Philologie im Horizont der Geschichtlichkeit von Sprache und Text

Zum Tagungsband von Wulf Oesterreicher und Maria Selig

Olaf Müller

Wulf Oesterreicher und Maria Selig, Hrsg., Geschichtlichkeit von Sprache und Text: Philologien – Disziplingenese – Wissenschaftshistoriographie (Paderborn: Wilhelm Fink, 2014), 332 S.

Aus einer Tagung, die im Jahr 2009 im Kloster Seeon am Chiemsee stattfand, sind die vierzehn Beiträge hervorgegangen, die der im Sommer 2014 erschienene Band über Geschichtlichkeit von Sprache und Text vereint. Elf deutschsprachige und jeweils ein französischer, spanischer und italienischer Essay widmen sich aus verschiedenen disziplinären Perspektiven einer Fülle von Themen, die die Herausgeber in drei Themenfelder gliedern.

Der Vorgeschichte der Geisteswissenschaften gelten Beiträge zum Geschichtsdenken bei Giambattista Vico (Jürgen Trabant), zu Leibniz als Sprachhistoriker und -theoretiker (Stefano Gensini), zu Lessing als Philologe (Jörg Schönert) und, wenn man die Arbeiten von Paulin Paris noch einer vorwissenschaftlichen Phase zurechnen will, zum Ausdifferenzierungsprozess der französischen (mediävistischen) Literaturwissenschaft, der sich in den Arbeiten von Paulin Paris und seinem Sohn Gaston nachverfolgen lässt (Ursula Bähler).

Die Entwicklung der universitären Beschäftigung mit Literatur in Frankreich, wie sie Vater und Sohn Paris repräsentieren, berührt auch das zweite Themenfeld, nämlich die Institutionalisierungsprozesse in den Geisteswissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert, denen des Weiteren die Beiträge zur historischen Wende in den Rechtswissenschaften (Dieter Simon), zur Etablierung der orientalischen Philologie an den deutschen Universitäten (Sabine Mangold), zur Fachgeschichte der Romanischen Philologie zwischen 1820 und 1890 (Alexander M. Kalkhoff und Johanna Wolf), zum Konzept der Historizität von Sprache und Text bei Menéndez Pidal (José Jesús de Bustos Tovar und Julio Arenas Olleta) und zu den fachwissenschaftlichen Zäsuren in der deutschen Germanistik der 1920 und 1960er Jahre (Wilhelm Voßkamp) gelten.

Das dritte Themenfeld vereint Beiträge, die sich mit den Perspektiven beschäftigen, die sich für die heutigen Sprach- und Textwissenschaften aus der Reflexion ihrer Geschichte ergeben. Für diese, wie auch für die meisten anderen Essays, die der Band versammelt, gilt dabei als übergreifende Fragestellung das von Wulf Oesterreicher beschriebene Problem der „invertierten Teleologie“ in vielen fachgeschichtlichen Arbeiten. Damit ist die Neigung gemeint, alternative Entwicklungsmöglichkeiten, die in bestimmten historischen Situationen bestanden hätten, als irrelevant zu betrachten und nur die Vorgeschichte dessen zu rekonstruieren, was sich schließlich historisch durchgesetzt hat. In seinem Aufsatz „Über die Geschichtlichkeit der Sprache“ hat Oesterreicher das 2005 folgendermaßen formuliert: „Wenn man das Neue […] mit dem sich durchsetzenden ‚Wandel‘ identifiziert, werden die historischen Situationen inhärenten konkreten Möglichkeiten, die in […] konkurrierenden Innovationsgestalten liegen, verkannt“. In diesem Sinn untersucht Markus Messling Foucaults Äußerungen zur Genealogie des Rassismus und Saids Darstellung des orientalistischen Diskurses und zeigt, wie bei beiden in einer solchen „invertierten Teleologie“ ein hegemonialer Diskurs als alternativlos rekonstruiert wird, obwohl in der vermeintlichen Konsolidierungsphase dieser Diskurse durchaus andere Stimmen vernehmbar gewesen wären. Besonders Herder und Wilhelm von Humboldt seien in solchen undifferenzierten Lesarten immer wieder zu Vorläufern rassistischer oder orientalistischer Diskurse gemacht worden, da man ihre Positionen aus der ex-post-Perspektive missverstanden habe.

Ähnliche Blicke auf übersehene Alternativen der Disziplinentwicklung gelten Ferdinand de Saussures Semiotik, die François Rastier vor dem Hintergrund von Saussures historischen Textstudien aus dem Nachlass neu liest, sowie Benedetto Croces Verhältnis zur Historiographie (Sarah Dessì Schmid und Jochen Hafner). Jörn Rüsen1 und Wulf Oesterreicher2 entwerfen in den beiden abschließenden Essays geisteswissenschaftliche Forschungsperspektiven, die die spezifischen Stärken historisch informierter Arbeit an Sprache und Text auch in Zukunft fruchtbar machen sollen.

