters hingegen können wir nur Teil-Aspekte unseres Verständnisses des Ästhetischen entdecken, die unser retrospektiver Blick – wie die genannten Klassiker der philosophischen Ästhetik – allzu selbstverständlich in unsere eigenen Formen der Erfahrung und des Verständnisses überführt. Wir fassen Begriffe wie die poiesis des Aristoteles und das „Erhabene“ des Longinus, wie otium und delectatio, als Spuren einer Früh-Geschichte der ästhetischen Erfahrung auf und laufen so Gefahr, die beginnende Neuzeit, vor allem das siebzehnte Jahrhundert, als Zäsur zwischen ihrer Vor-Geschichte und ihrer eigentlichen Geschichte zu übersehen. In dieser Hinsicht könnte es sich als entscheidend erweisen, nach Anzeichen für ein beginnendes Bewusstsein von jener Exzentrik (und zuweilen auch Ekstase) Ausschau zu halten, welche Literatur, bildende Kunst und Musik erst vom Alltagserleben absetzte – denn möglicherweise wurden erst durch den Brennpunkt einer solchen Exzentrik vorher zentrifugale Elemente zur ästhetischen Erfahrung in unserem Sinn gebündelt.

Diese insgesamt kurzfristige Entwicklung wurde, meine ich, ausgelöst von der entscheidenden Innovation für die Entstehung der Neuzeit, nämlich von einem gegenüber dem Mittelalter grundlegend gewandelten menschlichen Selbstbild. Während sich Menschen im Mittelalter – mit dem Alten Testament übereinstimmend – als Einheit aus Körper (Erde) und Seele (dem göttlichen Atem) verstanden und mithin als Teil von Gottes Schöpfung, wurden sie bald als „Subjekt“ im cartesianischen Sinn koextensiv mit dem Bewusstsein und der Fähigkeit zu denken, was sie erst in eine Position der Exzentrik gegenüber der Welt der Dinge versetzte. Erst seit der Frühen Neuzeit sahen es Menschen als ihre eigenste Aufgabe an, die Welt zu beschreiben, zu deuten und zu erforschen, während es zur mittelalterlichen Existenz als Teil der Schöpfung gehört hatte, sich allein auf die von Gott gewährte Offenbarung zu verlassen.

Wenn wir davon ausgehen können, dass unser Verhältnis zur Welt der Dinge grundsätzlich ein doppeltes ist, nämlich ein Verhältnis der sich vorbewusst und bewusst immer schon vollziehenden Sinnzuschreibung (oder „Interpretation“) und zugleich ein Verhältnis der räumlichen Beziehung zwischen unseren Körpern und den Dingen (ich nenne sie „Präsenz“), so folgte aus der neuzeitlich-„cartesianischen“ Wandlung der menschlichen Selbstreferenz, dass von nun an das zweite, das Präsenz-Verhältnis zur Welt im Alltag eingeklammert war. Erst vor diesem Hintergrund kam jenen Situationen, in denen sich auch das Präsenz-Verhältnis, das sinnliche Verhältnis zur Welt der bewussten Erfahrung auferlegte, ein besonderer Status zu.

Dies genau war der besondere, eben der exzentrische und potentiell ekstatische Status, auf den der beginnende Diskurs von der „ästhetischen Erfahrung“ reagierte (Niklas Luhmann sollte gut drei Jahrhunderte später von der Kunst der Gesellschaft als dem einzigen sozialen System sprechen, in dem Wahrnehmung („Präsenz“) zugleich – wie überall sonst – Voraussetzung und – ausnahmsweise – auch Gegenstand der Kommunikation und der Erfahrung ist). Natürlich schließt der ästhetische Typ der Erfahrung die Dimension der Welt-Interpretation nicht aus, sondern vollzieht sich in einer prinzipiellen Instabilität, in einer Oszillation zwischen Interpretation und Präsenz, welche möglicherweise erklärt, warum Kant in all seinen Beschreibungen des ästhetischen Urteils so sehr darauf bestand, dass es um ein Urteil ohne stabile Kriterien ging. Vorzugsgegenstände einer in diesem Sinn aufgefassten ästhetischen Erfahrung sind die Musik, weil sie sich der Sinnzuschreibung entzieht, die dennoch nie zum Stillstand kommt; die (vor allem rezitierte) Lyrik, weil ihre Prosodien nicht in ihren Inhalten aufgehen; die Malerei, weil ihre Farben und Formen die Funktion der Welt-Repräsentation überschießen; aber auch das Theater, dessen bis heute als „klassisch“ geltende Zeit für mehrere europäische Literaturen wohl deshalb in das siebzehnte Jahrhundert fällt, weil seine Dramen und seine Praxis erst seit jener Zeit die Präsenzeffekte der Bühne mit den Funktionen moralischer Belehrung zusammenführte.

