Michael Bernsen, Geschichten und Geschichte: Alessandro Manzonis ‚I promessi sposi‘

Friedrich Wolfzettel

Michael Bernsen, Geschichten und Geschichte: Alessandro Manzonis ‚I promessi sposi‘, Literatur. Forschung und Wissenschaft 32 (Berlin: LIT Verlag, 2015), 261 S.

Ein bescheidenes Buch, aber ein großer Wurf, der in didaktisch-methodischer und in inhaltlicher Hinsicht neue Wege einschlägt und ein neues Paradigma in der Manzoni-Forschung erprobt. Der beziehungsreiche Titel weist den spätaufklärerisch sozialisierten Romantiker Manzoni als einen Autor aus, der auf dem Höhepunkt von Historiographie und unter dem Eindruck des europäischen historischen Romans über Geschichte und historische Gattungstraditionen verfügt und die soziale Zeitenwende intertextuell als literarische Zeitenwende verortet. Die dezidierte Absage des Autors an das Modell des historischen Romans à la Walter Scott impliziert nach Bernsen zugleich das kunstvolle Spiel mit einer nur scheinbar obsoleten Tradition, die für die Moderne reinstrumentalisiert wird. Die ironische Verfügung über die Erzählgattungen dient eben dazu, die „Geschichte von der Moderne“ (1) als Reflexion über die Tradition zu dokumentieren, ähnlich wie in inhaltlicher Hinsicht der „Sieg der einfachen Leute, der ‚umili‘, über die heimischen Feudalherren“ „die Geschichte von der Moderne als einer politischen Revolution“ erzählt. (1) Ein meisterlicher didaktischer Schachzug des Vfs. besteht darin, dieses Verfügen über die Gattungen jeweils durch einen zweisprachigen Textauszug am Anfang der Kapitel zu veranschaulichen. Die Pluralität der Gattungstraditionen, „die Lust an der Kontingenz, an der Zerstörung der geordneten Erzählweise des historischen Romans“ (4), verweist danach auf die Krise der „Monokausalität“ (4) der historischen Episteme, des „historiographischen Ordnungsdenkens“ (5), und bezeichnet die Modernität eines Autors, der aus den herkömmlichen patriotischen und heilsgeschichtlich konfessionellen Kategorien herausgelöst wird und dessen Verdienst so gerade nicht – wie oft in der älteren Forschung – in der Bündelung der historiographischen Konzeption der Romantik, sondern in deren „spielerischer Hinterfragung“ besteht.

Zentral ist die These, wonach die Form des Romans aus einer Vielzahl novellistischer Formen (9) besteht. Die quasi allegorische Funktion der Mailänder Pest verweise nämlich auf Boccaccio zurück und könne in metapoetischer Perspektive auch als Ausdruck der Krise der zeitgenössischen Episteme verstanden werden (4–5). I promessi sposi sind nach dieser dekonstruktivistischen Lesart das Gegenteil einer patriotisch lokalisierbaren Modellgattung des italienischen romanzo storico (das Umfeld des romanzo storico wird gleichwohl von Bernsen vielleicht etwas zu sehr vernachlässigt); der Roman ist ein aufgeklärtes „Spiel mit Erzählformen“ (9) einschließlich der Formen der Geschichtsschreibung (mit der sich der Autor bekanntlich nicht nur durch seine Bekanntschaft mit Augustin Thierry in Paris intensiv beschäftigt hatte). Manzonis Widerstand gegen den traditionellen, handlungsintensiven historischen Roman und das Ideal einer scheinbar lückenlos erklärten Geschichte wird von Bernsen als zutiefst aufklärerischer Widerstand gegen vorgegebene Erklärungsmuster und als Versuch gedeutet, „einem Teil der Geschichte des menschlichen Geistes nachzugehen“ (195).

Bernsens eindrucksvoller ‚Befreiungsschlag‘ unter dem Stichwort Pluralität, der sich „an Studenten sowie Lehrende in Hochschule und Schule nicht nur italianistischer Provenienz“ (1) wendet, streift im Übrigen nicht zufällig die seinerzeit nur wenig beachtete Frankfurter Dissertation von Piero Alberti, I porcellini d’India e il pastorello1, in der das klerikal-providentialistische Paradigma der Forschung mit Blick auf ein Gleichnis mit den Meerschweinchen in Kap. XI ad absurdum geführt und die These eines Romans ohne Helden vertreten wird.