Jürgen Trabant weist in seinem Beitrag zu Giambattista Vico3 darauf hin, dass dieser weniger historisch argumentiere, als Erich Auerbachs einflussreiche Übersetzung der Scienza nuova das nahe lege. Vico sei gerade nicht der Begründer eines modernen Geschichtsdenkens im Sinne des Historismus, denn sein Dreischritt aller menschlichen Entwicklung von der göttlichen über die heroische zur menschlichen Zeit gelte prinzipiell und überall: „Die Vicosche Geschichte vernachlässigt […] gerade jenes Besondere, Partikulare, Individuelle, das für die moderne Geschichtlichkeit so essentiell ist“ (41). Genau diese Universalität sei aber die andere Voraussetzung für die Möglichkeit von Wissenschaft bei Vico: scientia debet esse de universaibus et aeternis, d.h. dass die „Wissenschaft vom mondo civile […] gerade keine Geschichte im modernen Sinn [ist], sondern Wissenschaft, das heißt Aufsuchung universeller und ewiger Gesetze des Politischen und des mit diesem verknüpften Sprachlich-Semiotischen: Sie ist allgemeine Wissenschaft der Gesellschaft und allgemeine Sprach- oder Zeichenwissenschaft“ (42).

Stefano Gensini untersucht Leibnizens Beitrag zur Wissenschaft der natürlichen Sprachen, der besonders in der Entdeckung der radikalen Geschichtlichkeit der Sprachen innerhalb der europäischen Kulturen liege. Bemerkenswert seien auch seine Leistungen für die Entwicklung einer universell gültigen, phonetischen Schreibweise, die erst Ende des 19. Jahrhunderts durch die International Phonetic Association umgesetzt wurde.

Markus Messling4 zeigt die verzerrenden Effekte einer ex-post-Perspektive am Beispiel von Foucaults Deutung von Humboldts energeia-Begriff. In seiner Rekonstruktion der Genealogie des Rassismus versteht Foucault aus dem homogenisierenden Zwang seines Systems heraus den Begriff falsch und verkehrt ihn geradezu in das Gegenteil dessen, was er bei Humboldt bedeutet – nämlich u.a. ein kritisches Potential gegenüber anti-universalistischen und tendenziell rassistischen Positionen in der Sprachenfrage, wie sie Friedrich Schlegel im Blick auf die nicht-indoeuropäische Welt vertrat. Für ein rassisches Verständnis von Sprache, wie es bei den historisch-vergleichenden Sprachwissenschaftlern angelegt gewesen sei und wie es dann Gobineau tatsächlich formuliert habe, sei Humboldts Sprachdenken vollkommen unanfällig gewesen. Ähnliches gelte für Edward Said, der sich zwar auf Foucault und Gramsci berufe, letztlich aber nur dem homogenisierenden, machtpessimistischen Ansatz Foucaults folge und Gramscis Sensibilität für die „Inkonsistenz des Materials sowie alternative Muster und Praktiken des Denkens“ außer Acht lasse (76). Messling macht dagegen Positionen stark, die sich bereits im Austausch Wilhelm von Humboldts mit dem Asienwissenschaftler Eugène Jacques finden, und die Kurt Mueller-Vollmer als „Linguistik der Befreiung“ bezeichnet hat (77). Ähnliche Ansätze zur Kritik eurozentrischen Denkens in der Hochzeit dessen, was Said nahezu ausnahmslos als den europäischen Orientalismus identifiziert, fänden sich u.a. bei Jean-Pierre Abel-Rémusat in seinem „Discours sur le génie et les mœurs des peuples orientaux“ (1843). Es müsse der Geschichte der Philologien deshalb darum gehen, gegen die ausschließliche Sicht auf hegemoniale Diskurse abweichende, individuelle Sprechereignisse und damit die historischen Alternativen, die bestanden haben, zur Sprache zu bringen.