Die aufgrund der zunehmend institutionalisierten cartesianischen Selbstreferenz seit dem siebzehnten Jahrhundert zum ersten Mal als exzentrisch erfasste und gebündelte ästhetische Erfahrung geriet nun seit dem späten achtzehnten Jahrhundert – das ist die zweite Stufe meiner historischen Erklärung – in ein eng verfugtes Verhältnis zu dem damals entstehenden „historischen Weltbild“, aus der sich einige jener Funktionen entwickelten, die wir bis heute als emblematisch für „Kunst“ und „Literatur“ ansehen, das heißt: als emblematisch für das nun in einem spezifischen Sinn „Schöne“. Ich verstehe das „historische Weltbild“ als eine von vielen „sozialen Konstruktionen von Zeitlichkeit“ (keinesfalls als ihre definitive, mit einem höheren Wahrheitsanspruch ausgestattete Version), verwende für solche Konstruktionen das Prädikat „Chronotop“ (in einem Sinn, der von dem Gebrauch Michail Bachtins, seines Erfinders, abweicht) und gehe davon aus, dass der Ursprung des historischen Weltbilds in einer Habitualisierung der Weltbeobachtung als „Beobachtung zweiter Ordnung“ unter europäischen Intellektuellen (man nannte sie philosophes) seit dem dritten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts lag. Seit der Zeit um 1770 konnten philosophes nicht umhin, sich selbst im Akt der Weltbeoachtung zu beobachten. Daraus erwuchsen zwei – nicht nur kulturgeschichtlich – folgenreiche Konsequenzen. Zur Beobachtung zweiter Ordnung gehört die Entdeckung, dass Erfahrungen als Ergebnis der Weltbeobachtung von ihren jeweiligen Perspektiven abhängen, was angesichts einer potentiellen Unendlichkeit von je individuellen Erfahrungs-Perspektiven zu einer Unendlichkeit von verschiedenen Repräsentationen und eben Erfahrungen zu jedem Gegenstand der Erfahrung führt, das heißt zu einem Polyperspektivismus, zu dem, was Philosophen „Kontingenz“ nennen (und was nicht wenige Zeitgenossen – unter ihnen Heinrich von Kleist – als einen epistemologischen horror vacui erlebten). Die andere Konsequenz, welche auf die Emergenz der Beobachtung zweiter Ordnung zurückging, war – sozusagen „gegen“ die institutionalisierte cartesianische Selbstreferenz – die Wiederentdeckung des Körpers, der Präsenz und der Wahrnehmung als einer Dimension der Weltaneignung, welche sich stets simultan mit der Weltaneignung durch Begriffe, das heißt mit der Erfahrung, vollzog. In welches Verhältnis sollten Erfahrung (Weltaneignung durch Begriffe) und Wahrnehmung (Weltaneignung durch die Sinne) gerückt werden?