Methodisch könnte man von einem gattungszentrierten ‚close reading‘ sprechen, das dem Vf. Gelegenheit gibt, ein breites gattungsgeschichtliches Feld seit dem Mittelalter mit Blick auf die jeweilige Refunktionalisierung durch den Autor abzustecken. Der These entsprechend ist die Argumentation mithin im Einzelnen betont intertextuell. Die Summe der Einzelinterpretationen entwirft das Gesamtbild einer experimentellen Erzählweise, die zugleich wesentliche Etappen der Manzoni-Forschung in einem neuen Licht erscheinen lässt. An den Fortgang der Romanhandlung gebunden, schreitet der Vf. gleichsam sukzessiv die als Beispiel ausgewählten Episoden ab, um den Befund der eingangs postulierten Modernitätsthese zu differenzieren. So endet das eingangs evozierte Landschaftstableau, das auf den ersten Blick in der Tradition pittoresker und sublimer Landschaftsdarstellung zu stehen scheint, letztlich in einer deskriptiven „Orientierungslosigkeit“ (21), die nach dem Vf. die problematische „Selbstaffirmation“ (22) des Betrachters in den Blick rücken soll. Mit Verweis auf die zeitgenössische Moralistik um Stendhal diagnostiziert Bernsen das Gegenteil einer ästhetisch geordneten Landschaft, nämlich den „Verlust eines die Landschaft ordnenden Sehens“ (24) und die Desorientierung des historischen Betrachters. Von Anfang an geht es mithin paradigmatisch um das Thema des Kontrollverlusts, der dem scheinbaren erkenntnistheoretischen Optimismus des zeitgenössischen historiographischen Denkens entgegengesetzt ist. Die eingangs geschilderte Landschaft hat im Übrigen nach dem Vf. ihre Entsprechung in Renzos Weinberg mit seinem wucherndem Wachstum und seinen Wetterschäden am Ende des Romans (Kap. 33). Bernsen interpretiert den Weinberg als „komplexe Form der Allegorie“ im modernen Sinn und als Ausdruck der Verweigerung gegenüber dem „Ordnungswillen des Betrachters“. (207) Die Dekonstruktion bleibt das beherrschende Schema aller Kapitel. Gleich nach der Einleitung bringt die Episode von Renzos Besuch beim Rechtsanwalt Azzecca-Garbugli die Tradition des Kasus und damit das Problem der Geschichte als einer „Aneinanderreihung sich ständig anders präsentierender Wechselfälle“ (37) ins Spiel; sie zeigt, „dass man eine Geschichte nicht so einfach erzählen kann“ (39). Das Gegenteil des Kasus, das erbauliche Exemplum des Fra Galdino in Kap. 3, stellt nach Vf. nicht nur die providentiell-katholische Lesart in Frage (43), sondern problematisiert auch die exemplarische Lesart der Geschichte insgesamt. In Bezug auf die Helferfigur des Padre Cristoforo geraten nämlich Heiligenlegende und literarisches Porträt in ein merkwürdiges, weil widersprüchliches „Spannungsverhältnis“ (73). Oder betrachten wir das Verhältnis von Fabliau und Schauerroman bei der Entführung Lucias, wo der Vf. mit dem Autor ein Durcheinander (imbroglio) des Geschehens und die Unmöglichkeit einer geradlinig-monokausalen Darstellung betont (95). Das Muster des pikaresken Romans, der keine positive Geschichtstheorie kennt, kommt da als Stichwort gerade recht. Am Beispiel der Brotunruhen in Mailand zeigt der Vf., dass die seit Goethe immer wieder vertretene These eines angeblichen Bruchs zwischen Geschichte und Fiktion, der Rolle des Historikers und der Rolle des fiktionalen Autors, nicht greift: „Romanhandlung und Historiographie werden unter die gleichen erzählerischen Vorbehalte gestellt“ (131). Es geht, so die These der „Modernität“ (131) des Romans, um die „groteskisierende Erzählung einer Realität, die niemand zu kontrollieren weiß“ (108). Die Aktanten der Geschichte werden wie die Meerschweinchen in der genannten Dissertation von Piero Alberti (112) von Antihelden präsentiert.