Jörg Schönert5 untersucht Lessings philologische Tätigkeit aus seiner Zeit als Wolfenbütteler Bibliothekar, insbesondere in der von Lessing dort herausgegebenen Reihe Zur Geschichte und Literatur. Am Beispiel von Lessings Arbeiten lasse sich für die Zeit von 1750 bis 1820 „die Emergenz der Neuphilologien aus der Editorik der Klassischen Philologie im Zusammenhang mit der Verwaltung eines riesigen Wissensfundus […] studieren“ (86), obwohl Lessing selbst abwertend von diesen Arbeiten als „Moosen und Schwämmen“ sprach, die den eigentlichen Stamm seiner Produktivität parasitär gefährdeten. Lessings editorische und philologische Praxis lasse sich als Vorwegnahme von Interessen und Strategien deuten, die von der Universalgelehrsamkeit bereits in Richtung auf den Historismus und die Fragestellungen der sich um 1800 entwickelnden Neuphilologien verweisen (88). Als eine Art Gegenprogramm zu Bodmers und Breitingers mediävistischen Arbeiten, die auf eine Wiederbelebung der Minnesängerzeit zielten, habe Lessing, der selbst Editionen von Hugos von Trimberg Renner und von Ulrichs von dem Türlin Willehalm geplant hatte, die Barockliteratur, besonders die schlesische Barockliteratur (Logau, Scultetus, vor allem dessen „Österliche Triumphposaune“) stark zu machen versucht. Außerdem habe er Bodmer und Breitinger auf deren eigenem Spezialgebiet Nachlässigkeiten nachgewiesen, indem er 1773 in einem Artikel in Zur Geschichte und Literatur zeigte, dass die 1757 von Bodmer und Breitinger aus Handschriften veröffentlichten Fabeln aus den Zeiten der Minnesänger bereits 1461 in Buchform erschienen waren, die beiden Schweizer also ihre philologischen Hausaufgaben vor der Publikation nicht richtig gemacht hätten.

Dieter Simon6 zeichnet die Disziplingenese der modernen Rechtsgeschichte nach. Erst die Einsicht in die Geschichtlichkeit von Rechtstexten ermögliche den Beginn der rechtshistorischen Forschung im modernen Sinn. Gleichzeitig habe diese Wende auch das Ende des römischen Rechts als eines unmittelbar anwendbaren Rechts eingeleitet: Nur als geschichtslose Texte konnten die römischen Rechtstexte immer wieder auf verschiedene Gegenwarten angewandt werden, oder, wie Simon formuliert, der „Schritt von der historischen Rechtsschule zur akademischen Rechtsgeschichte“ bedeutete für die Rechtshistoriker des römischen Rechts gleichzeitig den „Schritt aus der praktischen Jurisprudenz in die juristische Nutzlosigkeit“ (111).

Sabine Mangolds Beitrag zur orientalischen Philologie7 unterstreicht zunächst, dass der Kanon der Sprachen und Kulturen, die unter dem Obertitel „Orientalistik“ (oder morgenländische Studien etc.) behandelt wurden, noch bis weit ins 19. Jahrhundert erheblich variierte und lange auch noch Sanskrit und die indogermanischen Sprachen umfasste, die dann aber an eigene Lehrstühle ausgelagert wurden. Die Geburt der orientalischen Studien an deutschen Universitäten habe sich ab dem 16. Jahrhundert aus der Erkenntnis der Geschichtlichkeit des biblischen Texts ergeben, dessen Voraussetzungen es nun auch außerhalb der lateinischen und griechischen Überlieferung zu studieren galt, was Kenntnisse des Hebräischen, Aramäischen, Syrisch-Chaldäischen und Arabischen erforderlich machte. Die Dozenten des Fachs befanden sich daher oft in einer Zwischenstellung zwischen der philosophischen und der theologischen Fakultät. Für eine nicht-theologische Begründung des Studiums der orientalischen Sprachen und insbesondere des Arabischen konnten sich die deutschen Orientalisten um 1800 dann auf die Arbeiten von Sylvestre de Sacy berufen, der sich in Paris an der École spéciale des langues orientales vivantes auf das Studium des Arabischen als einzelner Sprache und vor allem auch als Dichtungssprache konzentrierte, die er, ähnlich wie Herder, auch als Ausdruck des „Volksgeistes“ verstand. Da Sacy dabei noch eher unhistorisch verfahren ist und Gefahr lief, essentialistisch das arabische Wesen bestimmen zu wollen, hat Edward Said ihn als einen der Begründer des modernen europäischen Orientalismus ausgemacht. Die Historisierung aber, die dann auch in der Orientalistik im Lauf des 19. Jahrhunderts zum wissenschaftlichen Ideal wurde, hatte sich in der Regel noch der teleologischen Konstruktion unterzuordnen, dass auch die historisch gesehene orientalische Kultur der europäischen Gegenwartskultur unterlegen und nur eine Vorstufe dazu war, die sich ab einem gewissen Punkt nicht weiterentwickelt habe.