Das zweite Problem, das Problem des Verhältnisses von Erfahrung und Wahrnehmung, wurde von den zentralen Institutionen des Wissens im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert weitgehend eingeklammert – was die Exzentrik der in ihrer Struktur ja gerade diesem Problem entsprechenden ästhetischen Erfahrung nur weiter verfestigte. Dagegen lässt sich das erste Problem, das Problem des Perspektivismus und der Kontingenz als entscheidende epistemologische Energie hinter der Entstehung des historischen Weltbilds auffassen. Michel Foucault hat beschrieben, wie es seit der Zeit um 1800 immer gängiger wurde, narrative Antworten auf Fragen der Welt-Beschreibung zu geben, narrative Antworten im Sinn von „Geschichtlichlichkeit“, aber auch im Sinn von „Evolution“. Als adäquate Beschreibung einer Nation galt nun ihre Geschichte, als adäquate Beschreibung einer biologischen Gattung ihre Evolution – und in der Phänomenologie des Geistes identifizierte Hegel den Geist in narrativer Form. Auf dieser Grundlage, auf der Grundlage einer Verschiebung hin zur grundlegend narrativen Form der Welterfassung, bildete sich dann im frühen neunzehnten Jahrhundert das historische Weltbild aus (in dessen differenzierter Beschreibung und Historisierung das Lebenswerk von Reinhart Koselleck konvergierte). Es war ein Weltbild, in dem man glaubte, die Vergangenheit und ihre Erfahrungen beständig hinter sich zu lassen und, zweitens, beständig auf der Schwelle zur Zukunft als einem offenen Horizont von Möglichkeiten zu stehen, der sich von der Gegenart aus prägen ließ. Zwischen dieser Zukunft und jener Vergangenheit schien – drittens – die Gegenwart kontrahiert zu einem (nicht wahrnehmbar kurzen) Moment des bloßen Übergangs, wie es Baudelaire 1858 formulierte. Diese kurze Gegenwart galt – viertens – als jene Zeitstelle, von der aus der Mensch als Subjekt (im cartesianischen Sinn) aus den Möglichkeiten der Zukunft auswählte und mithin handelte. Und schließlich wurde erst im historischen Weltbild Zeit zur Bedingung einer unvermeidlichen („notwendigen“) – schnelleren oder langsameren – Transformation aller Phänomene, einer Transformation, für die im je spezifischen Fall besondere Regelmäßigkeiten („Gesetze“) gelten sollten.

Um 1830 war das historische Weltbild als eine institutionelle Wirklichkeit – mit definitivem Wahrheitsanspruch – etabliert, aus der sich eine Reihe von neuen Bedingungen für ästhetische Erfahrung ergaben. Es bestätigte – und verfestigte – die menschliche Selbstreferenz als „Subjekt“, gegen die als Hintergrund der Sonderstatus der ästhetischen Erfahrung hervorgetreten war. Zweitens entstand erst in diesem Kontext ein Begriff des „Klassischen“ für solche Gegenstände der ästhetischen Erfahrung, welche – trotz der Wirkung der Zeit als Notwendigkeit der Transformation – über Jahrhunderte mit Unmittelbarkeit auf ihre Rezipienten wirkten („mit unmittelbarer Sagkraft“, wie es Hans Georg Gadamer später formulieren sollte). Und schließlich wuchs aufgrund ihrer die historische Zeit transzendierenden Wirkung der ästhetischer Erfahrung – vor allem im Modus des Erhabenen – innerhalb des historischen Weltbilds nicht selten eine Aura des Quasi-Religiösen zu (was vielleicht kein anderen Künstler des neunzehnten Jahrhunderts mit mehr Emphase aufnahm als Richard Wagner in der Konzeption seiner Opern als „Weihespielen“).