Historiker und Erzähler bleiben sich von Anfang an nahe. So auch im Fall der berühmten und eigentlich überflüssigen Geschichte der Monaca di Monza, die – über die Tradition der histoire tragique und des aufklärerischen Klosterromans hinweg – die psychologische Fallstudie einer Vater-Tochter-Beziehung, der „Unterwerfung unter ein mächtiges ‚Über-Ich‘“ (141), darstellt. Wieder übernimmt der Roman Manzonis die Funktion der Kommentierung und Ergänzung der Tradition:

Die Geschichte schließt damit eine Lücke, die der aufgeklärte Klosterroman und die Klostergeschichten hinterlassen hatten: die der psychischen Introspektion und der Analyse eines unvermeidbaren Zusammenwirkens unterschiedlicher psychischer Mechanismen. (141)

Geschichte als Zusammenspiel unterschiedlicher, auch sozial verortbarer Erklärungshypothesen. Um die Neuverortung des Brigantenschemas, den Mirakelglauben der „kleinen Leute“ (156) und die Psychologisierung des Bekehrungsmotivs geht es in der Geschichte des Innominato, für den Lucia zur „Erlöserfigur“ (153) wird. Letztlich ist die Bekehrungsgeschichte nach dem Vf. „eine Gegengeschichte zu der der Monaca di Monza“ (157).

Tatsächlich erweist sich das methodische Vorgehen Bernsens immer da besonders überzeugend, wo es um scheinbar erbauliche Tendenzen geht. So etwa auch im Falle des Porträts des Kardinals Federigo Borromeo, des „exemplarischen Vertreter(s) des Guten, Wahren und Schönen“ (175), der in Wahrheit aus aufgeklärter Sicht als nicht ganz unschuldiges Opfer der Borniertheit seiner Zeit erscheint. Das Kapitel über Manzonis „historische Mythenforschung“ in Bezug auf die Mailänder Pest und seine, in Kap. 31 geäußerte These einer „massa enorme e confusa di pubblica follia“ schließt inhaltlich hier an. Das Stichwort „follia“ führt zum Kapitel über Legende, Märchen und Antimärchen, wo der Vf. Zeichen „einer humoristischen Betrachtung der Dinge des menschlichen Alltags“ (228) sieht. So etwa in der z. T. grotesken Dekonstruktion der Heiligenlegende Lucias und in dem – dem sog. griechischen Roman entlehnten – scheinbar märchenhaften Schluss, der sich in Wahrheit als „Antimärchen“ entpuppt.

Zusammenfassend:

Die reklamierte Originalität des Romans besteht in einer konsequenten Reflexion der erzählerischen Strukturen und Verfahren mit dem Ziel, deren Funktionen zu entlarven und dem Leser damit aufzuzeigen, auf welche Weise und mit welchem Ziel er für die Geschichte eingenommen werden soll. (230)

Die Originalität des Vf. besteht in der Art und Weise, wie sukzessiv ein breiter, gattungsgeschichtlicher Hintergrund seit dem Mittelalter in den Dienst ironischer Dekonstruktion historischer Mythen bzw. kritischer historiographischer Reflexion gestellt wird. Eine umfangreiche, weiterführende Bibliographie rundet diese ungewöhnlich gelungene Arbeit ab (in der nur wenige Lapsus zu vermerken sind: S. 20 muss es wohl Torquato Tasso statt Bernardo Tasso heißen; S. 106 ist das Datum 1638 statt 1628, und S. 108 steht Tauschein für Taufschein). Schade, dass Bernsen am Ende nur sehr knapp auf Manzonis Auseinandersetzung mit der Geschichtsschreibung und gar nicht auf dessen spätere Radikalisierung in Bezug auf die Möglichkeit eines ‚historischen Romans‘ eingeht. Die vorgeführte Interaktion von Fiktion und Geschichte weist den Autor auf jeden Fall als Vorläufer moderner, mythographischer Ansätze aus, als einen Autor von Fiktion, für den hinter jeder einzelnen ‚Geschichte‘ immer zugleich die Frage nach der Geschichte steht, eben dem titelgebenden Verhältnis von Geschichten und Geschichte. Für die kurzweilige und dennoch eingehende Darstellung dieses komplementären Verhältnisses verdient Bernsen unsere Bewunderung.


  1. Piero Alberti, I porcellini d’India e il pastorello. Personaggi dei ‚Promessi sposi‘ di Manzoni: fine di un messaggio cattolico (Roma, Armando: 2001).





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