Die Fachgeschichte der Romanischen Philologie im 19. Jahrhundert entwickeln Alexander M. Kalkhoff und Johanna Wolf8 aus einer systemtheoretischen Perspektive. Das Problem der „invertierten Teleologie“ sprechen sie unter Rückbezug auf Kosellecks Unterscheidun g zwischen Strukturen, die man erzählen und Ereignissen, die man beschreiben müsse, an. Die Aufgabe des Erzählers der romanistischen Fachgeschichte sei es unter dieser Prämisse, aus der Kette der Ereignisse, die sich aus den Quellen extrapolieren lassen, eine Beschreibung der Strukturen abzuleiten, die die Möglichkeit der Ereignisse darstellbar macht und gleichzeitig den Blick auf die Offenheit des Entscheidungsraumes in der ex-ante-Perspektivierung lenkt.

Der Begriff Philologie taucht in der fachgeschichtlichen Erzählung mit drei verschiedenen Bedeutungen auf, als Methode, als Wissensform und als Fach, Letzteres allerdings erst ab dem 19. Jahrhundert. Den Unterschied zwischen der ex-ante und der ex-post-Perspektive verdeutlichen sie am Beispiel von Friedrich Diez, der zur Zeit des Erscheinens seiner Grammatik, die ex-post zum Gründungsdokument der wissenschaftlichen Romanistik erhoben worden ist, noch keineswegs die romanische Philologie als eine reine Sprachwissenschaft verstanden habe. Vielmehr habe auch Diez anfangs noch ein gewissermaßen kulturwissenschaftliches Interesse an der Textwelt gehabt und Philologie als eine „partizipative Verstehenswissenschaft“ im Sinne Humboldts und des Neuhumanismus aufgefasst. Im Anschluss an seine Grammatik habe sich das Fach dann aber in die positivistische Richtung entwickelt, die damals für Modernität und Wissenschaftlichkeit gestanden habe. Mit Gustav Gröbers Grundriss sei dann Ende des 19. Jahrhunderts eine „Schließung des Handlungsraumes“ zur Stabilisierung eines geschlossenen wissenschaftlichen Systems und zur ökonomischen Absicherung erfolgt. Durch die Institutionalisierung werden die Möglichkeiten des Fachs, die diskursiv ab den 1820er Jahren noch vorhanden waren (so z. B. die „partizipative Verstehenswissenschaft“ oder auch ethisch-pädagogische Fragen) nicht völlig abgeschnitten, aber auf exotische Positionen verdrängt, für die dann in Zeiten der dominanten positivistischen Textphilologie noch Forscherfiguren wie Hugo Schuchardt oder Karl Vossler stehen.

Am Beispiel der wissenschaftlichen Viten von Paulin Paris und seinem Sohn Gaston zeichnet Ursula Bähler die Entwicklung der „romanischen Philologie“ in Frankreich im 19. Jahrhundert9 nach, auch wenn dieser Titel als Lehrstuhlbezeichnung in Frankreich nicht existiert. In den seltenen Fällen, in denen „philologie romane“ als Zusatz zur Lehrstuhlbeschreibung auftaucht, ist damit mittelalterliche Textphilologie gemeint. Die Tätigkeitsgebiete, die an den französischen Lehrstühlen bedient werden, decken sich aber im Laufe des 19. Jahrhunderts weitgehend mit denen, die in Deutschland unter dem Oberbegriff „romanische Philologie“ zusammengefasst werden. Die Disziplingeschichte der romanischen Philologie in Frankeich lasse sich für das 19. Jahrhundert, wie Bähler anschaulich macht, als Geschichte der bewussten Distanzierung Gastons von seinem Vater Paulin erzählen. Gaston Paris, den sein Vater zum Erlernen der für geisteswissenschaftliche Arbeit mittlerweile unumgänglichen Sprache nach Deutschland geschickt hatte, studierte in Bonn bei Friedrich Diez (was, wie Bähler nahelegt, eher kurzfristig entschieden wurde und keinem speziellen mediävistischen Lehrplan des Vaters für den Sohn geschuldet war) und dann in Göttingen Klassische Philologie und deutsche Literatur. Nach der militärischen Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg formulierte er sehr deutlich, dass die Nationalphilologie in Deutschland und auch die romanische Philologie schon vor dem Krieg eine antifranzösische Stoßrichtung gehabt hätten. Das Verhältnis zu Diez, dessen Grammatik Gaston übersetzt, während Paulin sie vermutlich nie wirklich gelesen habe, werde, wie überhaupt das Verhältnis zur historisch-komparativen Methode, auch in Frankreich im Lauf des 19. Jahrhunderts zum disziplinären Ausschlusskriterium. Wer diese Methode nicht beherrsche, könne auch kein akzeptierter Wissenschaftler sein. Man könne angesichts des naturwissenschaftlichen Anspruchs der Sprachforschung, der sich daraus entwickelt, sogar mit Thomas S. Kuhn von einem neuen Paradigma sprechen, auch wenn Gaston Paris gleichzeitig ganz unwissenschaftlich in den mittelalterlichen Texten so etwas wie den Ausdruck eines Nationalgefühls suche, ein „sentiment commun, […] cet amour dans lequel tous les citoyens d’une nation fraternisent“: „La littérature est l’expression de la vie nationale“. Das halte ihn aber nicht davon ab, seine wissenschaftlichen Wahrheitsansprüche auch in der Dreyfus-Affäre hochzuhalten. Trotz der letztlich nationalistischen Begründung des eigenen philologischen Tuns ist die Arbeit im Detail vor allem der Wahrheit und einer Erkenntnis ohne Rücksicht auf die nationale Herkunft verpflichte. Diese Verpflichtung auf die unvoreingenommene Wahrheitssuche lässt Gaston Paris, wie auch viele andere wichtige Philologen, dann in der Dreyfus-Affäre für eine Revision des Prozesses eintreten, wozu Bähler einen sehr beeindruckenden Brief von Gaston Paris an seinen Freund, den Historiker Albert Sorel, zitiert, in dem Paris Sorels Eintreten für die Sache der Dreyfus-Gegner als Verrat am „esprit scientifique“ bezeichnet.