Obwohl wir uns bis heute vor allem der Begriffe des historischen Weltbilds bedienen, wenn wir über soziale Konstruktionen von Zeitlichkeit nachdenken, gibt es, meine ich, entscheidende Gründe für die Annahme, dass wir den Alltag unseres einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr unter den Vorzeichen des historischen Weltbilds erleben (und ich beziehe mich auf eine Entwicklung, die möglicherweise in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts eingesetzt hat). Die Zukunft, mit der wir unsere Tage beginnen und enden, ist kein offener Horizont von Möglichkeiten mehr, den wir gestalten können, sondern eine Dimension, aus der unvermeidbare – bestenfalls noch aufschiebbare – Bedrohungen auf uns zuzukommen scheinen: global warming etwa, die demographische Entwicklung der Menschheit oder die Erschöpfung natürlicher Energiequellen. Statt Vergangenheiten hinter sich (und uns) zu lassen, ist unsere neue Gegenwart überschwemmt von Vergangenheiten, die sich (auch aufgrund der elektronischen Technologie) nicht mehr distanzieren oder gar löschen lassen. So ist – drittens – die Gegenwart unseres Alltags zu einer sich immer weiter verbreiternden Gegenwart der Simultanitäten geworden, zu einer Gegenwart, in die angesichts der Pluralität des simultan Gegenwärtigen jener Eindruck von Kontingenz (und Polyperspektivik) zurückgekehrt ist, den die Emergenz des historischen Weltbilds seit dem späten achtzehnten Jahrhunderts absorbiert und neutralisiert hatte. Beinahe alles wirkt möglich in dieser breiten Gegenwart, zwischen den schmalen Peripherien des Unmöglichen und des Notwendigen. Wenn aber die menschliche Selbstreferenz als „Subjekt“ im historischen Weltbild an die „unwahrnehmbar kurze“ Form der Gegenwart gebunden war, dann ist es – viertens – verständlich, warum in unserer anderen, sich verbreiternden Gegenwart, alltäglich und philosophisch, die Suche nach einer neuen Selbstreferenz in Gang gekommen ist, welche den Körper, der Raum und die Präsenz, die Sinnlichkeit und die Wahrnehmung wieder als zentrale Dimensionen unserer Existenz bejaht – und zu finden sucht. Und natürlich wirkt in einer breiten Gegenart der Simultaneitäten und der alternativen Zeit nicht mehr eine unvermeidliche Bedingung von Veränderung.

Allerdings gehört es zur internen Logik des neuen Chronotopen, der keine Vergangenheit hinter sich lassen kann, dass auch der vorausgehende Chronotop (das historische Weltbild) gegenwärtig – und in bestimmten institutionellen Kontexten sogar dominant – bleibt. Niemand wird eine Karriere im akademischen Fach „Geschichte“ machen, der sich nicht auf das historische Weltbild festgelegt hat. Ebenso ist die Rhetorik parlamentarischer Politik für ihre Projektionen und Versprechungen auf die Zukunft als offenen Horizont von Möglichkeiten angewiesen.

Nach den drei Stufen der historischen Erklärung (innerhalb derer wir selbstredend die Vorzeichen des historischen Weltbilds beibehalten haben) kommen wir nun auf unsere einleitenden Beobachtungen zum Status der ästhetischen Erfahrung im frühen einundzwanzigsten Jahrhundert zurück, um zu sehen, welches Erklärungspotential uns ihr geschichtlicher Vorlauf bietet. Vor allem, glaube ich, helfen sie uns verstehen, warum in Folge einer veränderten alltäglichen Selbstreferenz, welche Körper, Raum und Präsenz nun wieder einschließt, die Exzentrik und Ekstatik der ästhetischen Erfahrung (ihre „Autonomie“) weitgehend aufgehoben ist. Wenn es seit dem siebzehnten Jahrhundert die Besonderheit ästhetischer Erfahrung ausmachte, dass sie neben der Interpretation der Welt der Dinge auch ihre Präsenz-Dimension ins Spiel brachte und zwischen diesen beiden Polen oszillierte, dann wird eben diese Oszillation im Alltag der neuen Selbstreferenz zum Normalfall. Dies erklärt die Allgegenwart ästhetischer Erfahrung in der Welt des frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts.

Da des weiteren im Chronotop der breiten Gegenwart Zeit nicht mehr ein notwendiges Agens der Veränderung ist, implodiert auch der den großen Kunstwerken zugeschriebene Status des „Klassischen“ als Ausnahmefall „unmittelbarer Sagkraft“, die sich über die Zeiten erhält. Unter diesen Bedingungen wird alles – oder bleibt nichts mehr – „klassisch“. Plötzlich scheint man eine wahre Unendlichkeit potentieller (vermeintlicher) „Klassiker“ in der Literatur, der Kunst oder der Musik zu entdecken, während der Sonderstatus der wenigen Klassiker aus der Welt des historischen Chronotopen verflacht. Dies mag erklären, warum es seit der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts immer schwieriger – und am Ende unmöglich – wurde, einen „Kanon“ aus wenigen Klassikern und klassischen Werken zu erstellen.