Die wissenschaftliche Methode, die Gaston Paris in seinem opus magnum Histoire poétique de Charlemagne (zuerst 1865) entwickelt hat, wird in Spanien von Ramón Menéndez Pidal und seinen Schülern, insbesondere Amado Alonso und Rafael Lapesa, rezipiert und weiterentwickelt, wie José Jesús de Bustos Tovar und Julio Arenas Olleta zeigen. Auch in Spanien ist es eine radikale Historisierung der Forschung, die ab dem späten 19. Jahrhundert als Ausweis von Wissenschaftlichkeit gelten kann. Ein institutionelles Symbol dieser Historisierung wurde das Centro de Estudios Históricos, das 1910 unter der Leitung von Menéndez Pidal seine Arbeit aufnahm und 1939 nach dem Sieg der Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg geschlossen wurde. Die Autoren verorten die ideologischen Prämissen der Arbeit von Don Ramón in den Ansichten der Angehörigen der Generation von 98, die den spanischen Sonderweg in Europa zu erklären und Spaniens Anschluss an die Moderne herzustellen versuchen. Pidal bezieht sich für die wissenschaftliche Modernisierung Spaniens, die größtenteils außerhalb der traditionellen Universität erfolgte, auf die deutschen Wissenschaften, wofür er als Student noch von seinem Lehrer Antonio Sánchez Moguel kritisiert wurde. Sánchez Moguel habe ihn einst bei der Lektüre von Diezens Grammatik erwischt und ihn gewarnt, dass ihn das im Kopf ganz wirr zu machen drohe, da die deutschen Werke erst noch der Aufarbeitung durch einen lateinischen Verstand bedürften. Menéndez Pidal habe die historische Linguistik bereits als Dialektologie verstanden und betrieben, was ihn auch davor bewahrt habe, Sprache und Nation in einen besonderen Zusammenhang zu zwingen, wenn er auch noch von einer spirituellen Einheit von einzelnen Sprachgemeinschaften ausgegangen sei. Mehr noch als Menéndez Pidal selbst, waren dann seine Schüler Amado Alonso und Rafael Lapesa von den Ideen der idealistischen Philologie Karl Vosslers beeinflusst. Die Funktion eines längeren Exkurses (198–202) zur Lexikographie des Siglo de Oro am Beispiel des Tesoro de la lengua castellana von Sebastián de Covarrubias hat sich mir bei der Lektüre nicht ganz erschlossen, abschließend weisen die Autoren aber noch auf die Bedeutung der Vorarbeiten von Menéndez Pidal und seinen Schülern für eine Sprachgeschichte hin, die interne und externe historische Faktoren des Sprachwandels berücksichtige.

François Rastier10 betont den diachronen Anteil an Saussures Forschungen, da er sich auch intensiv mit historischen Texten befasst habe und bezeichnet Saussures Semiologie daher vor allem als eine Textsemiotik: Saussures allgemeine Linguistik stütze sich auf das Studium poetischer und mythologischer Texte, insbesondere nachzulesen in dem riesigen Corpus unveröffentlichter Arbeiten zu Anagrammen in der antiken Literatur, in der Sanskritüberlieferung der Veden und im Hildebrandslied. Bislang habe die Forschung diese Textanalysen Saussures aber kaum untersucht (bis zu 90 % von Saussures Werk sind bekanntlich noch nicht ediert), geschweige denn in Beziehung zu seinen linguistischen Forschungen gebracht. Rastier meint aber, dass die linguistischen Arbeiten Saussures ohne diese textanalytischen Untersuchungen nicht richtig verstanden werden können und bezieht diese Einschätzung sogar auf den Cours de linguistique générale, was nicht unwidersprochen geblieben ist.11 Wie Saussures Nachfolger Hjelmslev und Coseriu richtig erkannt und konsequent fortgesetzt hätten, handele es sich bei Saussures Linguistik deshalb im eigentlichen Sinne um eine Textlinguistik. In der mittlerweile edierten Nachlassschrift De l’essence double du langage werde dieser enge Zusammenhang und die Bedeutung von Saussures Textstudien für seine allgemeine Linguistik besonders deutlich.