Neben all diesen vom neuen Chronotopen der breiten Gegenart ausgelösten Umschichtungen hat sich aber eben auch der Chronotop des historischen Weltbilds erhalten und ist heute nicht nur zur Dimension der Kunst- und Literaturwissenschaftler geworden, sondern auch zur existentiellen und epistemologischen Prämisse der Kuratoren und Regisseure. In einer ästhetisch blutarmen Gegenwart, deren Blick auf die eigene Identität – und deshalb auch auf ihre Momente der Innovation – unscharf geworden ist, halten Kuratoren und Regisseure die Erinnerung an einen vergangenen Kanon des Klassischen und an die vielleicht ebenso vergangene Ekstatik der ästhetischen Erfahrung hoch. So bewahren sie den hierarchischen Status-Anspruch der hohen „Kunst“ und „Literatur“ und zugleich die saturierte Selbstzufriedenheit eines Publikums, das sie bewundert.

Unter den gleichzeitig existierenden Vorzeichen der breiten Gegenwart allerdings ist diese traditionelle Verschiebung der Exzentrik ästhetischer Erfahrung in gesellschaftliche Hierarchie nicht aufrecht zu halten. Strukturell gesehen lassen die spezifischen Vorzeichen der breiten Gegenwart eine qualitative Unterscheidung zwischen (vermeintlich?) ästhetischer Erfahrung im Alltag, zwischen den beibehaltenen Ritualen ästhetischer Erfahrung aus der Tradition des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts – und zwischen der Erfahrung der Zuschauer bei einer Sportveranstaltung nicht mehr zu. Vielleicht hat ausgerechnet die „Ästhetik“ des Sports in der Form des Stadions noch am ehesten Spuren von der Exzentrik und Autonomie klassischer ästhetischer Erfahrung bewahrt. Der Verweis auf den Sport als Gegenstand ästhetischer Erfahrung hat freilich längst die Schärfe einer Provokation verloren – nicht allein weil sich Provokationen im wiederholten Gebrauch abnutzen, sondern weil mit der breiten Gegenwart die Stadionerfahrung zu einem von unendlich vielen Normalfällen in der Durchdringung des Alltags von „ästhetischer Erfahrung“ nivelliert worden ist. Bei aller (individuellen) Begeisterung habe ich mich keinesfalls primär oder gar ausschließlich auf den Sport bezogen, als ich einleitend die These formulierte, dass die Sehnsucht nach ästhetischer Erfahrung – oder genauer: nach einem strukturellen Äquivalent ästhetischer Erfahrung – heute möglicherweise intensiver ist als je zuvor.

Vielmehr bezieht sich meine (vorerst) abschließende These auf Phänomene außerhalb des Spät-Horizonts in der Tradition ästhetischer Erfahrung, wie sie sich seit dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert ausgebildet hatte – und wir müssen deshalb bei einem anderen Punkt der Gegenwart einsetzen. Dieser Bezugspunkt ist das Erleben der Welt der Dinge als ein Feld der Kontingenz im Zentrum des Chronotops der breiten Gegenwart, als ein Feld prinzipiell unendlicher Sinnzuschreibungsmöglichkeiten, das umgeben ist von schmalen Margen des Notwendigen und des Unmöglichen. Als Kontingenz begegnet uns die Welt vor allem in den Situationen elektronischer Kommunikation, welche mittlerweile in den meisten Berufen den Hauptteil der Arbeitszeit ausfüllen – und von denen das Präsenz- und Körper-Potential der neuen menschlichen Selbstreferenz kaum abgerufen wird.