Über Benedetto Croces historische und geschichtstheoretische Arbeiten, vor allem am Beispiel seiner Schriften über die Geschichte Neapels, informieren Sarah Dessì Schmid und Jochen Hafner.12 Croce nehme sich Vico als Verbündeten in seinem Kampf gegen den Positivismus und beziehe sich für seine Philosophie des absolut historisch gedachten Geistes ansonsten vor allem auf Hegel. Seine zwischen 1902 und 1909 erschienenen Werke Estetica come scienza dell’espressione e linguistica generale (1902), Logica come scienza del concetto puro (1909) und Filosofia della pratica. Economia ed etica (1909) decken unter dieser Prämisse die vier philosophischen Wissenschaften Ästhetik, Logik, Ökonomie und Ethik ab, wobei letztere als praxisbezogene Wissenschaften Croce zufolge nur Pseudobegriffe hervorbringen. Die einzige Realität ist für Croce der Geist, was er als „absoluten Idealismus“ bezeichnet, den er später „absoluten Historismus“ nennt. Dass Croce mit seinen Arbeiten zur Historiographie Teil des geschichtswissenschaftlichen Diskurses in Deutschland war, zeigt der Auftrag von 1909, für den Mohr-Verlag in Tübingen in der Reihe „Grundriss der philosophischen Wissenschaften“ ein Handbuch der Geschichtsphilosophie zu verfassen. Croce machte daraus im Arbeitsprozess allerdings ein Buch Zur Theorie der Geschichte und Historiographie, weil er, wie er dem Verlag schreibt, die Geschichtsphilosophie radikal ablehne. Die Geschichte wird ihm zur zentralen Wissenschaft, und alles wird ihm zu Geschichte, auch seine eigene Biographie, die er in einigen Abschnitten der Storie e leggende napoletane verarbeitet. In den Gründungsstatuten des Istituto italiano per gli studi storici hielt Croce 1946 fest, dass der Bezug auf Sprache, den die universitäre Historikerausbildung seines Erachtens zu sehr in den Vordergrund stelle, auf Kosten einer profunden philosophischen Ausbildung gehe, die für angehende Historikerinnen und Historiker wichtiger sei. Sein Institut sollte diese Ausbildung ergänzen und langfristig zu deren Integration auch in den universitären Betrieb beitragen. Für die italienische Wissenschaftsgeschichte ist am Fall Croce bemerkenswert, dass damit entscheidende Methodenfragen, die zur Innovation des Fachs beigetragen haben, außerhalb der universitären Institutionen im Ein-Mann-Betrieb des Privatgelehrten weiterentwickelt wurden.

Wilhelm Voßkamp stellt in seinem Beitrag13 die Frage nach der Möglichkeit von Paradigmenwechseln im Kuhnschen Sinne in der Literaturwissenschaft. Am Beispiel der deutschen Germanistik der 1920er und 1960er Jahre soll gefragt werden, auf welchen der drei Ebenen Wissen, Institution und Leistung Veränderungen erfolgen müssen, damit man von Neuem in der Wissenschaft sprechen kann. Voßkamp nimmt an, dass auf mindestens zweien dieser Ebenen Veränderungen eintreten müssen, damit man von Diskontinuität und der Möglichkeit des Neuen sprechen könne. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien es vor allem lebensphilosophisch und transzendentalphilosophisch inspirierte Ansätze gewesen, die als Neuerungsverheißungen den veralteten Positivismus des 19. Jahrhunderts ablösen sollten. Nach dem Ersten Weltkrieg lässt sich dann institutionell in wichtigen Neuberufungen, u.a. aus dem George-Kreis, und mit der Gründung der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte (1923) eine Distanzierung von der philologischen Tradition beobachten, die diesen Neuerungsverheißungen Rechnung zu tragen scheint. Außerdem werde als Leistungsanspruch an das Fach nun stärker eine nationale Bildung gefordert. Insgesamt seien die 1920er Jahre mit ihrer Wende zur Geistesgeschichte und dem stärkeren Auftrag, nationale Bildung zu erteilen, daher als Paradigmenwechsel zu verstehen, der alle drei Ebenen, also Wissen, Institution und Leistung, berühre. Die Nazizeit habe dem gegenüber keinen entscheidenden Einschnitt bedeutet. Abgesehen davon, dass zu den möglichen außerphilologischen Bezugsgrößen nun auch noch Rassismus und Antisemitismus kommen, ändere sich prinzipiell an der Arbeitsweise der Germanistik wenig. Der nächste grundlegende Einschnitt erfolge erst in den 1960er Jahren mit einer Rhetorik der Krise einer als „bürgerlich“, „deutsch“ und antidemokratisch kritisierten Germanistik, der eine gesellschaftlich engagierte Wissenschaft entgegengesetzt wird, die sich für ihre Methoden an den Kommunikations- und Sozialwissenschaften sowie am linguistisch orientierten Strukturalismus ausrichtet.

Zu dieser methodengeschichtlichen Expansion kommt seit Mitte der 1960er Jahre eine institutionelle, die sich an der Zunahme der Studierendenzahlen und der Vermehrung des wissenschaftlichen Personals ablesen lässt; vergleichbare Entwicklungen seien auch für die DDR in den 1960er Jahren zu beobachten. Die Rhetorik des Neuen und die Behauptung von Originalität lasse sich im Anschluss an den Einschnitt der 1960er Jahre in den immer zahlreicher und kurzlebiger werdenden „turns“ wiederfinden: Diese permanenten Erneuerungen seien aber immer nur vor dem Hintergrund der „Bewahrung [des] philologischen Erbes“ der Disziplin möglich, die dem Neuen ein „Experimentierfeld“ biete.

Jörn Rüsens Essay14 nimmt die Entstehung des Begriffs ‚Geisteswissenschaften‘ im 19. Jahrhundert und die Krise der so bezeichneten Disziplinen schon am Ende desselben zum Ausgangspunkt, um nach den Qualitäten und Kompetenzen der Geisteswissenschaften zu fragen, die die unter diesem Begriff versammelten Fächer auch in Zukunft gesellschaftlich notwendig machen werden. Dazu nennt er fünf Qualitäten der „kulturellen Fähigkeit der Sinnkompetenz“, wie er Bildung definiert, und hebt drei Leistungen hervor, die diese Fähigkeit der Sinnkompetenz zu vollbringen habe: Verstehen, Kritik und Utopie. Bedroht seien die Geisteswissenschaften von einem „Geistverlust“, dem Rüsen Vorschläge entgegenhält, wie man „die Geisteswissenschaften […] durch kritische Revision ihrer mit dem Geistbegriff bezeichneten Grundlagen zukunftsfähig […] machen“ könne. Dazu müssten die Geisteswissenschaften „sich ihrer anthropologischen Grundlagen neu versichern und die menschheitliche Dimension der hermeneutischen Erfahrung im Blick auf die Fülle kultureller Unterschiede neu zur Geltung bringen“. Sie sollten sich außerdem auf eine „Menschheitsdimension“ beziehen, für die die Geisteswissenschaften sich anthropologisch und historisch einen neuen Universalismus erarbeiten und ihren traditionellen eurozentrischen Charakter überwinden müssten. Sie könnten so zur „Avantgarde eines neuen menschheitlichen interkulturell verfassten Humanismus“ werden. Ihre Aufgabe sei es dabei aber immer auch, „Leiden und Sinnlosigkeit in die kognitiv verfassten Prozeduren geisteswissenschaftlicher Sinnbildung zu integrieren“.

In seinem mehr als vierzigseitigen Schlussbeitrag, der die zentralen Themen des Bandes noch einmal bündelt und auf ein Zukunftsprogramm für die Philologien hin perspektiviert, hat der 2015 verstorbene Wulf Oesterreicher so etwas wie ein wissenschaftliches Testament hinterlassen.15 Er skizziert darin zunächst die Disziplingenese der Sprachwissenschaft vom Anthropologicum der allgemeinen Sprachreflexion und Sprachbetrachtung, die auch auf vorwissenschaftlicher Ebene schon sehr anspruchsvoll werden können, bis zur Ausdifferenzierung einer eigenen, auf Sprache um ihrer selbst willen gerichteten und nicht mehr fremdbestimmten wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache. Die disziplinäre Matrix dafür wurde, wie für fast alle im vorliegenden Band untersuchten Wissenschaften, um 1800 entwickelt. Erst um 1800 sei ein Begriff von Sprache entwickelt worden, der der Geschichtlichkeit des Objekts Sprache gerecht werden konnte. Und erst mit der Entdeckung des Sanskrit und der Entwicklung des historischen Sprachvergleichs und der Morphologie seien die Arbeiten von Bopp, Rask und dann Jacob Grimm und damit ein historisches Verständnis der Sprachentwicklung möglich geworden. Das historisch-vergleichende Paradigma habe es der Sprachwissenschaft erlaubt, sich als Disziplin zu konstituieren.