Ich vermute, dass sich derzeit ein Prozess der Umwandlung dieses Felds der Kontingenz in ein Universum der Kontingenz vollzieht. Was bis vor Kurzem als „notwendig“ oder als „schicksalhaft“ galt, scheint zum „bloß Möglichen“ herabgestuft (oder erhoben) – etwa das Geschlecht, in das man geboren ist, weil transsexuelle Chirurgie seine Variation zumindest denkbar macht. Zugleich wird auch immer mehr bisher „Unmögliches“ zum Möglichen – etwa der Traum (oder der Albtraum) von menschlicher Unsterblichkeit, den zu träumen eine wachsende Zahl von Forschern und Denkern aus der Medizin uns motiviert. Gewiss kann man diese Umwandlung des verbleibenden Notwendigen und des verbleibenden Unmöglichen in ein Universum des Möglichen (und also der Kontingenz) als beträchtlichen Freiheitsgewinn feiern – doch die vorherrschende Reaktion unserer Gegenwart ist das Leiden am Universum der Kontingenz als einer herausfordernden Überlast von Wahl- und Urteilssituationen.

Hier liegt wohl der Grund für das sich beschleunigende Anwachsen von Depression und Burn-out-Syndrom zu Volkskrankheiten in einer Gegenwart, welche die durchschnittlichen Anforderungen der obligatorischen Arbeitszeit deutlich reduziert hat. Zur Depression und zum Burn-Out-Syndrom gehört eine Sehnsucht nach Verbindlichkeit jenseits des alltäglich universal gewordenen Möglichen, die Sehnsucht nach einem unvermeidlichen Ereignis, nach einem Ereignis, an dem man sich – sozusagen – festhalten kann. Mit dieser Sehnsucht hat das Erhabene als Modalität der ästhetischen Erfahrung in einer Umwelt des allgegegenwärtigen Schönen überlebt – weil die Sehnsucht nach Verbindlichkeit durchdrungen ist von einer Sehnsucht nach Substanz und Präsenz innerhalb der elektronischen Kommunikation als Fusion von Bewusstsein und Software

Doch wie wäre diese Sehnsucht zu erfüllen? Ich spüre sie in gewissen Untertönen aus den politischen und kulturkritischen Diskursen der ökologischen Bewegung. Die Vorstellung von einer Zerstörung unseres Planeten, welche ausgelöst durch Jahrhunderte menschlichen Fehlverhaltens am Ende in eine irreversible Entwicklung hin zur unüberbietbaren Katastrophe umschlägt (und doch kosmologisch gesehen nicht einmal eine Episode ist), folgt zwar auf ihrer „Handlungs“-Ebene einer Logik der göttlichen Bestrafung – aber ist zugleich von erhabener Stimmung im Stil einer Götterdämmerung begleitet. Weniger dramatische Annäherungen an die Erfüllung derselben Sehnsucht liegen in der sich verstärkenden Tendenz, Individualität als Maximal-Version des Subjekt-Status aufzugeben, indem man mit seinem Körper Teil eines kollektiven Körpers zu werden versucht, wie er bei Papstmessen im Freien und bei eigenartig ziellosen „politischen“ Demonstrationen der jüngsten Vergangenheit, bei Rock-Konzerten, im Stadion oder auch beim public viewing entstehen kann – und entsteht. Hinzu kommt die Möglichkeit, eine Rückkehr (oder einen Sprung nach vorne) hin zu jener Sphäre einer elementaren „Selbstentbergung“ der Dinge zu versuchen, welche Heidegger in seinem Aufsatz vom „Ursprung des Kunstwerks“ anhand eines „griechischen Tempels“ beschrieb, in dessen Gegenwart sich die Erde „als Erde“, das Meer „als Meer“ und der Himmel „als Himmel“ zeigen sollen, epiphanisch, definitiv und tröstlich vielleicht.

Vielleicht ist diese Sehnsucht und dieses ebenso vage wie intensive Warten auf ein Ereignis oder einen Moment der Verbindlichkeit im Status des Erhabenen nichts als ein Warten auf Godot, in dem wir für uns selbst den Part der vier Protagonisten in ihrer ganzen tragischen Banalität spielen. Dem habe ich vorerst nichts wirklich Tröstliches – oder gar Erbauliches – hinzuzufügen.





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