Nach dieser Rekapitulation der Bedeutung des historischen Bewusstseins für die Entstehung der modernen Sprachwissenschaft kommt Oesterreicher zum Hauptteil seines Essays, der ein „[f]orschungspragmatisches Plädoyer für die neuphilologischen Fachstrukturen“ bietet. Zum Dialog zwischen Literaturwissenschaft und Sprachwissenschaft, den er prinzipiell noch für möglich hält, schlägt er die Bearbeitung von Querschnittsthemen vor, die eine reflexive Interdisziplinarität erfordern würden. Als mögliche gemeinsame Arbeitsfelder nennt er Sprachtheorie, Forschung zu Mündlichkeit-Schriftlichkeit, Diskussion der Thesen der New Philology, Text-Kontext-Relationen im Rahmen einer sozialen Semiotik, Kanonbildung und Zensur und Wissen in Texten und Semantiken historischer Sinnwelten.

In einem nächsten Schritt skizziert Oesterreicher „genuin linguistische Forschungsthemen und ihre Bezüge zur Textwissenschaft“. Darunter nennt er Textlinguistik, sprachlichen Ausbau, Diglossie und Plurizentrik, Sprachgeschichte, älteste romanische Sprachdenkmäler, Sprachwandeltheorien und Grammatikalisierungsforschung, Innovation und sprachliche Kreativität, Sprachstilistik, Varietätenlinguistik, literarische Texte als Korpora, Korpuslinguistik und Textinterpretationen. Oesterreicher schließt mit einem starken Plädoyer für die Philologien und die Möglichkeiten philologischen Arbeitens. Aus forschungspragmatischen Gründen spreche daher viel für die philologischen Fachstrukturen mit ihrer Verbindung von Linguistik und Literaturwissenschaft. Die Philologien als Fächer sollten bei wichtigen Querschnittsthemen interdisziplinäre Gespräche anregen, anleiten und kritisch begleiten. Dieser engagierte und aspektreiche Grundsatztext, der nebenbei ein philologisches Forschungsprogramm für mehrere Jahrzehnte skizziert, stellt einen passenden Schluss für diesen informativen und vielseitig anregenden Band dar, der auch die Notwendigkeit und Nützlichkeit fachgeschichtlicher Selbstreflexion demonstriert. Für eine Fortsetzung des hier begonnenen Gesprächs wären eventuell Beiträge aus der Klassischen Philologie und der Anglistik und Amerikanistik wünschenswert, da hier das Verständnis von Philologie jeweils eigene Entwicklungen genommen hat und unter dem Aspekt der „invertierten Teleologie“ interessante Resultate zu erwarten wären.


  1. Jörn Rüsen, „Vom Geist der Geisteswissenschaften“, 275–86.

  2. Wulf Oesterreicher, „Sprachwissenschaft und Philologie im Horizont der Geschichtlichkeit von Sprache und Text“, 287–330.

  3. Jürgen Trabant, „Wie ‚geschichtlich‘ ist Vicos mondo civile?“, 31–47.

  4. Markus Messling, „‚Energeia‘: vom Sprechen der Völker. Michel Foucault und das Problem der Historizität in der Philologie“, 67–82.

  5. Jörg Schönert, „Lessing als Philologe: seine Projekte und Publikationen zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur “, 83–98.

  6. Dieter Simon, „Die rechtshistorische Wende“, 99–114.

  7. Sabine Mangold, „Etablierung der orientalischen Philologie an den deutschen Universitäten“, 115–30.

  8. Alexander M. Kalkhoff und Johanna Wolf, „Kontingenz: Zufall und Kalkül. Zur Fachgeschichte der romanischen Philologie (1820–1890)“, 131–52.

  9. Ursula Bähler, „Von Paulin Paris (1800–1881) zu Gaston Paris (1839-1903): zur Geschichte der Romanischen Philologie in Frankreich“, 153–84.

  10. François Rastier, „La formation de la sémiotique saussurienne et l’historicité spécifique des sciences de la culture“, 213–30.

  11. Vgl. auch das Themenheft von Langages 185, 2012, über „L’apport des manuscrits de Ferdinand de Saussure“.

  12. Sarah Dessì Schmid und Jochen Hafner, „‚Geschichte des Geistes‘, Geschichte Neapels: Benedetto Croce und die Historiographie“, 231–54.

  13. Wilhelm Voßkamp, „Das Neue als Verheißung“, 255–74.

  14. Jörn Rüsen, „Vom Geist der Geisteswissenschaften“, 275–86.

  15. Wulf Oesterreicher, „Sprachwissenschaft und Philologie im Horizont der Geschichtlichkeit von Sprache und Text“, 287–330.





Copyright (c) 2016 Olaf Müller

Creative-Commons-Lizenz
Dieses Werk steht unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 4.0 International.